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Titel315

Charmant-kritische Bundestagsbeobachtung  (Friedrich Wolff)

Ein ganzes Jahr lang nahm Roger Willemsen an den Sitzungen des Deutschen Bundestages als Zuschauer teil. Bereits das ist ein bemerkenswertes Unternehmen. Er beginnt und endet mit einem Bericht einer Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin. Willemsen findet dabei Worte, die den Inhalt ihrer Rede zerpflücken, kurz und ironisch berichtet er von dem »konjunktivistischen Mitleid« unserer Kanzlerin: »Wenn tot, dann traurig, wenn traurig, dann zutiefst und wenn ›zutiefst‹, dann ›natürlich‹«. So wird man bereits auf der dritten Seite eingestimmt auf das, was man zu erwarten hat, und man wird nicht enttäuscht.


Am Ende der Einleitung wirft Willemsen eine Frage auf, die bisher wohl niemand, auch keine Opposition, aufgeworfen, geschweige denn beantwortet hat: »Welche Autorität aber besitzt das Entscheidungszentrum der Demokratie?« Willemsen überläßt die Antwort dem Leser, allerdings suggerieren seine vielen Beispiele: Das Hohe Haus besitzt keine Autorität. Das ist ein starkes Stück, zu stark für den Autor.


Es ist ein Genuß, die Formulierungen des Autors auf sich wirken zu lassen, kaum eine Seite ohne ein derartiges Vergnügen. So über das Schicksal eines Antrages der Linken auf Renaturierung der Flußläufe. Da heißt es: »Aber was kann Flüssen Schlimmeres passieren als in einem Antrag der Linken vorzukommen? Also abgelehnt.« Oder an anderer Stelle: »Obama war in Berlin und hat die Jacke ausgezogen.« Manchmal allerdings vermag der unbedarfte Leser dem Verfasser nicht zu folgen. Er muß im Fremdwörterbuch nachlesen oder Google fragen, was »Einigkeitspheromone« sind oder unter »Platons Höhlengleichnis« zu verstehen ist. Der Leser wird dann ganz klein – muß das sein?


Der Leser wird jedoch auch sachkundig belehrt, so zum Beispiel über die Geschichte des Reichstages beziehungsweise des Bundestages. Und er wird unterhalten mit der Darstellung der Bekleidung von Abgeordneten, ihrer Redeweise. Es dürfte kein Zufall sei, daß Sahra Wagenknecht dabei gut abschneidet. »Wagenknecht ist gerade die einzige Person im Hohen Haus mit Silhouette. Im petrolfarbenen knielangen Kostüm mit knöchelhohen Stiefelletten, spricht sie nicht zur eigenen Fraktion, sie spricht mutig und offensiv zu den Regierungsparteien, im wesentlichen frei, mit weit geöffneten Armen, für eine angesetzte Dauer von acht Minuten.«


Politiker haben nach Willemsen einen schlechten Ruf. Er erklärt das mit der Tatsache, daß der Politiker »als Massen-Individuum auftretend, wenig von dem hat, was man am Einzelmenschen schätzt. In dieser Hinsicht ist er wie ein Saalpublikum oder ein Fußballstadion. So wenig er zurückscheut vor Exzessen des Eigenlobs, so wenig blamiert ihn jede denkbare Verunglimpfung des Gegners. Der Abgeordnete ist nicht demaskierbar, auch nicht durch die Wahrheit. Denn solange er seine Funktion für Partei und Fraktion erfüllt, sind rhetorisch fast alle Mittel erlaubt. So entwickeln sich die Abgeordneten allmählich zu Charaktermasken. Wie die handelnden Personen im Kasperletheater erfüllen sie die Auflagen ihrer Rollen-Charaktere: Gretel, Polizist, Teufel, Hanswurst, Krokodil.«


Die Rolle des Parlaments, seine Funktion wird vielfach in Frage gestellt, so etwa schon auf Seite 16: »Die Verfassung meint: Die Entscheidungsgewalt liegt bei der Regierung, das Parlament kontrolliert diese Regierung. Die Wahrheit ist, Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie sein Tun repräsentativ, meist rühmend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu …« Oder auf Seite 124: »Ich habe lange Phasen erlebt, in denen kein einziger Abgeordneter bei dem war, was vorne gesprochen wurde.« Schließlich ein letztes Beispiel: »Es handelt sich um den letzten Entwicklungsstand einer Institution, um die mit dem Leben gekämpft wurde.« (Seite 276)


Es gibt aber auch Passagen, die respektvoll, geradezu bewundernd klingen: »Ich nenne es das ›Hohe Haus‹ mit schwankenden Amplituden, weil es mir manchmal prachtvoll erscheint, weil es einfach wunderbar ist, einem repräsentativen Kollektiv beim Wägen von Wichtigkeiten zu folgen.« Es könnte allerdings sein, daß der Leser das nicht ernst nimmt. Willemsen weiß, daß »uns die Marktwirtschaft ›in ihrer jetzigen marktradikalen Form die Finanz-, Wirtschafts- und Umweltkrise beschert hat‹«. Er weiß offenbar, daß es höhere Mächte gibt als das Hohe Haus.

Roger Willemsen: »Das Hohe Haus. Ein Jahr im Parlament«, S. Fischer Verlag, 400 Seiten, 19,99 €