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Titel042013

Vorwärts, nicht vergessen  (Klaus Nilius)

19. Februar 1973. In Hamburg versammeln sich Kommunisten, Gewerkschafter, Sozialdemokraten und diverse Wanderer zwischen den damaligen realen und ideologischen Welten, zwischen Ost und West, zu einer Trauerfeier für Gerhard Gleißberg. Der am 27. Juli 1905 in Breslau geborene politische Publizist war kurz zuvor im Alter von erst 67 Jahren gestorben.

Genau 40 Jahre ist das in diesen Tagen her.

Gerade ist der Vorwärts, die Zeitung der deutschen Sozialdemokratie, aus Anlaß der 150. Wiederkehr des Gründungsdatums des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins des Ferdinand Lassalle als buntes Jubiläums-Magazin erschienen. Käme jemand auf den verwegenen Gedanken, auf einer der 138 Seiten den Namen Gleißberg zu suchen, er würde nicht fündig werden. Obwohl der Journalist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am Neuen Vorwärts mitgearbeitet und das »Zentralorgan der SPD« von 1948 bis 1955 als Chefredakteur geleitet hat.

Gleißberg war und ist für die SPD keine Nachrufpersönlichkeit. Trotz seiner Emigration nach Prag, kurz nach dem 1. Mai 1933, dem Tag des Überfalls von Schlägertruppen der NSDAP auf die Gewerkschaftshäuser. In Prag baute damals auf Beschluß des Parteivorstands ein Teil der führenden Genossen ein Auslandszentrum auf, die sozialdemokratische Organisation im Exil, kurz SOPADE. Der junge Gleißberg war mit dabei.

1939, nach der Annektierung der Tschechoslowakei, flüchtete die SOPADE nach Paris und dann nach London. Gleißberg war wiederum dabei. Er arbeitete in den Büros der Exil-SPD, half bei der Visabeschaffung für Emigranten. Er leitete so erhaltene Informationen über die Lage in Deutschland an britische und amerikanische Stellen weiter, arbeitete als antifaschistischer Referent in Kriegsgefangenenlagern in Großbritannien und Ägypten.

Dann zurück in Deutschland. Im Kopf und im Herzen das, was er als Essenz, als Lehre aus den finsteren Jahren mitgebracht hatte: daß an der Zusammenarbeit aller antifaschistischen Kräfte und der Entmachtung all jener, die Hitler an die Macht verholfen hatten, kein Weg vorbeiführt. Niedergeschrieben in programmatischen Verlautbarungen wie dem »Prager Manifest« der exilierten SPD aus dem Jahre 1934.

Da war der Konflikt mit dem Parteivorstand, mit dem seit der Weimarer Republik unerbittlichen Anti-Kommunisten Kurt Schumacher zwangsläufig. Erst recht vor dem Hintergrund der angestrebten Vereinigung von SPD und KPD, die Schumacher im Westen verhindern konnte. Als dann Mitte der 50er Jahre die Wiederaufrüstung auf der bundesdeutschen Agenda stand und die SPD ihre Stellung zur Bundeswehr positiv in deren Sinne anzupassen begann, war die Trennung unausweichlich. Gleißberg trat als Chefredakteur des Neuen Vorwärts zurück, der ab 1. Januar 1955 wieder wie früher nur Vorwärts hieß, und wurde 1956 aus der SPD ausgeschlossen.

Doch er blieb ein Stachel im Fleisch der großen Partei, die bis dahin der Mittelpunkt seines politischen Lebens gewesen war. Von Mai 1955 bis Februar 1969 erschien die von ihm gegründete und zusammen mit dem ebenfalls ehemaligen Vorwärts-Redakteur Rudolf Gottschalk als Herausgeber und Chefredakteur geleitete Wochenzeitung Die Andere Zeitung in Hamburg. In ihr fand koexistentielles Gedankengut eine für die damalige Zeit einsame Heimat, ebenso wie zahlreiche namhafte Linksintellektuelle. Auch Ossietzky-Mitherausgeber Otto Köhler machte hier seine ersten journalistischen Gehversuche, mit einem Bericht über seine Erlebnisse bei einem Fallschirmjägertreffen in den Würzburger Hutten-Sälen.

Der Erfolg der Zeitung – unbelegte Angaben nennen eine Auflage von zeitweise 80.000 Exemplaren – und ihr Einfluß auf Neutralisten, Pazifisten, Atomtod-Gegner, Christen, Marxisten, Radikaldemokraten, »bürgerliche Ost-Kontaktler« und »sonstige Links-Abweichler« (Der Spiegel) bis in die sozialdemokratische Mitgliedschaft hinein ließen bei der SPD-Führung die Alarmglocken schrillen und die Gegnerschaft wachsen. Erst recht, als im Dezember 1960 unter Führung der Professorin Renate Riemeck die Deutsche Friedens-Union gegründet wurde, dies auch mit dem Ziel, bei der Wahl zum 4. Deutschen Bundestag am 17. September 1961 anzutreten. Beim Gründungskongreß saß Gerhard Gleißberg mit im Konferenzpräsidium. (Ergebnis der DFU bei dieser Wahl: 609.918 Zweitstimmen, 1,9 Prozent.)

Das Etikett einer Finanzierung durch Ostberlin, durch »Pankow«, und einer kommunistischen Steuerung der neuen Partei und der Anderen Zeitung war da fast zwangsläufig. Die DFU wurde als »kommunistische Tarnorganisation« unter anhaltender Verbotsdrohung ein Fall für den Verfassungsschutz. Und der »wegen notorischen Linksdralls von der SPD geschaßte Dr. Gerhard Gleißberg«, so der Spiegel am 23. August 1961 in einer zehnseitigen Titelgeschichte über die DFU, war fortan für das offizielle westliche Deutschland nur noch der »Volksfront-Ideologe« und Chefredakteur eines »ultralinken Hamburger Wochenblatts« (Der Spiegel).