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Jan Hus, bis heute umstritten  (Wolfgang Beutin)

Der tschechische Theologe und Prediger Jan Hus (geboren um 1370, verbrannt in Konstanz 1415) hat immer – bis in die Gegenwart – eine extrem zwiespältige Beurteilung erfahren. Auf der einen Seite Verehrung, ja Bewunderung zum Beispiel von Rilke und Werfel, auf der anderen Haß, wie ihn der sudentendeutsche »Vertriebenen«-Politiker Walter Becher bekundete, als er Hus mit Hitler parallelisierte; im »Sudentenland-Lexikon« von 1996 schrieb Rudolf Hemmerle anklagend, die von Hus ausgelöste Bewegung habe nach 1945 dazu gedient, »das Deutschtum in den Sudetenländern zu beseitigen«.

Den fast 600 Jahre währenden Streitfall zu erledigen, verspricht jetzt eine voluminöse englische Publikation von Thomas A. Fudge: »Jan Hus. Religious Reform and Social Revolution in Bohemia« (London / New York 2010). Die theologisch zentrierte Sicht befähigt den Verfasser, manch ältere Legendenbildung um Hus aufzulösen: Obschon sicherlich Patriot, habe er sich doch keineswegs im Bemühen um das Konstrukt einer tschechischen Identität verzehrt noch sein Leben irgendeinem Nationalismus gewidmet.

Doch Fudges mehrmals formelhaft wiederholtes Resultat, Hus sei sowohl ein spätmittelalterlicher katholischer Reformer als auch ein Häretiker gewesen, fordert Kritik heraus. Der Autor setzt sich hier bewußt in Gegensatz zu der herkömmlichen protestantischen Auffassung, Hus sei mit dem Engländer Wiclif zu den Vorreformatoren zu rechnen, und distanziert sich auch von der aktuellen These tschechischer Geschichtsforscher, wonach er der erste bedeutende europäische Reformator gewesen sei, so daß der böhmischen Reformation die Priorität unter sämtlichen europäischen Reformationen zukomme.

Erkennbar teilte Hus mit der Frühreformation grundlegende Positionen sowohl in der theologischen Lehre und in der kirchenkritischen, besonders antipapalen Polemik als auch in den vorgeschlagenen Methoden der Reform. Wie sollte man in seinem Entwurf nicht die Absicht einer durchgreifenden Reformation erkennen? Der tschechische Philosoph Comenius (Jan Amos Komenský) bekannte in einem Brief nach Deutschland, er sei Mitglied einer Kirche, »die ihre Reformation nicht mit Luther und Calvin, vielmehr einhundert Jahre vor euch mit Hus begonnen hatte«.

Die Bezeichnung »Häretiker« entspricht der Sicht jener, die Hus 1415 verurteilten und verbrennen ließen. Diese Bezeichnung übernehmen, heißt, die Autorität des Papsttums anerkennen. Warum dann nicht auch gleich dessen angemaßtes Recht anerkennen, Ketzer töten zu lassen? Wenn moderne Historiker an mittelalterlichen Begriffen festhalten wollen, müßten sie sie kritisch wenden und könnten dann ebensogut die Päpste und ihre Anhänger als »haeretici« bezeichnen, wie es einst schon Wiclif unternahm, bevor Luther mit geistiger Kühnheit zur Umwertung konventioneller Wertungen anleitete, als er 1520 schrieb: Johannes Hus und Hieronymus, fromme Christen, sind verbrannt von Ketzern …« Es wäre also zu klären, welche Autoritäten alter Zeit als gültig betrachtet werden, die Päpste oder die Kirchenkritiker. – Das Mittelalter legt sich nicht selber aus. Wir benutzen mit Recht für diesen Zeitabschnitt eine in der Neuzeit geschaffene Bezeichnung, die den Menschen damals nicht zur Verfügung stand. Über die Eigenart des mittelalterlichen Christentums ist mit Kurt Flasch (1986) zu konstatieren: »Spezifisch für das Mittelalter war nur, daß eine dogmatisch fixierte Religion mit amtlichen Lehrentscheidungen und Polizeigewalt herrschte.« Genau diese trat in Konstanz in Gestalt der Konzilteilnehmer in Erscheinung. Auch Fudge benennt sie richtig als geistliche Polizisten. Daß es den Nachfolgern der »Polizei«-Opfer Hus und Hieronymus, den Hussiten, erstmals in der europäischen Geschichte gelang, die konfessionelle Unität aufzubrechen und ihre Reformation entgegen aller geistlichen und weltlichen Polizeigewalt durch etliche Jahrhunderte zu retten, war das unübersehbare Signal, daß ein neues Zeitalter begonnen hatte, zu dessen unverlierbaren Kennzeichen die konfessionelle Pluralität gehört. – Fudge addiert zwei unterschiedliche, aus unterschiedlichen Epochen stammende Sentenzen katholischer Autoritäten: des Konzils zu Konstanz, das den Reformator Hus zum Häretiker stempelte, sowie des knapp 600 Jahre später amtierenden Papstes Johannes Paul II., der 1990 erwog, Hus einen Platz unter den Reformern der Catholica zuzuweisen. Aber Addition ersetzt keine Argumentation.