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Titel317

Neue Gestik der Figur bei Barnickel  (Peter Arlt)

Anfangs war ich voller Distanz zu den Eisenskulpturen Ulrich Barnickels an der ehemaligen Grenze bei Point Alpha. Die Idee, den politischen Ort mit den Leidensstationen Christi »kurzzuschließen« und ihn »Weg der Hoffnung« zu nennen, wird auch anderen missfallen, zumal wenn dort Insignien der DDR auftauchen. Aber die auf einer eineinhalb Kilometer langen Wegstrecke folgenden vierzehn monumentalen Skulpturengruppen, zwanzig bis zu sechs Meter große Figuren aus Eisen, beeindrucken. Sie greifen weit über den politisch gedachten Anlass hinaus, vergegenwärtigen das Schicksal an politischen Grenzen bis in die Gegenwart und wohl in die künftige Zeit hinein und lassen sich mit meditativer Einkehr verbinden.

 

Den Kalvarienberg beim thüringischen Geisa, Christi Kreuzweg, zeigt in einer 1:10-Fassung seine Ausstellung »Via vita ferrum – Ulrich Barnickels Eiserner Weg« im KunstForum Gotha, die bis zum 26. Februar zu sehen ist. Noch stärker als in der Großfassung lassen sich die »Signets der Figur« (Barnickel) entziffern und die Qualität der Metallarbeit bestimmen. Faszinierend ist, wie der 1955 in Weimar geborene Barnickel in der Nachfolge von Julio González, Eduardo Chillida, Alexander Calder und Pablo Gargallo, der in den 1930er Jahren das industrielle Eisen als ausschließliches Material für die Plastik entdeckt hat, eine neue Gestik der Figur entstehen lässt und eine neue figurale Sprache hervorbringt.

 

Der zum Schmied ausgebildete Metallbildhauer Ulrich Barnickel verkörpert zum einen die tatkräftige Vita activa. Ein kraftraubendes kreatives Tun in der mehrräumigen Werkstatt an Abkant- und Drehbänken, Bohr- und Biegemaschinen, mit Sägen, Krafthämmern oder Schmiedefeuer, Zangen, Amben oder mit Schweißverfahren. Zugleich ist Barnickel ein reflektierender Künstler, denn nach dem Studium der Metallbildhauerei von 1979 bis 1984 an der Burg Giebichenstein in Halle/Saale gab es mit seiner Dissertation den Pendelschlag zur Vita contemplativa. Die mit industrieller Technik verbundene schwere körperliche Tätigkeit ist nach der Intention seiner Professorin Irmtraud Ohme geprägt »von bürgerlich-humanistischer (reformatorischer) wie proletarischer Tradition«.

 

Mit seinen Künstlerfreunden wusste er sich der herabwürdigenden Einordnung ihrer künstlerischen Arbeit zum Kunsthandwerk entgegenzusetzen. In einem Freiraum für Forminnovationen nutzten sie experimentelle Arbeitsweisen. Bemerkenswert ist dabei, wie die Künstler entgegen dem Trend und in aller formalen Freiheit dennoch an der Würdigung des Menschen als bedeutendstem künstlerischen Gegenstand festhielten. Die Befindlichkeit des Menschen zu zeigen, erklärt Barnickel: »Das zu tun, ist mein Weg!«

 

Als im Westen die Wiederkehr der menschlichen Gestalt in der Kunst Einzug hielt, behauptet Barnickel »mit seinem Œuvre seit mittlerweile drei Jahrzehnten eine etablierte Position in der gesamtdeutschen Kunstszene«, wie Irmgard Sedler feststellte. Neben Georg Baselitz, Günter Grass, Jörg Immendorf, Per Kirkeby, Markus Lüpertz, A. R. Penck, Arnulf Rainer oder Verena Vernunft wird er gezeigt.

 

Seine Metallplastiken zeigen tragische und komische Themen, die Zehn Gebote, die Sieben Todsünden, die Apokalypse, mythologische Motive. Das tanzende Mariechen und ein Clown erheitern unseren Blick. Grundlegend durchzieht eine humorvolle Bildsprache Barnickels Werk. Eindrucksvoll, die inszenatorische Gestaltungsweise der Schauspielkunst kommt ins Spiel, zeigt diese eine Gebärdensprache, eine Art »Volkslatein« (Aby Warburg). Das sperrige Material bringt zwischen kompakt und fragil eine besondere Schönheit, eine neue Bildsprache hervor. In einer Synthese abstrakter und figuraler Formbestrebungen, in den vereinfacht erfassten Körpern, im gleichzeitigen Zeigen von außen und innen, in flächigen Elementen mit Überlängung und Stauchung, zerbeult und zerknittert, mit Faltenwurf, Kerben, Brüchen und Schweißnähten, in den Arbeitsspuren und den Materialzuständen. Rost versteht Barnickel als »Blut des Eisens«, als Spiegelbild seelischer Prozesse.

 

Wie erfindungsreich Barnickel die Ikonographie auslegt, sollte jeder Betrachter selbst herausfinden. Interpretationen sind im Katalog nachzulesen. Zur Vernissage konnte einer Deutung in Musik gefolgt werden, denn der Komponist und Pianist Franz Vorraber aus Graz brachte die Uraufführung seines Klavierstücks »Die 7 Todsünden Barnickels« zu den skulpturalen Kunsttaten zu Gehör.

 

Die Ausstellung, die Ulrich Barnickel mit dem KunstForum in allen vier Etagen herausragend durchdacht und gebaut hat, blickt mit »Luther und das rote Tuch« auch ins Reformationsjahr. Luther wächst in seinem langen gefalteten Gewand über dem zweigespaltenen Boden empor. Stäbe vor ihm bilden einen spätgotischen Bogen und skizzenhaft ein Portal, in dem eine rotglänzende Metallfläche angebracht ist. Auf diese wird ein als Arm erkennbarer Eisenwinkel mit einem Hammer schlagen, wohl die berühmten Thesen, ein rotes Tuch bis heute. Der Hammerschlag der reformatorischen und handwerklichen Tat Luthers, mit der sich der hammerschlagende Barnickel identifizieren kann, lässt als Pathosformel den Donner in der Christenwelt erahnen, den die Reformation immerfort haben wird.

 

Bis 26. Februar 2017 im KunstForum, Querstraße 13-15, Gotha, Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr, Katalog (48 Seiten, 10 €)