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Mythos Landesverteidigung  (Jürgen Rose)

Der Kalte Krieg gebar viele Mythen. Einer der hartnäckigsten besagte, die westdeutsche »neue Wehrmacht«, die später »Bundeswehr« getauft wurde, sei ausschließlich zum Zwecke der Landesverteidigung aufgestellt worden. Diese These erweist sich indes weder aus historischer Perspektive noch, wie an späterer Stelle zu zeigen sein wird, in verfassungsrechtlicher Hinsicht als haltbar.

Die sogenannte Wiederbewaffnung Westdeutschlands nahm in der Abgeschiedenheit des Eifelklosters Himmerod ihren Lauf. Dort waren im Herbst 1950 auf Geheiß Konrad Adenauers und mit Billigung des amerikanischen »Hohen Kommissars« John Jay McCloy fünfzehn ehemalige Wehrmachtsoffiziere, darunter zehn Generäle und Admirale, zusammengekommen, um den militärischen Grundkonsens für eine deutsche Wiederbewaffnung im Kalten Krieg zu definieren. Als Resultat legten sie am 9. Oktober 1950 unter dem Rubrum »Denkschrift des militärischen Expertenausschusses über die Aufstellung eines Deutschen Kontingents im Rahmen einer übernationalen Streitmacht zur Verteidigung Westeuropas« die Gründungsakte der Bundeswehr vor. Bereits der Titel dieses Dokuments verweist auf den Umstand, daß die Gründung der Bundeswehr nur im europäischen Kontext denkbar war.

Zu Beginn der Klostertagung hatte Herbert Blankenhorn, außenpolitischer Berater des Bundeskanzlers Konrad Adenauer und ab 1951 Leiter der Politischen Abteilung des Auswärtigen Amtes, den allgemeinpolitischen Rahmen für die Arbeit des Gremiums abgesteckt. Er legte dar, daß die übergeordnete Zielsetzung der deutschen Politik darin bestand, die Bundesrepublik in Westeuropa zu integrieren und im Zuge der Wiederaufrüstung ihre Souveränität zu erlangen. Die Abgabe von Teilen der Souveränität an Organe einer europäischen Föderation war im Grundgesetz (Artikel 24) vorgesehen. Unklar war allerdings noch, ob es eine integrierte Armee im Rahmen einer (west-) europäischen Föderation geben würde. Die Bundesregierung neigte einer europäischen Armee zu, weil sie die beste Voraussetzung für den europäischen Einigungsprozeß böte. Schon dieses Leitziel der Regierung, so Blankenhorn, würde die Aufstellung einer nationalen Armee verbieten.

Das Himmeroder Dokument spiegelt diese Vorgaben Adenauers wider: Es strotzt geradezu von europäischen Bezügen. So wurde unter dem Topos »Militärpolitische Grundlagen und Voraussetzungen« der »westdeutschen Bundesregierung« unter anderem folgender »politischer Vorschlag« unterbreitet: »Verpflichtung des deutschen Soldaten auf das deutsche Volk ... unter Betonung des gesamteuropäischen Gedankens, solange die westeuropäische Föderation noch keine überstaatliche Form gefunden hat.« Außerdem postulierten der »Expertenausschuß«, das »deutsche Kontingent« dürfe »nur innerhalb Europas« eingesetzt werden.

Im Abschnitt »Das innere Gefüge« formulierte die Klosterrunde als politische Zielsetzung des zukünftigen deutschen Soldaten: »Der Soldat des Deutschen Kontingents verteidigt zugleich Freiheit im Sinne der Selbstbestimmung und soziale Gerechtigkeit. Diese Werte sind für ihn unabdingbar. Die Verpflichtung Europa gegenüber, in dem diese Ideen entstanden sind und fortwirken sollen, überdeckt alle traditionellen nationalen Bindungen.« Zudem bestanden die Militärexperten auf einem »Vorrang europäischen Zusammengehörigkeitsgefühls«. Unter dem Topos »Erzieherisches« forderte der Expertenausschuß: »Durch Schaffung eines europäischen Geschichtsbildes und Einführung in die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen der Zeit kann von der Truppe aus über den Rahmen des Wehrdienstes hinaus ein entscheidender Beitrag für die Entwicklung zum überzeugten Staatsbürger und europäischen Soldaten geleistet werden.« In ihrer Schlußbemerkung definierten die militärischen Experten dann noch, »... daß die Beteiligung an der Verteidigung Europas die einzige Aufgabe des Deutschen Kontingentes sein muß«.

Militärpolitisch wurde die Bundeswehr demzufolge als »Zweckverband« für die gemeinsame europäische Gesamtverteidigung konzipiert. Die politischen Beratungs- und Entscheidungsgremien der noch zu schaffenden europäischen Armee sowie die höheren militärischen Stäbe sollten supranational organisiert werden, während die Truppe selbst national homogen geplant war. Freilich ließ sich aufgrund der historischen Rahmenbedingungen der frühen 1950er Jahre die europäisch-föderative Konzeption der deutschen Sicherheitspolitik nicht wie von Adenauer und seinem militärischen Expertenstab angestrebt realisieren. Ersatzweise wurde infolgedessen eine europäisch-atlantische Verteidigung nach den Vorgaben der US-amerikanischen Hegemonialmacht innerhalb der Strukturen der Nordatlantischen Allianz organisiert, aber auch dort stets im supranationalen Rahmen, also nicht im Sinne einer Verteidigung von Staaten mit ungeschmälerten Souveränitätsrechten. Tatsächlich bildete die Bundeswehr daher von Anfang an keine auf die Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland begrenzte nationale Armee, sondern eine international integrierte Streitmacht zur Bündnisverteidigung in den Weiten des »nordatlantischen Gebietes nördlich des Wendekreises des Krebses«, wie im Artikel 6 des NATO-Vertrages geregelt.

Die Legende von der Landesverteidigung als Raison d´être der Bundeswehr war zum einen den politischen Legitimationszwängen der anfänglich extrem unpopulären Wiederbewaffnung geschuldet und fand andererseits ihre Begründung in der damaligen sicherheitspolitischen Bedrohungslage: der Konfrontation zweier waffenstarrender Militärblöcke, die sich an »Eisernen Vorhang«, der Europa teilte, feindselig gegenüberstanden. Nichtsdestoweniger verlautete schon 1955 aus der Dienststelle Blank, Vorgängerin des heutigen Bundesministeriums der Verteidigung, unter der zukunftweisenden Überschrift »Vom künftigen deutschen Soldaten« die programmatisch Ansage: »Der Soldat hat daher als Teilhaber der freiheitlichen Lebensordnung zugleich eine über die nationalen Grenzen hinausgehende Verpflichtung.« Scharfmacher vom Schlage Franz Josef Strauß oder Kai-Uwe von Hassel dechiffrierten die in solch lyrisch anmutenden Tendenzen transportierte Ideologie mit Parolen wie »Dafür sind wir Soldaten, daß die Macht von atheistischen Händen wieder in christliche Hände übergeht.« Auch außenpolitische Strategien der NATO wie das »Roll-back« oder spätere operative Planungen wie die »Vorwärtsverteidigung« hatten einen über die Idee der Landesverteidigung, wie sie in der Bundesrepublik zur Beruhigung der Gemüter propagiert wurde, weit hinausreichenden Horizont. Fazit: Die nach dem Ende des »Kalten Krieges« systematisch betriebene Globalisierung des militärischen Auftrags (»Transformation« genannt) war – wenn auch zunächst noch nicht über Europa hinaus – der Bundeswehr schon in die Wiege gelegt.

Jürgen Roses Artikelserie zur Ächtung des Angriffskriegs, die in Ossietzky 1 und 2/08 begann, wird fortgesetzt. Der Autor, Oberstleutnant der Bundeswehr, ist aus disziplinarrechtlichen Gründen gezwungen, darauf hinzuweisen, daß er in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen darlegt.