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Titel518

Bemerkungen

Grüne Profite

In dem vielsprachigen Dokumentarfilm »The Green Lie« (mit deutschen und englischen Untertiteln) agiert ein wunderbares Duo, der Regisseur Werner Boote, ein gemütlicher und immer etwas gutgläubig wirkender Österreicher, und die Autorin Kathrin Hartmann, eine blitzgescheite und scharfzüngig argumentierende Süddeutsche. In den von ihnen geführten Interviews kommen sowohl jene zu Wort, die multinationale Konzerne leiten und behaupten, sie würden nachhaltig produzieren und fair handeln, als auch jene, die sich vor Ort, in der sogenannten Dritten Welt, gegen Konzernstrategien wehren, welche die Lebensbedingungen der indigenen Bevölkerung zerstören (daher auch die Vielsprachigkeit des Films). Es ist schon erstaunlich, wie einige der Konzernchefs offen zugeben, dass das kapitalistische Profitsystem selbst sie letztlich zu ihrem Mensch und Natur vernichtenden Handeln zwingt. Der einzelne Kapitalist ist eben, wie Marx im Vorwort zum »Kapital« betont, lediglich »die Personifikation ökonomischer Kategorien« und als Person keineswegs verantwortlich für »Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag«. Das ist auch der große Vorzug des Films, dass er an keiner Stelle moralisiert und gegen die gängige Rede, letztlich seien die Konsumenten dafür zuständig, was sie kaufen, darauf verweist, dass genau damit die Konzerne aus ihrer Verantwortung entlassen werden. Dass der Film zudem ein wirkliches Kunstwerk ist, dafür steht eine ausgezeichnete Kameraführung, die uns in bewegenden Bildern zerstörte Natur und nur hübsch ausschauende Monokultur zeigt, entschlossen kämpfende und zugleich schöne Menschen. Ein sehenswerter Film auf der Grundlage eines lesenswerten Buchs.

 

Der Film, auf der Berlinale gezeigt, läuft ab Mitte März in den Kinos.

 

Das Buch ist schon erschienen: Kathrin Hartmann, Die grüne Lüge. Weltrettung als profitables Geschäftsmodell. Karl Blessing Verlag München, 239 Seiten, 15 Euro.     

          

Thomas Kuczynski

 

 

 

Du holde Kunst

Falls Ihre Aquarelle im Stiegenhaus der Gemeindekanzlei von Attnang-Puchheim nicht ganz so viel Anklang finden, wie Sie gedacht hätten, so liegt es vielleicht nicht nur daran, dass die Ausstellung in Vertretung des Bürgermeisters vom Stadtrat für Veterinärwesen eröffnet worden ist. Falls Ihr erster Gedichtband praktisch ohne Resonanz bei den Lektoraten der Publikumsverlage geblieben ist, so liegt das vielleicht nicht nur an den unreinen Reimen. Falls man Sie mit Ihren Songs nicht einmal in der Pielachtal-Halle in Ober-Grafendorf auftreten lässt, so liegt das vielleicht nicht nur an dem in diesem Lande grassierenden Provinzialismus.

 

Nachstehend daher ein paar einfache, aber erfolgversprechende Tipps und Ratschläge für eine steile Karriere im heimischen Kunstbetrieb:

Plastikspritzpistole in Penisform, mindestens 30 Zentimeter lang, mit Grünem Veltliner laden und den Abzug vorzugsweise im Foyer des Salzburger Festspielhauses aus- und andauernd betätigen, am besten ein paar Minuten vor einer wichtigen Premiere. »Kunst hat immer auch etwas Tragisches an sich.« (Christian Schachinger in der Tageszeitung Der Standard)

 

Programmieren Sie eine App zur Messung der großen Leere in uns allen, und stellen Sie sie Ihren Freunden auf Facebook zur Verfügung. Bedenken Sie aber, dass wirkliche Künstler in der Regel keine Freunde, sondern nur Gegner haben.

 

Interviewen Sie den verstorbenen Schriftsteller Wolfgang Bauer – keine Angst vor Seancen, wenn sie gut geplant und durchdacht sind –, und bieten Sie ein etwaiges Tonband der Presse an.

 

Treten Sie mit Falcos Fußpfleger in Kontakt, um die Batterien Ihrer (Künstler-)Seele wieder aufzuladen.

 

Interviews geben Sie von nun an bitte ausschließlich auf einem elektrischen Stuhl bei sich zu Hause.

 

Manfred Wieninger

 

Der Autor Manfred Wieninger stellt seinen neuen Roman »Aasplatz. Eine Unschuldsvermutung« im Gespräch mit Eleonore Lappin-Eppel vor. Moderation: Jessica Beer (Residenz Verlag). Mittwoch, 21. März, 18.30 Uhr, Altes Rathaus, Wipplingerstraße 6, Wien.

 

 

Unsere Zustände

Bürokratie ist die Einschläferung des Menschen durch Gesetze.

 

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Ein Versprechen in der großen Politik hat heute nur noch grammatikalischen Wert. Im günstigen Fall kann man daraus einen Versprecher machen.

 

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Das Fragezeichen in den politischen Berichten der Medien ist längst zu einem Markenzeichen der Vorverurteilung geworden.                              

 

Wolfgang Eckert

 

 

 

Neues aus Katalonien

Derzeit prüft das Kultusministerium in Madrid die Möglichkeit, an den Schulen in Katalonien Unterricht auf Kastilisch anzubieten. Diese Ankündigung entfesselte in Katalonien einen Sturm der Entrüstung. Der Ex-Regierungschef Carles Puigdemont warnte, damit gebe die spanische Regierung dem Nationalismus neue Nahrung und spalte die Schülerschaft. Sein Vertreter, Oriol Junqueras, er befindet sich noch immer in Haft, rief zur Verteidigung der katalanischen Kultur auf. Eine Lehrergewerkschaft drohte bereits mit Streik.

 

Bei dem Streit geht es um eine ältere tiefe Wunde, die das Franco-Spanien hinterlassen hat. Die katalanische Sprache ist ein Fundament der Kultur der Katalanen. Der Faschist Francisco Franco unterdrückte sofort nach seinem Sieg über die Zweite Spanische Republik die katalanische Sprache. Erst nach seinem Tod 1975 und dem Neubeginn erhielten Katalonien und das Baskenland die Zuständigkeit für Kultur und Sprache.

 

Heute ist Katalonien neben Grönland die einzige europäische Region, wo an staatlichen Schulen die Sprachimmersion gesetzlich vorgeschrieben wird. An den katalanischen Schulen werden alle Fächer in katalanischer Sprache unterrichtet, in nur zwei Fächern, darunter Literatur, ist Kastilisch die Unterrichtsprache.

 

Nun wollen sich die Politiker der Partido Popular, auch Ministerpräsident Mariano Rajoy und seine Stellvertreterin Soraya Sánchez de Santamaría, profilieren. Mit dabei auch die bürgerliche Ciudadanos Partei.

 

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Carles Puigdemont verzichtet auf die Wiederwahl zum Präsidenten von Katalonien. In einer Videobotschaft, von den sozialen Netzen und spanischen Fernsehsendern am 1. März ausgestrahlt, sagte er: »Ich habe heute dem Präsidenten des Parlaments von Katalonien mitgeteilt, dass ich vorläufig meine Kandidatur zum Präsidenten der Generalität von Katalonien zurückgezogen habe.« Als neuen Präsidentschaftskandidaten für Katalonien schlägt er den Präsidenten der Katalanischen Nationalversammlung Jordi Sànchez vor. »Sànchez ist die Nummer zwei auf unserer Kandidatenliste und repräsentiert die Werte von Junts per Catalunya [Wahlbündnis ›Gemeinsam für Katalonien‹]. Er ist ein Mann des Friedens, der zu Unrecht in einem spanischen Gefängnis eingesperrt ist«, begründete Puigdemont seinen Vorschlag. Sànchez twitterte: »Es ist eine große Ehre und eine enorme Verantwortung, die Menschen von Katalonien zu repräsentieren.«

 

Puigdemont ignoriert mit seinem Vorschlag die Meinung der spanischen Zentralregierung, dass jemand, der sich wegen mutmaßlicher Rebellion und Volksverhetzung in Untersuchungshaft befinde, die Präsidentschaft nicht übernehmen könne. Ministerpräsident Mariano Rajoy hatte bereits verkündet, dass Katalonien solange gemäß Artikel 155 von Madrid aus regiert werde, bis es einen wählbaren Kandidaten gebe.

 

Die Partei Esquerra Republicana de Catalunya schlägt vor, Puigdemont solle symbolisch die Präsidentschaft übernehmen. Darüber wird demnächst im Parlament in Barcelona beraten.

 

Karl-H. Walloch

 

 

Einspruch: Grottians Denkfehler

In Ossietzky 4/2018 versteht Peter Grottian in seinem Beitrag »Wagenknechts und Lafontaines Denkfehler« den Impuls von Wagenknecht und Lafontaine für eine linke Sammlungsbewegung als eine Hoffnung auf eine »linke Parteienbewegung«. Das interpretiert er eigenwillig. Die linke Partei als Bewegung zu vergrößern war schon 2007 gescheitert, als die Vereinigung von PDS und WASG allzu wenige Linksoppositionelle aus anderen Parteien anziehen konnte. Oskar Lafontaine erklärte am 30. Dezember 2017 die neue Idee so: »Diejenigen, die über die Parteigrenzen hinaus wieder mehr soziale Gerechtigkeit in Deutschland wollen, müssten eine linke Sammlungsbewegung gründen. Diese Bewegung sollte nicht nur die klassischen Parteien, sondern auch Gewerkschafter, Sozialverbände, Wissenschaftler, Kulturschaffende und andere umfassen.«

 

Eine Bewegung ist keine Partei, sondern arbeitet wie eine Nichtregierungsorganisation. Wer mit dem Anspruch auf Demokratie feststellt, wie der Mehrheitswille von den parlamentarischen Repräsentanten missachtet wird, erlebt das Wechsel-bad von Empörung und Resignation: Mehr soziale Gerechtigkeit mit Verteilung von unten nach oben? Weitere militärische Auslandseinsätze? Weitere Waffenexporte? Keine Ächtung der Atomwaffen als UNO-Beschluss und Akzeptanz ihrer Lagerung in Deutschland? Große Umfragemehrheiten stehen für das Gegenteil des jeweiligen Parlamentsbeschlusses. Es soll deswegen um eine Sammlung »all derjenigen« gehen, »die mehr soziale Gerechtigkeit wollen und für eine friedliche Außenpolitik eintreten«.

 

In einer Diskussion auf Bezirksebene der Linkspartei in Hamburg wurde deutlich, dass überparteiliche Vernetzung mit sozialen Bewegungen und den oben zitierten Gruppen der Weg einer linken Sammlungsbewegung sein muss. Manches geschieht schon, aber viele Fragen sind noch offen und sollen sich aus der Praxis ergeben. Zur Konsensfähigkeit dürfen Themen allerdings nicht die Breite eines Parteiprogramms haben oder diffus für mehr Demokratie werben, sondern müssen sich auf Forderungen einer Massenbewegung konzentrieren.

 

Manfred Lotze

 

 

 

Erhard Hexelschneider

Kürzlich haben wir unseren am 24. Januar verstorbenen Kollegen und Freund, den Slawisten Erhard Hexelschneider, an seiner Grabstätte im ostsächsischen Lohmen verabschiedet. Es gibt gute Gründe, an das Lebenswerk dieses Mannes zu erinnern – denn es war einem großen Thema gewidmet: den Beziehungen zwischen Russen und Deutschen, vor allem in der Literatur, aber auch in den anderen Künsten, im Museumswesen. Dieses Erbe gilt es in Zeiten, wo in der »großen« Politik erneut russlandfeindliche Töne zu vernehmen sind, lebendig zu halten.

 

Hexelschneider gehörte zu denjenigen Gelehrten der Leipziger Universität, die in der Nachwendezeit »abgewickelt« wurden. Doch er resignierte nicht – im Gegenteil: Er nutzte die gewonnene Zeit, um nun erst recht einigen seiner Lieblingsthemen zu folgen – und seine Erkenntnisse unter die Leute zu bringen.

 

Es entstand beispielsweise ein Büchlein über Dresden, dessen Titel ein Wort von Dostojewski aufnahm: Der hatte die Elbestadt einst einen »Schatz in der Tabaksdose« genannt. In den einzelnen Kapiteln lässt der Verfasser die einstigen Gäste Dresdens und ihre Äußerungen Revue passieren: von der Zeit Peters I. über Dichter wie Shukowski, Küchelbecker, auch einen Bakunin und weiter über Turgenjew und Gogol bis zu Lew Tolstoi, Rachmaninow und Rubinstein, schließlich Zwetajewa …

 

Im Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen zu Dresden fand E. H. in dem Briefwechsel zwischen Iwan Zwetajew und Georg Treu den Nachweis dafür, dass das Dresdener Albertinum einst bei der Gründung des Moskauer Puschkin-Museums Pate gestanden hat. Ein opulent ausgestatteter Band mit dem Titel »In Moskau ein kleines Albertinum erbauen« erlaubt es, diesen Vorgang nachzuvollziehen.

 

Wie umfassend das wissenschaftliche Interesse des E. H. war, zeigt sich darin, dass er auch in den Rosa-Luxemburg-Forschungsberichten mit drei Titeln vertreten ist, in denen das Verhältnis der Luxemburg zu den Künsten, zu Leipzig und zu Maxim Gorki behandelt wird.

 

Doch vergessen wir nicht – Hexelschneider war Leipziger. Ihm entging nicht, dass sich mit dem Zuzug zahlreicher zumeist deutschstämmiger Aussiedler aus Russland auch der Interessentenkreis für die von ihm gepflegte Thematik stark erweitert und verändert hatte. Und es dauerte nicht lange, so machte er entsprechende Vortragsangebote und legte beispielsweise im Jahre 2011 ein von ihm und einigen anderen Autoren verfasstes Buch »Russen in Leipzig« vor – eine kleine Enzyklopädie jener zahlreichen Persönlichkeiten, die bei der Pflege deutsch-russischer Beziehungen in der Messestadt eine Rolle gespielt haben.

 

Auch die Kunstszene Leipzigs verdankt nicht zuletzt Hexelschneider einen wichtigen Impuls. Zusammen mit einigen Künstlern aus Russland und der Ukraine sorgte er im Herbst 2005 dafür, dass im geräumigen Oberlichtsaal der Leipziger Stadtbibliothek unter dem Titel »Brückenschlag« eine erste Ausstellung dieses Kreises stattfinden konnte.                                   

 

Willi Beitz

 

 

Seelenverwandt

Lew Kopelew liebte die deutsche Literatur und ihre Dichter, er war ein großer Menschenfreund, und so mag es für ihn ein Zeichen gewesen sein, dass er Christa Wolf an einem privaten Abend bei Anna Seghers kennenlernte. Obwohl sich die Seghers und Kopelew leidenschaftlich gestritten hatten, umarmten sie sich am Ende herzlich. Der Russe blieb seiner Verehrung für die Schriftstellerin ein Leben lang treu, genauso seinen neuen Freunden Gerhard und Christa Wolf. Als er noch in der Sowjet-union lebte, tauschte er, der exzellente Kenner der deutschen Literatur und Goethe-Verehrer, sich mit den Wolfs intensiv über neu erschienene Bücher aus. Er schrieb Rezensionen unter anderem zu Gerhard Wolfs Bobrowski-Buch und zu Christa Wolfs »Kindheitsmuster«, das er ganz im Geiste des großen Goethe interpretierte. So wuchs eine Freundschaft zwischen den Familien, die andauerte, als die Kopelews nach Köln emigrierten. Man besuchte sich, und leider gibt es nur zu sehr wenigen Zusammenkünften Gedächtnisprotokolle oder Tagebucheintragungen, denn die Neujahrs- und Geburtstagskarten bezeugen zwar ein herzliches Verhältnis, aber den intensiven Gedankenaustausch pflegten sie wohl am Küchentisch. Einmal setzte Christa Wolf zu einem langen Brief an Raissa Orlowa an, um ihr zu erklären, warum sie in der DDR geblieben sind. Der Brief wurde nie abgeschickt.

 

Tanja Walenski aber hat alles in ihrem Buch gesammelt, was über das Verhältnis der vier Auskunft gibt. Es ist sowohl ein Zeugnis inniger Verbundenheit von Seelenverwandten als auch eine Fundgrube für das Zeitgeschehen von 1969 bis 1997.            

 

Christel Berger

 

 

Christa Wolf, Lew Kopelew: »Sehnsucht nach Menschlichkeit. Der Briefwechsel 1969 – 1997. Dokumente, Texte und Fotos«, herausgegeben von Tanja Walenski, Steidl Verlag, 357 Seiten, 28 €

 

 

 

Klaus Haupt

Die Berliner Bevölkerung ist im letzten Jahr erneut gewachsen – um 41.308 Personen beziehungsweise 1,1 Prozent, teilte im Februar das Amt für Statistik Berlin-Brandenburg mit. Ende 2017 lebten in der Spreemetropole 3.711.930 Personen mit Hauptwohnsitz. »Wachstumstreiber« seien »weiterhin Ausländer, die es nach Berlin zieht«, bewertete die Berliner Zeitung online das Zahlenmaterial (www.berliner-zeitung.de). Das oben genannte Statistikamt berichtete: »Auffällig ist … das Geschlechterverhältnis: Bei den neu hinzugekommenen deutschen Einwohnerinnen und Einwohnern waren es 65 Prozent Männer, bei den neuen nicht deutschen Einwohnerinnen und Einwohnern lag der Anteil der Männer bei 51 Prozent.« Außerdem erfährt man amtlich, dass Pankow als erster Bezirk die 400.000-Einwohnermarke überschritten hat.

 

Im Februar erhielt die Berliner Wachstumseuphorie einen empfindlichen Dämpfer: Ein männlicher waschechter Berliner, wohnhaft in Pankow, ist gestorben: Klaus Haupt. Er wurde 1930 in Berlin-Charlottenburg geboren, an den Schulbesuch schloss sich eine Lehre als Rundfunkmechaniker an. Über den Prenzlauer Berg führte ihn sein Weg nach Pankow. Haupt war Volontär bei der Jugendwochenzeitschrift Start und der Berliner Zeitung und studierte an der Karl-Marx-Universität Leipzig Journalistik. Als Redakteur und Autor schrieb der Berliner für verschiedene Zeitungen, war Auslandskorrespondent in Prag und London. Und: Er war ein profunder Kisch-Kenner. Er spürte dem berühmten Reporter nach, interviewte Weggefährten, Verwandte, Kollegen …, forschte und publizierte zu Kisch. An Haupts kurzweiligen Texten unter anderem zu Kisch partizipierten auch die Ossietzky-Leser, man denke nur an »Caféhaus statt Wohnung« (8/2010) oder »Jeden Abend ab sechs beim ›Kelch‹« (4/2017).

 

Statistik bringt interessante Dinge hervor. Am Tag, als die Pressemitteilung zum Berliner Bevölkerungswachstum erschien, gab das Amt für Statistik auch eine Presseinformation mit dem Titel »Deutlich mehr Schweine in Brandenburg geschlachtet« heraus, wenige Tage später eine Meldung mit der Überschrift »Positive Bilanz im Berliner Gastgewerbe«. Ob das Amt auch erfasst, wie viele Berlinerinnen und Berliner einen Preis erhalten haben?

 

Klaus Haupt jedenfalls war Preisträger, und zwar des Werner-Klemke-Preises für echtes Berlinern und vorbildliches Berliner Benehmen, dotiert mit symbolischen 50 Mark. Insgesamt dreimal hatte Klemke den Privat-Preis an ausgewiesene politische und mit der DDR verbundene Menschen überreicht. Berlin hat statistisch gesehen einen männlichen waschechten Berliner Einwohner und Preisträger verloren. Darüber hinaus aber vor allem einen wunderbaren Journalisten, Kisch- und Berlin-Kenner.                       

 

Katrin Kusche

 

 

Wendts Dachgarten

Er war einmal Kind, Ringer, Traktorist und Bühnenarbeiter. Dann studierte das Kind ein bisschen Kulturwissenschaften und am Leipziger Literaturinstitut und wurde recht frühzeitig freier Autor; Stückeschreiber, genauer. Bald aber merkte dieser Albert Wendt, dass er eigentlich Humorist und Märchenautor war, er schrieb Kinderhörspiele und machte daraus Kinderbücher; manchmal war der Arbeitsprozess auch umgekehrt.

 

Jetzt erschien »Henrikes Dachgarten«, die Geschichte eines erstaunlichen zwölfjährigen Mädchens, das einen Freund Henne hat, mit dickem Bauch, Blumenkohlohren wie ein Ringkämpfer und einem kleinen Dachschaden. Die beiden legen einen Dachgarten an, sogar zwei Birken stehen eines Tages da; es wachsen allerlei Kräuter, Möhren und Erdbeeren. Henrikes Lehrerin, die diesem Treiben Einhalt gebieten soll, verliebt sich auf der Stelle in den Garten und genießt dort die Tage im Liegestuhl. Es gibt eine Ente und Küken und sogar ein Knurrvieh – natürlich ist vieles märchenhaft. Nur die Frau Hux, die den Buchstaben u gekauft hat, damit man nicht merkt, dass sie eine Hex ist, ist einer Gruselstory entstiegen. Sie will Ordnung, Sauberkeit und Pflichterfüllung; auch kennt sie die Hausbesitzer – kurz: Es gibt Konflikte, denn Wendt ist gelernter Dramatiker.

 

Linda Wolfsgruber hat den Dachgarten illustriert und wer beim Ton der Geschichte genau hinhört, merkt manchmal, dass Wendt auch bei Peter Hacks gelernt hat. Inzwischen ist er selbst ein angesehener, mit vielen Preisen ausgezeichneter Mann, der noch immer im Dorf Kleinpösna bei Leipzig lebt und soeben 70 Jahre alt wurde. Herzlichen Glückwunsch.            

            

Matthias Biskupek

 

 

Albert Wendt: »Henrikes Dachgarten – Das Wunder auf der Krummen Sieben«, Verlag Jungbrunnen, 96 Seiten, 14 €

 

 

 

Nase, Brust & Po

Man will es einfach nicht glauben …, aber in den letzten Jahren haben sich in meinem Gesicht einige Falten angesammelt. Kein Wunder bei dem Alter. Was soll ich machen gegen eine runzlige Stirn und dunkle Augenringe? Auch die Nase ist etwas groß geraten. Wie werde ich forever young? Fitness- und Diätprodukte, Selbsthilfebücher oder plastische Chirurgie bieten Hilfe an, und immer mehr Zeitgenossen verfallen diesem Schönheitswahn.

 

Angeblich sind nur noch zehn Prozent der deutschen Frauen mit ihrem Äußeren zufrieden. Den anderen 90 Prozent ist der Blick in den Spiegel eine Qual. Bei der kleinsten Falte geht es zum Schönheitschirurgen, und dann wird gestrafft, gespritzt und geschnippelt. Auch Männer geben Gas in Sachen Schönheit. Der perfekte Körper, den uns die Werbung immer vorgaukelt, ist längst zum Statussymbol in unserer Gesellschaft geworden.

 

Und was Herrchen und Frauchen recht ist, sollte dem Vierbeiner billig sein. Und so wird Bello aufgestylt. Fell frisieren, Krallen maniküren – das reicht längst nicht mehr. Hängende Ohren oder schiefe Beißerchen. Kein Problem, das lässt sich mit Skalpell und Zahnspange beheben. Schönheitsoperationen sind jetzt auch für Hunde zu haben. Sind wir tatsächlich auf den Hund gekommen? Nein, zum Kamel geworden. Neulich wurden bei einem Schönheitswettbewerb für Kamele in Saudi-Arabien einige Tiere disqualifiziert, weil ihre Besitzer sie mit Botox hübschgespritzt hatten.

 

Also stehe ich zu meinen Falten. Sind sie nicht Ausdruck einer Denkerstirn? Ich will nicht glatt sein. Glätte ist einfach charakterlos.                        

 

Manfred Orlick

 

 

Zuschriften an die Lokalpresse

Jetzt wissen wir aus der Welt am Sonntag vom 18. Februar verbindlich, wer in erster Instanz für die weiter um sich greifende Umweltverschmutzung verantwortlich ist: der Mensch. »Der Mensch ist der schlimmere Diesel«, überschreibt Hans Zippert das »Wort zum Sonntag«. Apropos Diesel – war der gleichnamige Kälteingenieur Rudolf D., der die mit Pflanzenölen betriebenen heißen Motoren erfand, nicht auch ein Mensch? Gut, der Mensch an sich mag zwar ein schlimmer Finger sein, aber kann er sich zu einem noch schlimmeren Diesel steigern? Das wirft einen neuen Blick auf den bei einer Fährüberfahrt nach England im Vorkriegsjahr 1913 im Ärmelkanal spurlos abgetauchten, in Paris geborenen Sohn deutscher Eltern. Hatte das unaufgeklärte Verschwinden Diesels schon mit der heraufziehenden Konkurrenz der Automobilbauer am noch vernebelten Horizont zu tun? Oder hat der Ingenieur aus Angst vor der automobilen Zukunft weitsichtig seine höchstpersönliche Null-Lösung betrieben? Und ist es wirklich durchsetzbar, was der Autor Zippert für einzig sinnvoll hält: ein Menschenverbot in allen deutschen Innenstädten? Verträgt sich das mit dem Grundgesetz? Nun können Autos zwar – wie wir wissen – längst auch ohne Menschen fahren, aber wird es einst auch Menschen ohne Autos geben? Na gut, vielleicht im unverbesserlichen Einzelfall, bei Altersgebrechen oder dann, wenn jemandem sein Vehikel geklaut worden ist, aber sonst? Und die wenigen Zweibeiner, die mit Elektromobilen durch die Landschaft brettern, tragen die zur Sicherheit zusätzlich doch noch eine Gasmaske? Fragen über Fragen! Apropos Elektromobile: Die Post stellte kürzlich mit großem Tamtam die ersten umweltfreundlichen Elektromobile vor, mit denen künftig die zweiten Fahrspuren verstopft werden sollen, während die uniformierten Zuträger mit glühenden Wangen und schmerzenden Waden zu ihren Kunden in die neunte Etage der Platte hochhechten. Ich habe gelesen, dass es sich bei den E-Fahrzeugen um Innovationen handeln soll. Das wundert mich. Als ich Mitte er 1950er Jahre hoffnungsvoll in Berlin herumstudierte und mir meine liebe Mutter die in die Wechselunterwäsche gewickelten Drei-Pfund-Brote vom Heimatbäcker Hempel aus Thüringen zusandte, kam der Paketzusteller mit einem klappernden Mobil angedüst, das seinen elektrischen Batterieinhalt gekonnt per Ketten auf die Räder übertrug. Ich sehe die gelben Schlitten mit dem Posthorn noch vor mir, die sich damals zwischen den von Pferden gezogenen schweren Müllwagen durchschlängelten. Aus heutiger Sicht müssten sich die Menschen, um wieder auf unsere Gattung zu sprechen zu kommen, mit Mundschutz und Sichtblende ausstatten, die Container-inhalte streng nach Haushaltabfällen und Hundekot trennen und die Abfallgüter persönlich über die Löcher im Asphalt in die Entsorgungszentren radeln. Das alles hat der Herr Diesel vielleicht vorausgeahnt und sich deshalb bei der Fahrt in das spätere Brexitland im Vorkriegsjahr des Weltkrieges prophylaktisch vorentschieden. Wer weiß?! – Bernhard Ungewiss (76), Spekulator im Unruhestand, 09356 Kuhschnappel

 

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Auch die Deutsche Post steht mitten im freiheitlich-demokratischen Leben. Sie erhöht mit Nachhaltigkeit die Beförderungsgebühren, schließt Filialen und fördert dadurch den gesundheitsdienlichen Langstreckenlauf älterer Mitbürger oder die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Auch die grafische Gestaltung der Briefmarken trägt den Erfahrungen und dem Lebensgefühl unserer Menschen realitätsnah Rechnung. So prangt auf einem 70-Cent-Wertzeichen in knallig rotgrünen Farben die stolze Feststellung »25 Jahre Tafel in Deutschland«. Welch sensible Ehrung der nebenamtlichen Selbstlosen! Wie mir Insider verrieten, sollen zum Jubiläum der Wiedervereinigung die Aufdrucke »30 Jahre Wiedervereinigung – 30 Jahre Obdachlose«, »30 Jahre westöstlicher Anschluss – 30 Jahre Kältetod« und »Was brauchen wir ein Innenklo – wir schlafen vor dem Bahnhof froh« in Vorbereitung sein. Ich finde es gut, dass die öffentlichen Behörden und die Künstler auf diese Weise Partei für den gesellschaftlichen Fortschritt ergreifen. – Sonny Furunkel (26), Obdachlosen-Praktikantin, 84398 Postmünster

 

Wolfgang Helfritsch