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Titel516

Streit über den Schatten  (Ralph Hartmann)

Über das reiche, prosperierende Deutschland, das Land mit den blühenden Landschaften, mit dem freundlichen Gesicht hat sich ein Schatten gelegt. Die sogenannte Flüchtlingskrise hält an. Die Auseinandersetzungen um die richtige Flüchtlingspolitik sind nicht beigelegt, im Gegenteil, sie verschärfen sich. Angst geht um, vor Überfremdung, islamistischer Gewalt und Kriminalität. Rechte Kräfte, aber auch solche, die sich in der Mitte dünken, und Medien schüren sie. Der Zustrom der Flüchtlinge ist das beherrschende Thema in der Öffentlichkeit und in privaten Gesprächen. Der Schatten wird länger und dunkler. Der Streit über ihn verdrängt Wesentlicheres. Neu ist das nicht. Schon vor mehr als zweieinhalb Jahrtausenden hat Äsop, griechischer Sklave und Fabeldichter, festgestellt: »Wenn wir über den Schatten streiten, übersehen wir das Wesentliche.«

Während in der Bundesrepublik und in den anderen EU-Staaten über die Flüchtlingsströme aus dem Nahen und Mittleren Osten, zunehmend auch vom afrikanischen Kontinent gebarmt und gestritten wird, werden andere Ereignisse und höchst gefährliche Entwicklungen von den meinungsbildenden Medien an den Rand gedrängt und der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit entzogen. Die wachsende Gefahr globaler militärischer Auseinandersetzungen, eines mit Atomwaffen geführten Krieges, ist, so scheint es, nicht selten aus dem Blick geraten. Der Streit wird über den Schatten geführt, das Wesentliche wird vielerorts übersehen. Dabei geschah und geschieht Wesentliches.


Der seit 2001 von den USA geführte »Krieg gegen den Terror«, die Aggressionen gegen Afghanistan und den Irak, die brutalen Einmischungen in Libyen und Syrien haben den Nahen und Mittleren Osten destabilisiert. Washington trägt die Hauptverantwortung für die Massenflucht aus dieser Region, aber keineswegs die daraus resultierende Hauptlast. Stattdessen dreht es an der Rüstungsspirale. Resultat: Die Periode der nuklearen Abrüstung ist zu Ende. Das atomare Wettrüsten ist wieder voll im Gange. Die Gefahr eines unvorstellbaren Infernos wächst.


In den zurückliegenden Jahrzehnten wurden zweifellos Fortschritte bei der atomaren Abrüstung erzielt. Doch trotz mehrerer Atomabrüstungsverträge – zuletzt das Anfang 2011 ratifizierte Start-III-Abkommen zwischen den USA und Russland, das die damalige US-Außenministerin Clinton gar als »Meilenstein in der strategischen Partnerschaft« der beiden Länder bezeichnete – bleibt die Welt ein hochexplosives Pulverfass, an das die Zündschnur schon gelegt ist. Noch immer – so das Friedensforschungsinstitut SIPRI aus Stockholm in seinem Jahrbuch von 2015 – existieren schätzungsweise 15.850 Nuklearwaffen. Russland besitzt davon 7500, die USA 7260. Über wesentlich weniger dieser Massenvernichtungswaffen verfügen Großbritannien, China, Frankreich, Indien, Pakistan, Nordkorea und Israel. Aber bereits eine geringe Anzahl von nuklearen Bomben und Raketen verfügt über ein unvorstellbares Vernichtungspotential. Allein nach dem Abwurf der ersten Atombombe mit dem lieblichen Namen »Little Boy« auf die japanische Küstenstadt Hiroshima kamen 90.000 Menschen sofort um, weitere 50.000 verstarben innerhalb weniger Wochen an der Strahlenkrankheit. Wie gesagt, das war die erste Atombombe.


Die B61-Kernwaffen, die im rheinland-pfälzischen Bundeswehrstützpunkt Büchel lagern, haben eine 13fach größere Sprengkraft als »Little Boy«. Zurzeit werden sie »modernisiert«. Im Vergleich zu den Wasserstoffbomben, die zu Beginn der 1960er Jahre in den USA und in der Sowjetunion entwickelt wurden, sind sie ihrerseits »little boys«. Viele »moderne« Raketen verfügen über mehrere nukleare Sprengköpfe, die in großer Höhe von der Trägerrakete getrennt werden und sich auf eine weite Fläche verteilen. Zum Beispiel kann die russische SS-18 Satan ihre Sprengköpfe über ein Areal von bis zu 60.000 Quadratkilometern verteilen. Auch die Deutschen wissen von dieser existenzbedrohenden Gefahr. Aber sie streiten über die Schatten, anstatt gegen das Teufelszeug aufzustehen. Im Gegenteil, viele verdrängen die latente Bedrohung, die gegenwärtig immer akuter wird.


Da gibt es die irren Pläne, sich vor den Kernwaffen des vermeintlichen Kriegsgegners zu schützen. Bereits 2008 waren Washington und Warschau übereingekommen, in Polen ein Raketenschild zu errichten. Inzwischen wurde ein technisches Abkommen zur Etablierung einer Raketenabwehrbasis im polnischen Redzikowo geschlossen, die bereits 2018 einsatzbereit sein soll. Moskau sieht darin den Versuch, Russlands nukleares Abschreckungspotential zu neutralisieren. Folgerichtig kündigte Putin an, dass Russland Waffen entwickeln würde, die kein US-amerikanisches Raketenschild aufhalten könne. Wie brandgefährlich sich die internationale Lage zugespitzt hat, zeigte sich auch auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz. Während Jens Stoltenberg, Generalsekretär der NATO, Russland offen drohte: »Unsere Abschreckung hat auch eine nukleare Komponente«, konstatierte der russische Premier Dmitri Medwedew: »Die Beziehungen Russlands und der NATO sind auf das Niveau der Zeiten des Kalten Krieges zurückgeglitten« (ntv.ru/novosti/1605541, übersetzt aus russischem Original R. H.).


Als der Friedensnobelpreisträger Obama 2009 verkündete, dass »die Vereinigten Staaten konkrete Schritte in Richtung einer Welt ohne Atomwaffen unternehmen (werden)«, keimte bei nicht wenigen die Hoffnung auf rasche Fortschritte bei der atomaren Abrüstung. Doch nur sechs Jahre später, im Juni 2015, gab sein Verteidigungsminister Ashton Carter ein neues Handbuch »Gesetz des Krieges« heraus, in dem die »legitimen« Handlungsweisen bei militärischen Auseinandersetzungen dargelegt werden. Danach ist der Einsatz geächteter Waffen wie Streumunition und Atomwaffen gegen »militärische Ziele« vorgesehen. Mehr noch: Gemäß den Richtlinien ist selbst die Massentötung von Zivilisten dann erlaubt und legal, wenn die zuständigen US-Offiziere die Angriffe auf zivile Ziele für militärisch notwendig und erfolgversprechend halten. Noch deutlicher wurde Carter im Spätherbst 2015 bei einem verteidigungspolitischen Forum in der Ronald Reagan Presidential Library. Hier bezeichnete er die Abschreckung Russlands durch stärkere Investitionen in Atomwaffen sowie Kampfjets und -drohnen als das Hauptziel der Verteidigungsstrategie der USA. Dazu gehöre »selbstverständlich die Modernisierung des nationalen Atomwaffenarsenals«.


Ziel der »Modernisierung« ist es unter anderem, die Waffen »kleiner« und »smarter« zu machen. Das klingt nahezu sympathisch. Allerdings weisen Washingtons Nuklearstrategen darauf hin, dass kleinere Kernwaffen präziser sind, wodurch die Schwelle sinkt, sie auch einzusetzen. Einer dieser Strategen, der ehemalige Kommandeur der US-Nuklearstreitkräfte General James Cartwright, machte daraus auch keinen Hehl und erklärte frei heraus, »was kleiner wird, dessen Einsatz wird auch vorstellbarer«. Verkleinert, leichter und mit mehr Elektronik ausgestattet wurde in einem aufwändigen Forschungs- und Experimentierprogramm vor allem die Bombe B61, die jetzt B61-12 heißt. Eine derartige »Modernisierung« ist auch für fünf weitere Bombentypen im Gange.


Nachdem die USA die neue B61-12-Bombe im Juli 2015 erstmals erprobt hatten, verurteilte Russland diesen Test umgehend als »Provokation« und warnte vor einem neuen Wettrüsten. Der Vize-Verteidigungsminister Russlands, Anatoly Antonow, unterstrich, dass die neue und kleinere Atomwaffe auch von in Europa stationierten NATO-Truppen verwendet werden könnte. In den USA wurde bereits zwei Jahre früher gewarnt. Die ehemaligen Mitglieder des Nationalen Sicherheitsrates Philip Coyle und Steve Fetter charakterisierten die »Modernisierung« als einen »Verstoß gegen die Zusage der Regierung, keine Atomwaffen zu entwickeln und einzusetzen«. Gemeinsam mit der Federation of American Scientists wiesen sie besorgt darauf hin, dass höhere Präzision und geringere Sprengkraft dazu führt, die Bombe tatsächlich auch einzusetzen.


Russland verfolgt diese Entwicklung mit wachsender Besorgnis und ergreift seinerseits nicht minder gefährliche Gegenmaßnahmen. Dazu gehören die Drohung, im Falle einer weiteren »Schwerpunktverschiebung« der NATO gen Osteuropa, Nuklearwaffen in die russische Exklave Kaliningrad zwischen Polen und Litauen zu verlegen, wie auch die Ankündigung Putins, 40 neue Interkontinentalraketen anzuschaffen, die mit atomaren Sprengköpfen bestückt werden können.


Parallel zur Wiederaufnahme des atomaren Wettrüstens zwischen den Atommächten USA und Russland betreiben einige osteuropäische Staaten ein gefährliches Spiel. Das Parlament des Nicht-NATO-Mitglieds Ukraine hat im Sommer 2015 in erster Lesung ein höchst brisantes Gesetz beschlossen, wonach die Stationierung von Kernwaffen auf dem ukrainischen Staatsterritorium erlaubt ist (s. Ossietzky 16/2015). Mit Hilfe dieses Gesetzes kann das Land zu einem vorgeschobenen Stationierungsgebiet für die Kernwaffen der USA werden. Der NATO-Staat Polen dagegen würde sich am liebsten, wenn auch auf Umwegen, selbst atomar bewaffnen. Sein Verteidigungsminister Tomasz Szatkowski hat am 6. Dezember 2015 erklärt, dass sein Kabinett offen darüber nachdenke, die NATO im Rahmen der »nuklearen Teilhabe« um die Verlegung von Atombomben gegen die »russische Bedrohung« zu bitten. Der Minister ergänzte damit den nationalkonservativen Präsidenten Andrzej Duda, der vier Monate zuvor in einem Interview mit der Financial Times richtungsweisend erklärt hatte: »Wir wollen keine Pufferzone sein. Wir wollen die richtige Ostflanke der Allianz sein.«


Je lauter die Atom-Kriegstrommel geschlagen wird und die USA um jeden Preis Russland auf die Knie zwingen will, desto mehr wächst die Gefahr, dass die alten und die »modernisierten« tödlichen Waffen zum Einsatz kommen. Es genügt auch schon, dass ein Fehlalarm ausgelöst wird – in der Vergangenheit hat es dafür Beispiele gegeben – oder dass einem Staatsmann beziehungsweise einem hohen Befehlshaber die Nerven durchgehen, und schon könnte das unvorstellbare Unheil seinen Lauf nehmen.


So ist es alles andere als zufällig, dass der Vorstand der angesehenen Zeitschrift Bulletin of Atomic Scientists seit Januar 2015 die Doomsday Clock, die sogenannte Weltuntergangsuhr, auf drei Minuten vor Zwölf gestellt hat. Letztmalig war das 1984 geschehen, als die Beziehungen zwischen NATO und Warschauer Vertrag wegen der Raketennachrüstung aufs Äußerste angespannt waren. Damals konnte die Uhr noch rechtzeitig angehalten werden. Und heute?


Obwohl es gegenwärtig in der BRD scheinbar kein wichtigeres Thema als die Flüchtlingsströme gibt, fragt sich doch so mancher wachsame Zeitgenosse, was das nur für gewissenlose Menschen sind, die die nukleare Überrüstung vorantreiben. Vielleicht kann der eingangs zitierte Fabeldichter bei der Beantwortung dieser Frage behilflich sein. Er schrieb: »Auf Zeus‘ Befehl schuf Prometheus Menschen und Tiere. Als aber Zeus sah, dass der Tiere weit mehr waren als Menschen, befahl er ihm, einige Tiere zu Menschen umzuformen. Prometheus tat wie ihm geheißen, und so kommt es, dass mancher zwar eine menschliche Gestalt hat, aber eine tierische Seele.«