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Zehn Jahre davor  (Arno Klönne)

Das Geschäft mit der Erinnerung an »das tolle Jahr« oder wahlweise »das Jahr der Tollheit« floriert, und überwiegend erscheint dabei »1968« als plötzlicher Ausbruch von Protest in einer westdeutschen Gesellschaft, in der es bis dahin politisch ruhig zugegangen sei. Mit der historischen Realität hat diese Legende nichts zu tun. Zehn Jahre vor 1968 war die Bundesrepublik der Schauplatz eines massiven Konfliktes, in dem eine oppositionelle Massenbewegung den Regierungsbetrieb an den Rand der politischen Pleite brachte. Im Fokus der Auseinandersetzungen stand der Mehrheitsbeschluß des Deutschen Bundestages vom 25. März 1958, demzufolge »die Streitkräfte der Bundesrepublik mit modernsten Waffen ausgerüstet werden« sollten; gemeint waren Atomwaffen. Franz-Josef Strauß war der eifrigste Betreiber dieser »Modernisierung«; Konrad Adenauer sprach verharmlosend von einer »Weiterentwicklung der Artillerie«.

Die USA waren bereits dazu übergegangen, ihre westeuropäischen Verbündeten, auch die Bundesrepublik, mit Trägerwaffen für Atomraketen auszustatten, aber sie wollten den Schlüssel für die atomaren Sprengköpfe in der Hand behalten. Zudem hatte sich die Bundesrepublik bei ihrer Eingliederung in die NATO verpflichtet, auf die Produktion von ABC-Waffen zu verzichten. Diese Beschränkungen gedachte die Bonner Regierung aufzuknacken, die Bundesrepublik sollte nicht länger eine Militärmacht »zweiter Klasse« sein. Die Option für »modernste Waffen« war zugleich eine demonstrative Absage an alle östlichen und westlichen Vorschläge für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa, ein Angriff auf alle Konzepte der Rüstungsbeschränkung und Abrüstung.

Ein Signal zum Widerstand gegen diese aggressive Ausrichtung westdeutscher Politik war 1957 bereits von den »Göttinger Achtzehn« ausgegangen, den berühmtesten Atomphysikern des Landes. Im Verlauf des Jahres 1958 kam es dann zu einer Welle von außerparlamentarischen Aktionen, zu Massenkundgebungen, spontanen Proteststreiks, lokalen Volksbefragungen, alles unter der Parole »Kampf dem Atomtod«. Betriebsräte engagierten sich ebenso wie Schriftsteller, kirchliche Bruderschaften wie studentische Aktionsausschüsse. Ohne Zweifel standen damals die atomaren Rüstungspläne der regierenden Politik im Widerspruch zum Willen der Mehrheit der Bevölkerung. »Der Mob ist los in Deutschland« – so beschrieb auf seine Weise 1958 Bundesminister Theodor Blank (CDU) die Lage.

SPD-Führung und Gewerkschaftsvorstände trugen der Stimmung im Volke Rechnung und nahmen sich administrativ der oppositionellen Bewegung an – und engten eben dadurch deren eigene Dynamik ein. Als das Bundesverfassungsgericht einen Volksentscheid über die atomare Bewaffnung für unzulässig erklärte, gaben die Spitzen von SPD und DGB klein bei und ließen ihren »Kampf dem Atomtod« auslaufen. Es war die Zeit, als der in die Spitze der SPD aufgestiegene, als links geltende Herbert Wehner bereits die Anpassung seiner Partei an die außen- und militärpolitische Linie des »Adenauer-Staates« vorbereitete. Die Unionsparteien, Wirtschaftskreise, Rüstungsindustrie und aus dem »Dritten Reich« übernommene antikommunistische Meinungsbildner starteten einen flächendeckenden propagandistischen Feldzug gegen den »Atomdefätismus«, Rainer Barzels Komitee »Rettet die Freiheit« gab die Parole dafür aus.

Aber die außerparlamentarische Opposition gegen die atomare Aufrüstung war mit alldem nicht erstickt. Angeregt von der britischen Campain for Nuclear Disarmement entwickelte sich auch in der Bundesrepublik ab 1960 die Ostermarschbewegung; unter dem Namen »Kampagne für Demokratie und Abrüstung« gewann sie in den folgenden Jahren Hunderttausende von Bürgerinnen und Bürgern für ein friedenspolitisches Engagement, nun unabhängig von einer instrumentalisierenden Verwaltung des Protests durch SPD- und DGB-Führer. Die Bewegung der »1958er« erreichte, daß der Versuch von Franz Josef Strauß und seinen Freunden in Politik und Wirtschaft, die Bundesrepublik zur Atomwaffenmacht hochzuhieven, ohne Legitimation im öffentlichen Bewußtsein der Bundesrepublik blieb.

Warum an »58« heute, fünfzig Jahre danach, im deutschen Historienmarkt nicht erinnert wird? Die Antwort ist nicht schwer zu finden: Damit würde Aufmerksamkeit für die atomaren Waffensysteme geschaffen, nach denen deutsche Politiker und Militärs nach wie vor begehrlich die Hände ausstrecken. Inzwischen sind sie ihnen sehr nahe gekommen. Der Bundestag hat seinen Beschluß zur atomaren Ausrüstung der Bundeswehr nie aufgehoben.