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Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Immer wieder besuche ich freie Gruppen, voller Hoffnung auf Innovation. Ich nehme es mir jedenfalls vor. Aber die Gruppen spielen unregelmäßig. Es kann durchaus geschehen, daß man lange unterwegs ist und vor verschlossenen Türen steht: Kein Spieltag heute. In der Fabrikhalle auf dem letzten Hinterhof, wo die Gruppe auftritt, ist es dunkel. Die Hausbewohner wissen nichts von ihr, schon gar nicht, wann und wo sie zu erreichen ist. Hat man endlich eine Telefonnummer bekommen, nimmt dort keiner ab. Die Akteure arbeiten irgendwo, schlagen sich durch. Das Theaterspielen ist ihre Leidenschaft, die sie nicht ernährt.

Einige traf ich an.

In der Pappelallee 15 steht das Ballhaus Ost, wo die Dänin Signa Sorensen eine Performance unter dem Titel »Dorine Chaikin Institute« bietet. Hier erhält man eine Art Therapie, die vier Stunden dauern soll, und fühlt sich wie in einem schlechten Hospital. Die Spieler tun, als ob sie Ärzte und Schwestern wären, und behandeln einen so. Man muß Klinikwäsche anziehen, erhält auch Kamillentee. Hier fließen die Grenzen vom Theater zum Spital gar zu sehr. Katharsis wird nicht zuteil. Ich flüchtete nach 100 Minuten.

Gruppe Radialsystem V arbeitet in der Holzmarktstraße 33. Ein Titel heißt »Kontrast: Ruhe«. Anne Dessau berichtete in Ossietzky 25/07 über diesen Abend, der frieren macht. Amüsanter ist die Radial-Fassung des alten Epos »Das Narrenschiff« von Sebastian Brant (1457–1521), eine große Satire auf die spätmittelalterliche Ständegesellschaft, repräsentiert von 111 Narren. Danielle Picciotto und Axel Hacke machen daraus eine Satire auf die heutige Zeit. Das gelingt teils-teils. Das Ergebnis ist ansehbar. So eine große Vorlage gibt eben Halt.

Zum Engelbrot nach Alt-Moabit 48. In »Angst – Boxen-Team« sieht man Sabrina Zwach und Herbert Fritsch, einen ehemaligen Spitzenschauspieler Castorfs in der Volksbühne. Ach, ist das eine Enttäuschung! Solch ein künstlerischer Abstieg! Da wird gerockt und gebrüllt, was das Zeug hält. Fritsch macht sich gemein mit einem rauchenden und trinkenden Publikum, die Dialoge sind läppisch. Dann soll ein Phobienkonzert mit 111 Panflöten stattfinden. Zum Glück fällt es aus. Nur fort von hier.

Von Moabit in die Karl-Marx-Straße zur Neuköllner Oper, wo Eva Blum und Matthias Witting sowie Regisseurin Ulrike Gärtner mit einer von Gregor DuBuclet geleiteten professionellen Jazzband »Weintraubs Jazz Odyssee« wiederbeleben. Das Urbild aus den 1920er Jahren hieß Weintraubs Syncopators, eine jüdische Jazzband, gegründet von Stefan Weintraub (hier gespielt von Jan-Geerd Buss). Sie begleitete im Tonfilm »Der Blaue Engel« Marlene Dietrich, war bis 1933 in Deutschland erfolgreich und tourte danach bis 1937 bis Australien. Ausgerechnet dieses sonst exilantenfreundliche Land, genauer seine Musiker-Gewerkschaft, belegte die unerwünschte Konkurrenz mit Berufsverbot. Im Weltkrieg galten die deutschen Juden sogar als deutsche Agenten und wurden länger als ein Jahr zwangsinterniert. Stefan Weintraub konnte nie wieder auftreten, das Leben der andern verliert sich im Dunkel der Geschichte. Eine kraftvoll bunte Musik- und Theaterleistung. Für den Beschreiber endlich eine wahre Freude.

Über lange Jahre ging ich oft ins Hebbel-Theater, das heute zur Gruppe Hau mit den Bühnen am Halleschen und Tempelhofer Ufer (schlicht Hau 1, 2 und 3 genannt) gehört. Ein Gastspiel-Haus für Bühnen aus aller Welt, besonders für freie Gruppen. Im September fand dort das Katalonische Theaterfest statt. Jüngst bemerkenswerte Gastspiele der Schweizer Gruppe Rimini Protokoll (geleitet von Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel). Die machen originelle Sachen wie eine Rekonstruktion der Uraufführung von Dürrenmatts »Der Besuch der alten Dame« von 1956 im Züricher Schauspielhaus. Dieses Ereignis hatte theatergeschichtlichen Rang – dramaturgisch, politisch-sozial, darstellerisch vom Frauenbild her. Theater macht seine Geschichte selbst zum Thema. Immerhin! Ein anderer bemerkenswerter Versuch der Gruppe ist »Mnemopark« – ein Stück Gedächtnisarbeit über die Schweiz als Gesellschaftsprodukt. Methodisch gemahnt das, da versteckte kleine Kameras genutzt werden, an Tarkowskis »Stalker«. Seltsam, doch nicht ohne Erkenntnis- und Ästhetik-Wert.

Das mit Abstand wesentlichste Projekt ist »Karl Marx – Das Kapital, erster Band«. Die Urheber sehen das Werk als dramatischen Text, den man lesen können, lesen lernen muß. Acht Personen (unter ihnen der Wirtschaftswissenschaftler Thomas Kuczynski, der darüber schon in Ossietzky berichtet hat) lesen, entdecken, versuchen zu verstehen, interpretieren, erzählen aus ihren Biografien, wie sie zu diesem Großwerk gekommen sind, welche Schlüsse sie gezogen, wie sie gehandelt haben. Ein in dieser Gesellschaft unzählig oft totgesagtes Werk entsteht neu auf der Bühne, strahlend lebendig. Grandios! Muß wiederholt ­werden!

Von Karl Marx in der Stresemann-Straße nun zum Rosa-Luxemburg-Platz in die Volksbühne, deren Hausherr Frank Castorf seine Romanbearbeitung »Nord – Eine Grandguignolade« nach Louis-Ferdinand Céline (1894–1961) vorstellt. ­Castorf meint, uns für den Standort dieses Autors im Norden Deutschlands nach seiner Flucht aus dem Vichy-Frankreich mitten ins zusammenbrechende NS-Reich interessieren zu sollen. Ein chaotischer Standort eines NS-Kollaborateurs, der nicht mehr weiter weiß und sich in Nihilismus rettet. So etwas szenisch darzustellen, ist gewagt. Die einzige Möglichkeit fand er im Grand Guignol, der französischen Kasperlfarce von Laurent Mourguet (1769–1844), die Jarry und Artaud, Peter Weiss und Heiner Müller erfolgreich verwendeten. Ich finde mich in diesem desolaten Geschehen nicht wohl. Mich stört Célines Anfälligkeit für Faschismus und vor allem sein unverhohlener Antisemitismus. Die Atmosphäre wird unsauber. Im Ensemble fällt Annekathrin Bürger auf, die nach langer Zeit wieder einmal ihre komische Begabung zeigen kann.

Eine gewichtige Stimme in diesem Haus hat neben Castorf eigentlich nur René Pollesch. Nach der »Prater-Saga« zeigt er nun im Großen Haus seine »Diktatorengattinnen I«. Auftreten da die Queen (ist sie eine Diktatorengattin?), Imelda Marcos, Elena Ceausescu, und zwar in einer Art Oval Office. Behandelt werden soll ein mächtiger Widerspruch: »Wir sind alle gleich, und gleichzeitig ist keiner so wie der andere.« Das kann so komisch wie traurig sein. Hier ist es eine philosophisch überbelastete Farce. Die Figuren tragen nicht viel. Hinschauen kann man schon mal, zumal Sophie Rois, Christine Groß und Mira Partecke spielen, was das Zeug hält, eher zu laut.

Des weiteren setzt Castorf die mit seiner originellen »Meistersinger«-Fassung begonnene Opernserie fort: »Opernzeit – Zeitopern« Die Kurzopern von Karl Amadeus Hartmann unter dem Titel »Wachsfigurenkabinett« inszenierte er nicht alle selbst, auch den »Wozzeck« von und nach Alban Berg nicht. Dafür die Léhar-Operette »Frühling« von 1922 und die Brecht-Weill-Schuloper »Der Jasager«, dazu das Pendant ohne Musik »Der Neinsager« von 1930. Was ich sah, will mir als Experiment einleuchten. Man sieht manches von den Stücken hier genauer als auf der Opernbühne. Und hört anders. Der bewährte Sir Henry macht die Intelligenz dieser Musik deutlich, von der ebenso intelligenten Regie David Martons unterstützt. Freilich: Bergs »Wozzeck« sähe ich in der Staatsoper lieber, wo sich diese Musik klanglich voll entfalten kann. Auch bedürfen diese Stücke nicht alle einer solchen kritischen Neusicht wie die beladenen »Meistersinger«, die ich den Ossietzky-Lesern ausführlich beschrieben habe.

Nicht zu vergessen: Erich Kästners »Emil und die Detektive« in zwei Fassungen: für Kinder ab 9 Jahren und für solche ab 17. Mit Kindern zwischen 9 und 13 sowie mit erwachsenen Schauspielern. Darunter dem unverwüstlichen ­Joachim Tomaschewsky, dessen meist kleine Auftritte das Ansehen wert sind – eine darstellerische Kostbarkeit!

Das alles ist nicht wenig, dennoch wird raisonniert: Die Volksbühne baue ab, sei in der Krise, gar am Ende. Nun: Das angesagte Opernprogramm allein kann sicher keine Erneuerung bringen, dafür haben wir drei Opernhäuser. Und die Rockkonzerte auch nicht. Nach dem Abgang besonderer Regisseure wie Marthaler oder Schlingensief und wichtiger Schauspieler wie Fritsch (s.o.), Hübchen, Wuttke, Meyerfeldt und des Dramaturgen Hegemann sind Lücken geblieben, die so bald nicht zu füllen sind.

Keiner – und sei er ein Geistesriese wie Castorf – kann pausenlos Neues erfinden. Das Beste ist verbraucht, der Rest muß gut behütet werden. Die zur Manie verkommene Destruktionsmethode kann man fallen lassen. Sein Platz in der Theatergeschichte ist Castorf sicher.