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Titel515

Der Untergang des Morgenlandes  (Hermann Wollner)

Seit dem Zusammenprall der Perser mit den Griechen einerseits und den Indern andererseits erlangte die antike Welt eine solche Ausdehnung und gleichzeitig einen solchen geistigen Zusammenhang, daß sie die himmels-geographischen Richtungen von Sonnenaufgang und Sonnenuntergang zur Bezeichnung ihrer kulturellen Verschiedenheit nutzte. Alle Landstriche, in denen man Persisch, Aramäisch oder Ägyptisch (Koptisch) sprach, gehörten zum Morgenland, und alle Territorien, in denen man Griechisch sprach, gehörten zum Abendland. Bis weit nach dem Untergang des (West-)Römischen Reiches bestand kein Grund, diese Himmelsrichtungs-Benennungen mit anderen als folkloristischen Unterschieden (Sprache, Tracht, Namen der Götter) in Verbindung zu bringen. Ob Römer, Griechen, Syrer oder Perser – alle lebten von Ackerbau und Viehzucht und betrieben vielfältige Gewerbe mit Geschick. Architektonische Relikte gelten uns auch heute noch als Beweise des (gleich) hohen kulturellen Standes dieser Völker. Ehe auch nur ein abendländisches Schiff sich etwa bis Thule wagte, hatten die Phönizier schon Afrika umrundet und die Perser Handelskolonien auf Sansibar und an der ostindischen Küste. Die Kunst der Bewässerung beherrschten babylonische und ägyptische Ingenieure bereits, als die Abendländer noch gar kein Wort für »Ingenieur« besaßen.


Im siebten Jahrhundert übernahmen Araber, unausgesetzt »Allah!« rufend, die Herrschaft im Morgenland und erweiterten es kräftig über Nordafrika bis Spanien und Sizilien. Die einwohnenden Ägypter, Syrer, Perser übernahmen die Sprache als Verkehrsmittel, aber behielten selbstverständlich ihre kulturellen und technischen Werte und Güter in der nun morgenländisch-islamischen Welt. Ihr Pech war, daß sie sich mit dem ererbten Wissen begnügten; zu wenig Neugier entwickelten. Auf einem Gebiet nach dem anderen gerieten die Morgenländer wortwörtlich ins Hintertreffen. Die Franken lernten das Damaszieren der Schwerter, die Spanier lernten den Anbau medischen Klees (Luzerne) und persischer Äpfel (Pfirsiche), und die Italiener bauten 300rudrige Schiffe, mit denen im elften Jahrhundert Heerscharen fränkischer Ritter ins syrische Morgenland gerudert wurden. Syrische Christen stellten die Fußtruppen für die abendländischen Ritter im Kampf gegen islamische Emire. Das hatten die Muslime nicht vergessen, als sie Antiochia und Edessa zurückeroberten.


Während im Abendland ab dem zehnten Jahrhundert unzählige Klöster und immer neue Universitäten Erfahrung und Wissen akkumulierten, gab es im ganzen Morgenland nur eine Handvoll derartiger Einrichtungen. Dort wurde immer noch mit Federkielen auf Pergament und Papyrus geschrieben, als man im Abendland schon auf leicht herstellbarem Papier und im Druckverfahren Bücher aller Wissensgebiete europaweit verbreitete. Die Schmiede des Morgenlandes brachten es im Bearbeiten von Silber und Gold zu großer Meisterschaft, aber die massenhafte Herstellung von Eisen und Schiffen war westliches Know-how. Dicht- und Erzählkunst, Musik und »Damast«-Seidenweberei auf hohem Niveau waren kein Ersatz für geometrisch kalkulierte Gebäude, Mauern, Maschinen und Meeresfahrzeuge. Die Araber hatten den Abendländern ihre arabischen Ziffern und das methodische Rechnen (»nach al-Gorithmus«) gemäß ihrem großen Mathematiker al-Ḫawārizmī (813–864) beigebracht – und machten selbst zu wenig Gebrauch davon. Während im Abendland von Laien erkannt wurde: »Zeit ist Geld«, zitierten die Morgenländer, gemütlich Pfeife rauchend: »Allah hat die Zeit erschaffen; von Eile hat er nichts gesagt.« Das Wissen abendländischer Mediziner wurde alsbald in lateinisch gedruckten Büchern über ganz Westeuropa verbreitet – Ärzte vermochten so »Gott zu spielen« – im Morgenland blieb es dabei: »Es ist Allahs Wille, ob ein Mensch gesund wird oder stirbt.« In gelehrten Zeiten, die zu allem und jedem einen »Ismus« bilden wollten, nannte man diese Weltanschauung Fatalismus (Schicksalsergebenheit).


Irgendwann schlägt Quantität in Qualität um. Reisefreudige (englische) Abendländer, deren Glaube Geschäftstüchtigkeit hieß, bewogen beispielsweise den persischen Padischah im 18. Jahrhundert dazu, ihnen das Monopol auf den Tabakaufkauf zu übertragen, während das Erscheinen muslimischer Händler auf einer europäischen Messe eine Ausnahme blieb. Die Abendländer bauten im 19. Jahrhundert zwischen Port Said und Suez einen Kanal, aus dem sie blankes Gold schöpfen konnten, während die einheimischen Karawanen zusätzlich einen Fährzoll zu entrichten hatten. Im 20. Jahrhundert gab es im Morgenland keine Baustelle ohne abendländische Technik, keine Straße ohne Autos aus abendländischer Produktion. Das »islamische« Manufakturwesen hatte gegen die »christliche« Industrie verloren.


Und nun wissen Sie, welches Land wirklich »untergegangen« ist.