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Titel319

»Wir waren einfach Menschen, Deutsche«  (Renate Hennecke)

München, 23. Januar 2019. Der Bayerische Landtag und die Stiftung Bayerische Gedenkstätten haben gemeinsam zur jährlichen Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus eingeladen. Der Plenarsaal des Maximilianeums ist voll besetzt. Unter den Besuchern auf der Zuschauertribüne lauschen unter anderem Schüler eines Gymnasiums aus Markt Indersdorf, Kreis Dachau.

 

Der Gedenkakt ist schon weit fortgeschritten. Abgeordnete und Gäste wurden vom Stiftungsdirektor, Karl Freller, begrüßt, Landtagspräsidentin Ilse Aigner hat die Notwendigkeit der Erinnerung beschworen und gerügt: »Wer heute den Holocaust relativiert oder ihn verleugnet, macht sich schuldig. Und wer heute unsere Erinnerungskultur in den Schmutz zieht, etwa indem er vom ›Denkmal der Schande‹ spricht, der ist blind – nicht nur gegenüber der Vergangenheit. Er ist auch blind für die Zukunft!« Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und heutige Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, hat den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland angeprangert und erklärt: »›Nie wieder‹ ist das Versprechen, dass jeder, gleich welcher Herkunft oder Religion, in unserem Lande sicher und frei leben darf. Frei von Angst – frei von Bedrohung – frei von Angriffen – frei von Beleidigung und Beschimpfung.« Dieses Versprechen sei die Grundlage der Demokratie und müsse geschützt werden. »Wie groß diese Aufgabe ist, sehen wir beim Blick in den Bundestag und in unsere Landesparlamente. Dort – und hier – ist heute überall eine Partei vertreten, die diese Werte verächtlich macht, die die Verbrechen der NS-Zeit verharmlost und enge Verbindungen ins rechtsextreme Milieu unterhält. Diese sogenannte Alternative für Deutschland gründet ihre Politik auf Hass und Ausgrenzung und steht – nicht nur für mich – nicht auf dem Boden unserer demokratischen Verfassung.« Solch offene Kritik ist zu viel gewesen für die Kritisierten: Achtzehn der 22 AfD-Abgeordneten verließen demonstrativ den Saal. Die übrigen Anwesenden – mit Ausnahme der vier sitzen gebliebenen AfDler – haben der Holocaust-Überlebenden nach ihrer Rede lang anhaltenden stehenden Applaus gespendet.

 

Jetzt gehen zwei Menschen gemeinsam zum Rednerpult: Hermann (»Mano«) und Else Höllenreiner. Der 85-jährige Sinto, der als Neunjähriger mit seiner Familie nach Auschwitz verschleppt wurde, hat seine Frau gebeten, seine Rede vorzutragen. Seine Gesundheit ist der Anstrengung nicht mehr gewachsen. »Die Grausamkeiten und Verbrechen von damals schmerzen uns Sinti und Roma bis heute, ebenso wie unsere jüdischen Leidensgenossen und alle anderen Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.« Trotzdem ist Mano Höllenreiner seit vielen Jahren als Zeitzeuge unterwegs, liebevoll unterstützt von seiner Frau und seiner Tochter. In der späteren Berichterstattung über den Gedenkakt wird seine bewegende Rede kaum eine Rolle spielen, zu sehr wird der »Eklat«, der Auszug der AfD, im Vordergrund stehen. Gerade deshalb soll Mano hier ausführlich zu Wort kommen.

 

 

Ausgegrenzt, gedemütigt, entrechtet, verfolgt

»Als Kind kannte ich nichts anderes als die Diktatur«, erzählt der im Oktober 1933 Geborene. »Wir Sinti wurden ausgestoßen, nicht, weil wir anders waren als andere, wir waren nicht anders. Wir waren einfach Menschen, Deutsche, mit Träumen und Wünschen wie unsere Nachbarn und alle anderen Münchener auch. Unsere Eltern hatten Arbeit, wir Kinder gingen in die Schule. Aber ebenso wie die Juden wurden wir vom nationalsozialistischen Staat ausgegrenzt, gedemütigt, entrechtet und verfolgt. Selbst einige unserer Nachbarn, Arbeitskollegen meiner Eltern und sogar Schulkameraden beteiligten sich daran.«

 

Die 1935 in Kraft getretenen rassistischen »Nürnberger Gesetze« betrafen Sinti und Roma ebenso wie die Juden. »Entgegen den von der nationalsozialistischen Propaganda verbreiteten Zerrbildern über ›Zigeuner‹ waren die in Bayern lebenden Sinti und Roma schon lange als Nachbarn oder Arbeitskollegen in das gesellschaftliche Leben und in die lokalen Zusammenhänge integriert. Wir waren und sind Teil der deutschen Geschichte und Kultur. Viele aus unserer Familie hatten im Ersten Weltkrieg in der kaiserlichen Armee gedient. Doch seit Oktober 1939 durften wir von einem Tag auf den anderen unseren Wohnort München nicht mehr verlassen. Durch diese Festsetzung wurden Familien getrennt und viele zugleich um ihre Existenzgrundlage gebracht.«

 

 

Auschwitz, Ravensbrück, Sachsenhausen

Am 8. März 1943 wurde die Familie Höllenreiner verhaftet, wenige Tage später wurde sie zusammen mit vielen anderen Sinti-Familien – insgesamt circa 140 Personen – in Güterwaggons nach Auschwitz deportiert. Dort wurde Mano die Nummer Z-3526 auf den Arm tätowiert. Sein Leben lang sollte sie ihn an das Grauen der Lager erinnern: »Wir wurden gedemütigt, gequält, versklavt, ermordet. Auch wir Kinder mussten schwer arbeiten. Ich wünsche uns allen, dass kein Kind auf der Welt so hungert, wie wir gehungert haben, dass niemand so viele Tote sehen muss, wie wir gesehen haben. Ich musste auch für den KZ-Arzt Mengele arbeiten, der Versuche an Menschen machte.« Für ihn musste das Kind Mano Gefäße mit Organen ermordeter Häftlinge in eine andere Baracke schleppen.

 

Besonders ein Tag ist Mano im Gedächtnis geblieben: »Am 16. Mai 1944 wollte die SS uns alle ermorden, um Platz für die ungarischen Juden zu schaffen. Es war Lagersperre, wir mussten in den verschlossenen Baracken bleiben. Lastwagen kamen ins Lager und sollten uns zu den Gaskammern fahren. Aber mein Vater und andere Männer waren gewarnt worden. Sie wollten kämpfen und sich nicht umbringen lassen. Die Tausenden Menschen im Lager waren ganz still. Dem Befehl der SS-Männer, aus den Baracken zu treten, gehorchten sie nicht. Die SS-Männer wollten nichts riskieren und brachen den Mordplan ab. So hatten unsere Leute mit ihrem Widerstand uns das Leben gerettet.«

 

Die noch Arbeitsfähigen, darunter der zehnjährige Mano, wurden danach ins KZ Ravensbrück abtransportiert. »Die verbliebenen Alten, Kranken und Kinder wurden am 2. August 1944 alle ermordet. Auch eine kleine Cousine von mir.«

 

Von Ravensbrück, wo alle Sinti ab dem zwölften Lebensjahr ohne Narkose zwangssterilisiert wurden, ging es weiter nach Sachsenhausen. Dort wurde er von seinem Vater getrennt. »Mein Vater, Onkel Sepp, Onkel Konrad und andere Sinti wurden beim Appell rausgerufen, sie sollten noch in den letzten Wochen vor Kriegsende in den Krieg. Mein Vater lief zu mir, einem SS-Mann sagte er: ›Ich lasse meinen Sohn nicht allein. Ich gehe dahin, wo mein Kind hingeht.‹ Da schlug der SS-Mann ihn blutig. Ich dachte, jetzt werden wir erschossen. Mein Vater umarmte mich noch einmal und wurde mit den anderen Sinti weggebracht.« Für Mano, der schon so viele Grausamkeiten erlebt hatte, gehörte die Trennung vom Vater zu seinen schlimmsten Momenten.

 

Als der Krieg fast vorbei war, wurden die Häftlinge auf einen Todesmarsch getrieben. »Viele starben unterwegs vor Erschöpfung«, berichtet Höllenreiner. »Wer nicht mehr weiterkonnte, wurde von den SS-Männern erschossen. Die SS-Männer mordeten bis zum Schluss, dann zogen sie ihre Uniformen aus und Häftlingskleidung an und liefen weg.« Mano irrte noch eine Weile umher, bis er so schwach war, dass er auf der Straße liegenblieb. Befreite Französinnen nahmen ihn mit nach Frankreich. »Dort nahmen mich liebe Menschen, ohne zu fragen, auf. Obwohl sie arm waren, kümmerten sie sich um mich und liebten mich. Ich werde ihnen für immer dankbar sein.«

 

Über Manos Leben nach der Befreiung hat Anja Tuckermann das Buch »Mano. der Junge, der nicht wusste, wo er war« geschrieben. Darin schildert sie, wie schwierig es für das traumatisierte Kind war, wieder ins Leben und in einen Alltag hineinzufinden. »Ich hatte große Angst, zu sagen, dass ich ein Deutscher bin, weil ich dachte, dass ich dann wieder gefangen werde und vielleicht sterben muss. Es hat lange gedauert, bis ich merkte und glaubte, dass ich sicher war.«

 

Als er 13 Jahre alt war, wurden Manos Eltern und seine Schwester in München gefunden, und er wurde zu ihnen gebracht.

 

 

Manos Erinnerungen werden Schullektüre

Das Buch über seine Kindheitsjahre wurde in diesem Schuljahr als Prüfungslektüre der Realschulen in Baden-Württemberg ausgewählt. Mano ist »ein bisschen stolz« darauf und »sehr froh, dass in den Schulen nach so langer Zeit endlich auch über unser Schicksal gesprochen wird. Dass die jungen Menschen etwas über uns Sinti erfahren.« Nicht nur in Baden-Württemberg: »Wenn es meine Gesundheit zulässt, werde ich im Rahmen einer vom Bayerischen Kultusministerium geförderten Vortragsreise vor bayerischen Schulklassen über mein Verfolgungsschicksal berichten.«

 

»Nicht zu vergessen ist für uns in diesem Land wichtig, denn es geht dabei stets auch um die Zukunft.« So Mano am Ende seiner Rede. Er hofft darauf, dass die jungen Generationen Verantwortung übernehmen und dafür sorgen, dass sich »Derartiges« nie mehr wiederholen kann. Gleichzeitig seien Minderheiten auf das Funktionieren der demokratischen Rechtsordnung angewiesen. »Für uns Sinti hier in Bayern, aber auch für mich persönlich, war es ein historischer Moment und ein wichtiges Zeichen dafür, dass der Staat seiner Verantwortung gegenüber unserer Minderheit nachkommt, als der Freistaat Bayern am 20. Februar 2018 einen Staatsvertrag mit dem Landesverband Deutscher Sinti und Roma abgeschlossen hat. Dies gibt uns für unsere Kinder und Kindeskinder Hoffnung für eine Zukunft als gleichberechtigte Bürger dieses unseres Landes.« Mit diesem hoffnungsvollen Ausblick schließt Manos von Else Höllenreiner vorgetragene Rede.

 

Während seine Frau die Rede verlas, hat Mano konzentriert zugehört, immer wieder bekräftigend genickt oder sein Gesicht in schmerzlicher Erinnerung verzogen. Als ihm und Else nun von Stiftungsdirektor Freller und Landtagspräsidentin Aigner die Hand gedrückt wird, fällt die Spannung sichtbar von ihm ab. Dass er hier im Landtag sprechen durfte, versteht er für sich selbst, »aber auch für die Gemeinschaft der Sinti und Roma, [als] ein Zeichen der Anerkennung des uns während der Zeit des Nationalsozialismus zugefügten Leids«. Lange haben die Sinti und Roma auf solche Anerkennung gewartet.

 

 

Anja Tuckermann: »Mano. Der Junge, der nicht wusste, wo er war«, Carl Hanser Verlag 2008, 240 Seiten, 17,80 € (Taschenbuch 11,90 €)