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Titel0612

Aufruf »Castor? Schottern!« strafbar  (Hermann Theisen)

Mitte 2010 reihte sich in den jahrzehntelangen Widerstand der Anti-Atombewegung eine neue Protestform ein – die Aktion »Castor? Schottern!«. Sie versteht sich als Teil jener ebenso traditionsreichen wie vielfältigen Anti-Atombewegung in Deutschland, die nicht müde wird, auf die Sackgasse der Atomenergie hinzuweisen:
Am Anfang steht der Uranabbau, wobei riesige Mengen von radioaktivem Abraum entstehen, die das Grundwasser bedrohen. Es folgt die Urananreicherung und danach die Umwandlung des angereicherten Materials in Urandioxid, bevor im Atomkraftwerk durch die Spaltung von Urankernen Energie freigesetzt wird, um somit Strom zu gewinnen. Dabei entsteht ein radioaktiver Cocktail von mehr als 100 Spaltprodukten, darunter das hochgiftige Plutonium. Das Problem dabei ist, daß es einen störungsfreien Betrieb eines Atomkraftwerkes praktisch nicht gibt, da es immer wieder zu Unfällen, Verschleiß oder menschlichem Versagen kommen muß – zuletzt vor einem Jahr bei der großen Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima. Weitere ungelöste Probleme bestehen in der Gefahr terroristischer Angriffe auf Atomanlagen, dem Strahlungsrisiko bei Atomtransporten und bei der Wiederaufbereitung abgebrannter Brennelemente. Zudem besteht die Gefahr, daß das Abfallprodukt Plutonium zum Bau einer Atombombe verwendet wird, und schließlich ist die Entsorgung des Atommülls noch immer völlig ungelöst.

Vor diesem Hintergrund führt seit vielen Jahren jeder Castor-Transport ins niedersächsische Gorleben zu einem tagelangen Ausnahmezustand im gesamten Wendland, wo sich eine eindrucksvolle Protestkultur entwickelt hat, die von großen Teilen der Bevölkerung getragen wird. Gorleben gilt noch immer als ultimative Lagerstätte für Atommüll, auch wenn inzwischen feststeht, daß der dortige Salzstock hierfür denkbar ungeeignet ist, weil er nur teilweise durch eine Tondecke vom Grundwasser getrennt ist, weil er Risse aufweist und sich in ihm Laugennester befinden, deren aggressive Lauge die Atommüll-Behälter zerfressen kann.

Im Vorfeld des für Herbst 2010 geplanten Castor-Transports entstand die Idee, die wendländische Anti-Atombewegung mit der Aktion »Castor? Schottern!« zu ergänzen, wofür ein entsprechender Aufruf gestartet wurde: »Gemeinsam mit Hunderten, Tausenden Menschen, die aus unterschiedlichstem politischen und sozialen Alltag kommen, wollen wir am Transporttag auf die Schienenstrecke gehen. Wir sind entschlossen, die Strecke für den Atommüllzug unbefahrbar zu machen, massenhaft den Schotter aus dem Gleisbett zu entfernen, also die Gleise zu unterhöhlen und sie in kreativer Weise unpassierbar zu machen.« Fast 1.500 Personen und Gruppen unterzeichneten den Aufruf. Die Staatsanwaltschaft Lüneburg leitete gegen sämtliche Personen Ermittlungsverfahren ein, weil sie darin eine strafbare Handlung sieht. Jener gigantische Aktenberg führte ein Jahr später dazu, daß die meisten Verfahren wieder eingestellt werden mußten, weil es der Staatsanwaltschaft nicht gelang nachzuweisen, wer den Aufruf auch tatsächlich unterschrieben hatte. Die Ermittlungsmühle richtete sich fortan nur noch gegen jene Unterzeichner, die ihre »Tat« offen eingeräumt hatten. Am Ende wurden dann auch die Verfahren gegen jene Beschuldigten eingestellt, die zum Ausdruck brachten, daß sie sich nicht wieder an einem solchen Aufruf beteiligen würden. Übrig blieben einige wenige widerspenstige Personen, die noch immer kein Unrechtsbewußtsein hatten. Ihnen wurde die Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung einer Geldstrafe angeboten.

Nachdem nun ein Angeklagter auch darauf nicht einging, weil er noch immer davon überzeugt ist, sich nicht strafbar gemacht zu haben, hat die Staatsanwaltschaft Lüneburg gegen ihn einen Strafbefehl über 15 Tagessätze erlassen, womit sie ihn beschuldigt, »in Lüneburg und andernorts vom 06.11.2010 bis zum 08.11.2010 öffentlich zu einer rechtswidrigen Tat, nämlich zu einer gemeinschaftlichen Störung öffentlicher Betriebe (§§ 316b Abs. 1 Nr. 1, 25 Abs. 2 StGB), aufgefordert zu haben«.

Dadurch wird sich in Kürze das Amtsgericht Lüneburg erstmals mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob es auch ein Jahr nach der verheerenden Reaktorkatastrophe in Fukushima noch möglich sein kann, einen bewußt provozierenden Anti-Atom-Aufruf als durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung nicht gedeckt anzusehen.

Kontakt: Hermann.Theisen@t-online.de