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Titel2518

Notwendiger Nachtrag, keineswegs nachtragend  (Frank Schumann)

Die beiden Damen, weit jenseits der 70, stehen vor dem in erdfarbenen Tönen gehaltenen Bild. Die auffällig großen Hände und das nahezu runde Gesicht drängen aus der dunklen Fläche. »Das ist doch hübsch«, sagt die eine Bildungsbürgerin halblaut zur anderen, »von entarteter Kunst kann ich nichts erkennen«. Ich erkenne hingegen, dass die beiden offenkundig nicht zu wissen scheinen, warum damals Kunstwerke unter dieses Verdikt der Nazis gerieten. Primär galt die Diffamierung der jüdischen Herkunft des Schöpfers oder der Schöpferin. Das hier Unverständnis auslösende Gemälde wurde gewiss deshalb indiziert, weil die »Alte Armenhäuslerin« nicht dem Schönheitsideal der Nazis entsprach. Paula Modersohn-Becker war bereits 1907 verstorben und konnte allein schon deshalb nicht Opfer künstlerischer Bevormundung durch die Nazis werden. Dieses Bild war 1933 als »entartet« aus der ständigen Ausstellung des Stadtmuseums Dresdens entfernt und drei Jahre später nach Basel/Schweiz verkauft worden, seit 1958 befindet es sich im Besitz des Hessischen Landesmuseums Darmstadt. Und seit Oktober 2018 hängt es leihweise im Obergeschoss in der Liebermann-Villa am Berliner Wannsee neben dreißig anderen Kunstwerken und kann dort noch bis Mitte Januar in einer bemerkenswerten Ausstellung besichtigt werden. »Mit Kandinsky, Liebermann und Nolde gegen Hitler« ist die Exposition überschrieben, deren Besuch aus verschiedenen Gründen lohnt.

 

Die Nazis präsentierten im Sommer 1937 parallel zu ihrer Münchner »Großen Deutschen Kunstausstellung« eine Kollektion »Entartete Kunst«. Dort waren 650 Werke zu sehen, die die faschistischen Kunstbanausen in fast drei Dutzend Museen konfisziert hatten – ein Bruchteil nur der Kunstwerke, die sie bis dahin beschlagnahmt, ins Ausland verkauft oder gar zerstört hatten. Diese verunglimpfende, Werke wie Künstler verhöhnende Schau ging nach dem Anschluss Österreichs erst nach Wien, dann nach Salzburg, und schließlich zog sie als Wanderausstellung bis April 1941 durch mehrere deutsche Städte. Vorzugsweise Schulklassen mussten sich die Präsentation »jüdisch-bolschewistischer« Kunst anschauen, um bei den Heranwachsenden das Verständnis zu wecken, dass »rassisch Minderwertige« verfolgt und vernichtet werden müssen. Wer so etwas malt, ist krank, lautete die primitive, aber wirksame Botschaft.

 

München lieferte den Anlass für eine Ausstellung in London, die Künstler, Sammler, Kunsthistoriker und -händler, darunter von den Nazis aus Deutschland vertriebene, im Sommer 1938 zusammenstellten. Das sollte durchaus als deutlicher Protest gegen die Kulturbarbarei in Hitlerdeutschland, als ein offensives Statement verstanden werden, als ein Plädoyer für die deutsche Moderne und die künstlerische Freiheit. Aber – und damit wurde keineswegs der politische Anlass, den man übrigens in London bestritt, gemindert – es war auch eine Verkaufsausstellung. Nicht wenige deutsche Künstler fristeten im Exil ein erbärmliches Dasein. Sie betrachteten darum die Londoner Ausstellung »Twentieth Century German Art« – die ursprünglich »Banned Art« heißen sollte, was eindeutiger und politischer gewesen wäre – als Chance, auf dem internationalen Kunstmarkt bekannt zu werden und Objekte zu veräußern. Diese Hoffnung erfüllte sich nur in wenigen Fällen, viele Kunstwerke gingen wieder zurück an die Eigentümer. Auch die »Alte Armenhäuslerin« von Paula Modersohn-Becker. Wirtschaftlich war die Exposition ein Reinfall.

 

Da sie ziemlich rasch organisiert wurde, überdies mehr Kunstwerke eingingen als gezeigt werden konnten, gab es zwar einen Katalog, aber keine präzise Übersicht, weshalb später Objekte mit einem rückwärtigen Siegel entdeckt wurden, das die Anwesenheit auswies, obwohl es doch nicht in den Listen stand. Man weiß nur: Es waren in London mehr als 300 Meisterwerke der deutschen Moderne und ihrer Wegbereiter zu sehen, ehe sie wieder in alle Welt verstreut wurden. Oft auf Nimmerwiedersehen.

 

Auch der Nazi-Gegner Max Liebermann (»Ick kann jar nich soville fressen, wie ick kotzen möchte«) war unter den 64 ausgestellten Künstlern, 22 Werke von ihm hingen in London. Eine Mitarbeiterin der Liebermann-Villa machte sich vor Jahren daran, Liebermanns Beitrag aufzuarbeiten, was zu der aktuellen Ausstellung am Wannsee führte. Lucy Wasensteiner hat etwa den zehnten Teil der damals an der Themse gezeigten Kunstwerke mit Unterstützung von Leihgebern und Institutionen, Mäzenen und Kollegen aufgespürt und zusammengeführt, um an die Exposition vor achtzig Jahren in London zu erinnern. Eine kleine Ausstellung, gewiss, aber die wenigen Gemälde, Grafiken, Skulpturen und Collagen vermitteln dennoch einen Eindruck von der Vielfalt und dem Niveau der Kunst vor 1933 in Deutschland.

 

Wobei der lange Begleittext mitunter interessanter und spannender ist als das darüber oder daneben hängende Werk. Auf den Tafeln ist nämlich dessen Geschichte dokumentiert, durch wie viele Hände es ging, wer es alles besaß, kurz: Man erfährt viel vom Schicksal seiner Besitzer und dem der Kunstwerke. Und wenn man dazu noch den soliden, in zwei Sprachen gedruckten Katalog von Gastkuratorin Lucy Wasensteiner und Museumsdirektor Martin Faass mit diversen Experten-Essays studiert, erfährt man noch mehr – was Menschen, die auf dialektisches und Um-die-Ecke-Denken trainiert sind, schließen lässt, dass ein wenig Übertreibung auch mit im Spiel ist.

 

Der Titel der Ausstellung (»... gegen Hitler«) insinuiert nämlich, dass es sich um eine vorsätzliche Aktion gegen den deutschen Nazifaschismus gehandelt habe. Das war sie insoweit, als sie eine Reaktion auf die »Entartete Kunst« darstellte. Aber sie war eben nicht nur eine antifaschistische Willensbekundung, sondern auch eine kommerzielle Veranstaltung. Gleichwohl: Wo Politiker alle Naziverbrechen auf einen banalen »Vogelschiss« reduzieren und Holocaust-Mahnmale als »Denkmale der Schande« bezeichnen, kann man eine erkennbar zweckdienlich übertriebene Darstellung nicht nur verteidigen – man muss es sogar.

 

Weniger Nachsicht hingegen sollte man bei der Vereinnahmung Emil Noldes als Hitler-Gegner walten lassen. Dieses Narrativ speist sich aus dem Umstand, dass Nolde mit mehreren Gemälden in der Propaganda-Ausstellung der Nazis »Entartete Kunst« gezeigt wurde. Obgleich er doch Parteigänger der Nazis und überzeugter Antisemit war, anfänglich von Josef Goebbels, Albert Speer und Baldur von Schirach protegiert wurde und im November 1933 gar Ehrengast Heinrich Himmlers bei einem Festessen zum 10. Jahrestag des Hitler-Ludendorff-Putsches in München war. Aber Hitler mochte ihn nicht. Deshalb hängte schließlich auch Goebbels irgendwann in seiner Privatwohnung die Noldes ab.

 

Es sind widerliche Ergebenheitsadressen Noldes an die Nazi-Größen überliefert, die keineswegs einmalige Entgleisungen darstellten. 1938 bat er Goebbels um die Rückgabe der beschlagnahmten Werke und die Beendigung seiner Herabwürdigung. »Den Nationalsozialismus verehre ich als die besondere und jüngste Staatsform, die Arbeit ist zur Ehre erhoben. Und ich habe den Glauben, dass unser großer deutscher Führer Adolf Hitler nur für das Recht und Wohl des deutschen Volkes lebt und wirkt«, schleimte er. »Trotz allem, was in jüngster Zeit gegen mich unternommen worden ist, bin ich stets und immer im In- und Ausland für die große deutsche nationalsozialistische Sache mit vollster Überzeugung eingetreten.« (zitiert nach Aya Soika: »Ein Künstler reagiert. Emil Nolde und die Ausstellung Twentieth Century German Art«, im Ausstellungskatalog)

 

Dazu zählte Nolde ganz offensichtlich auch seine Attacken auf die Londoner Ausstellung, in die er seinen Freund Hans Fehr, einst sein Zeichenschüler und nun Schweizer Rechtsprofessor, mit einbezog. Fehr wandte sich im Mai 1938 an das Auswärtige Amt in Berlin und teilte dem Staatssekretär Ernst von Weiz­säcker mit: »Nolde und ich sind der Meinung, dass diese Ausstellung (unter jüdischer Führung) zu einer Demonstrationsausstellung ausgebaut wird. Davon will Nolde nichts wissen und sich nicht beteiligen. Sollten sich trotzdem, etwa aus Privatbesitz, Bilder meines Freundes dort finden, so geschieht dies gegen seinen Willen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie dies an kompetenter Stelle mitteilen oder mir sagen würden, wohin ich evtl. eine solche Mitteilung richten soll. Denn ich möchte, dass man im Reiche weiß, wie solidarisch sich Nolde mit dem deutschen Staat fühlt.« (ebenda)

 

Emil Nolde geriet ohne eigenes Zutun und »gegen seinen Willen« mit mindestens zwei Gemälden, sieben Aquarellen und zwei Grafiken in die Londoner Ausstellung. Diese hingen neben Arbeiten Max Liebermanns, den er als Juden diffamierte, und Max Pechstein, welchen Nolde im Mai 1933 wegen seines Namens im Propagandaministerium als vermeintlichen »Juden« angeschwärzt hatte. Obwohl von Pechstein darauf aufmerksam gemacht, dass diese Behauptung nicht zutreffe, ihm und seiner Familie aber sehr gefährlich werden könne, verweigerte Nolde eine Richtigstellung gegenüber dem Goebbels-Apparat.

 

Tatsache ist, dass die Nazis 1052 Nolde-Werke – so viele wie von keinem anderen deutschen Künstler – aus deutschen Museen entfernten und 48 davon in der Ausstellung »Entartete Kunst« öffentlich verhöhnten und schmähten. Ebenso wahr ist aber auch, dass Nolde am 6. Dezember 1938 eine Erklärung abgab, die sowohl an den Reichspressechef als auch ins Reichspropagandaministerium ging. »Es wird gesagt, dass meine Kunst von Juden gefördert und gekauft worden ist. Auch das ist falsch. Einzelne versprengte Bilder sind in den späteren Jahren durch den Kunsthandel zu Juden gekommen, im Allgemeinen jedoch bekämpfen sie mich. Die Reinheit und das ursprüngliche Deutsche in meiner Kunst haben sie bespöttelt und nie gewollt. Meine wesentlichen Bilder sind alle in deutschem Besitz, von Deutschen gekauft, die durchaus nicht fremdländisch angekränkelt, sondern bewusst Deutsche sind.« (ebenda)

 

Noldes Reformande war erfolgreich. »Der Maler Emil Nolde ist kein Jude«, hieß es zwei Tage später in der Presseanweisung des Propagandaministeriums, er sei »sogar Pg.«. Und Wochen später bekam Emil Nolde Nachricht, dass sein Name mit der Ausstellung »Entartete Kunst« nicht mehr in Verbindung gebracht werden dürfe, seine Bilder wurden daraus entfernt.

 

Diese Ergänzung scheint angebracht, ohne die Ausstellung in der Liebermann-Villa zu desavouieren. Diese entstand übrigens in Kooperation mit der Wiener Library in London, »einem der weltweit bedeutendsten Archive zum Holocaust und der Zeit des Nationalsozialismus«, schreibt der Veranstalter.

 

Da liegt es nahe, auf der Uferstraße weiterzulaufen. Nach etwa dreihundert Metern erreicht man das Haus der Wannseekonferenz, wo sich gleichsam Fortsetzung und Folgen der Etikettierung »Entartete Kunst« studieren lassen.