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Normalität in Ahrensbök  (Jörg Wollenberg)

Nach der Volkszählung von 1939 hatte die Gemeinde Ahrensbök bei Lübeck knapp über 5000 Einwohner. Dazu gehörte auch die Familie Fritz und Herta Wollenberg mit fünf zwischen 1936 und 1943 geborenen Kindern. Unser Leben verlief scheinbar normal, einmal abgesehen von einem Cousin meines Vaters, der sich in den letzten Kriegstagen bei uns aufhielt, seine SS-Uniform auf dem Boden versteckte und vor dem Einrücken der alliierten Truppen spurlos verschwand. Das Schicksal unserer Nachbarn, der Großfamilie des jüdischen Tierarztes Beckhard, die 1938 zur Arisierung des Hauses und zur Flucht in das US-amerikanische Exil gezwungen worden war, blieb unthematisiert. Ebenso das von Nelly Kröger, der unehelichen Tochter des jüdischen Pferdehändlers Noah Troplowitz aus Ahrensbök, die im französischen Exil Heinrich Manns zweite Ehefrau wurde. Dem trinkfesten Schweinehändler Franz Koop gelang es gar, geschützt vom SA- Führer und Regierungspräsidenten Heinrich Böhmcker, jeder Verfolgung und Verhaftung zu entgehen, obwohl der anpassungsfähige Sozialdemokrat die »völkische Reinheit« durch die Heirat mit einer anderen Troplowitz-Tochter zerstört hatte. Deren gemeinsame Tochter wurde gelegentlich von meinen Mitschülern als »Juden-Lore« diffamiert.

Als normal galt die Anwesenheit der damals 16jährigen polnischen Hausgehilfin Wanda Bankowska, die vom Juli 1940 bis zum Februar 1941 uns Kinder in unserem Elternhaus betreute. Sie steht stellvertretend für die vergessenen 1294 ausländischen Arbeitskräfte, die zwischen 1939 und 1945 in Ahrensbök in der Regel in den Betrieben und auf den Bauernhöfen, aber auch in Privathaushalten zwangsverpflichtet waren. Deren Schicksal konnte erst 50 Jahre später durch einen Zufallsfund dem Vergessen entrissen werden. Ein leitender Mitarbeiter der Gemeinde entdeckte auf dem Dachboden des neuen Rathauses die vollständig erhaltene Ausländermeldekartei (ohne Kriegsgefangene). Sie gibt präzise Auskunft über Geburtsort, Zuzugs- und Fortzugsdatum, Sterbetag wie auch Geburt von Kindern während des Arbeitseinsatzes in der Gemeinde.

Von den 1294 Zwangsarbeitern waren 243 jünger als 15 Jahre. 28 von ihnen kamen als Kinder in Ahrensbök zur Welt, drei wurden als Totgeburten registriert. Die hohe Zahl dieser ausländischen Arbeitskräfte machte klar: Die eingesessenen Ahrensböker müssen ihnen täglich begegnet sein. Nicht zu übersehen waren die Wohnbaracken der größeren Betriebe wie der Flachsröste oder der Ziegelei. Die Baracke der Globus-Gummi- und Asbestwerke für 96 Frauen und Männer aus Polen, der UdSSR, den Niederlanden und Belgien lag in unmittelbarer Nähe der Lübecker Straße neben dem alten Pastorat und unweit der alten Volksschule. Und auf dem Gelände der Alten Ziegelei wurde das Russenlager im Herbst 1944 aufgelöst, um Platz zu machen für die Absolventinnen des letzten Lehrgangs der NS-Lehrerinnenbildungsanstalt (LBA), die hier fortan wohnten. (Nach dem Kriege errichtete mein Vater auf diesem Gelände seinen Landhandel.)

Fast alle Ahrensböker Familien konnten die Gegenwart dieser Zwangsarbeiter ebenso wenig übersehen wie die Präsenz von rund 300 KZ-Häftlingen aus Auschwitz und Dora, die ab Mitte April bis zum 3. Mai 1945 immer wieder im Ort um Hilfe und Unterstützung in ihren Notunterkünften baten. Dazu gehörten zwei Künstler, die nach 1945 das internationale Musikleben prägen sollten: der Wiener Harry Hermann Spitz, vor 1933 Bratschist des berühmten »Guarneri-Quartetts«, ab Juni 1944 Dirigent der Kapelle Auschwitz-Fürstengrube, der bis zu seiner Befreiung gelegentlich in der Bäckerei Kiekbusch arbeitete und ab 1947 die Musikabteilung des NWDR (heute NDR) aufbaute. Außerdem Jan Kurt Behr, der vor seiner KZ-Haft als Nachfolger von George Szell die Deutsche Oper in Prag geleitet hatte und nach 1945 ständiger Dirigent an der Metropolitan Opera in New York wurde.

Erst 66 Jahre danach wird es zwischen dem 3. und 8. Mai 2011 zu einer Begegnung mit einigen der noch lebenden 18 (von einst 446) ehemaligen Zwangsarbeitern aus Polen kommen, eingeladen von der Gedenkstätte Ahrensbök, dem Bürgermeister der Gemeinde, den Globus-Werken und dem Sibliner Hof. Auch ihr Leben und Leiden darf nicht in Vergessenheit geraten und harrt der erzählenden Aufarbeitung.