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Titel615

Freunde in der Not  (Ralph Hartmann)

Die Kosovo-Albaner sind ein undankbares Volk. Erst hat sie die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit ihren NATO-Verbündeten in einem mutigen, selbstlosen, kostenaufwendigen Bombenkrieg 1999 vom serbischen Joch und von der schrecklichen Milošević-Diktatur befreit, ihnen den Weg in die staatliche Unabhängigkeit, in Freiheit und Demokratie geebnet, und anderthalb Jahrzehnte später beschweren sie sich, daß sie nicht ungehindert in das Land ihrer Befreier einreisen und dort leben dürfen. Ein weiteres Mal bestätigt sich die Feststellung von Kurt Tucholsky: »Aber der Frieden ist undankbar und weiß nie, daß er seinen Bestand nur dem Krieg dankt.«


Anstatt sich über die friedliche Entwicklung in ihrem kleinen Land zu freuen, verlassen sie zu Tausenden ihre Heimat, um vor allem in der Bundesrepublik um Asyl zu ersuchen (s. Ossietzky 5/2015). Bereits Anfang Februar hatte die bundesdeutsche Botschaft in Priština in einem internen Schreiben an das Auswärtige Amt in Berlin vor einem »Massenexodus« in Richtung Deutschland gewarnt und medienwirksame Massenabschiebungen verlangt. Allein aus der Hauptstadt Priština nähmen täglich »500 Personen Busse nach Serbien«, das seien mindestens 15.000 Personen im Monat. »Hält der Trend an, dürften monatlich etwa 25.000 bis 30.000 Kosovaren das Land verlassen.« Binnen eines Jahres »wären dies etwa 300.000 Personen, ein Sechstel der Gesamtbevölkerung«. Angesichts dessen forderte die Botschaft einen »Nachweis, daß abgelehnte Asylantragsteller umgehend rückgeführt werden«. Nötig sei, so wurde unterstrichen, eine »Hauruckaktion des Bundes und der Länder«.


In Berlin bedurfte es dieser Warnungen nicht. Allein zwischen dem 1. Januar und dem 15. Februar 2015 wurden rund 20.000 Flüchtlinge aus dem Kosovo registriert. Es sind vor allem soziale Gründe, bittere Armut und Perspektivlosigkeit, die Zehntausende zur Flucht bewegen, denn das de facto noch immer von der NATO okkupierte Gebiet ist das ärmste Land in Europa. Aber leider fällt es schwer, die Schuld für die desaströse Lage auf Jugoslawien unter Marschall Tito oder Serbien unter dem Sozialisten Slobodan Milošević abzuwälzen.


1945 hatte die junge jugoslawische Föderation in Kosovo ein besonders schweres Erbe übernommen. Die Infrastruktur war völlig unzureichend: Es gab keinen einzigen Kilometer Asphaltstraße, nur 2,6 Prozent aller Haushalte waren elektrifiziert, die wenigen vor dem Krieg vorhandenen Betriebe – der einzige Großbetrieb, das Blei- und Zinkbergwerk in Trepča, sowie einige Mühlen, Ziegeleien und Webereien – waren zu 90 Prozent zerstört. 90 Prozent der albanischen Bevölkerung waren Analphabeten, es gab keinerlei wissenschaftliche Institute, keine Verlage.


In den Nachkriegsjahren wurden beträchtliche Anstrengungen unternommen, den ökonomischen und kulturellen Rückstand Kosovos zu überwinden. Aus einem Entwicklungsfonds, in den alle Republiken und Gebiete einzahlen mußten, erhielt Kosovo von 1961 bis 1990 umgerechnet insgesamt rund 18 Milliarden Dollar, die Mittel der Föderation für Bildung und Gesundheitswesen nicht mitgerechnet. Auf der Basis reicher Braunkohlevorkommen wurde eine moderne Energiewirtschaft geschaffen, die zwei Drittel der erzeugten Elektroenergie in die anderen Republiken lieferte. Eine verarbeitende Industrie entwickelte sich, die Buntmetallproduktion expandierte. Der Ausbau des Schulsystems, Gründung und Entwicklung von Universitäten, Hoch- und Fachschulen, eines Nationaltheaters, Filmstudios und Verlages zeugten von einem beachtlichen kulturellen Aufschwung. Doch der Rückstand zu den anderen Republiken und Gebieten Jugoslawiens konnte nicht überwunden werden. Eine verfehlte Investitionspolitik – vorrangig wurde in ka-pitalintensive Wirtschaftszweige mit relativ wenigen Arbeitsplätzen investiert – und ein außerordentlich hoher Zuwachs der albanischen Bevölkerung bremsten das Wachstum des Sozialproduktes pro Einwohner und erhöhten die Arbeitslosigkeit. Auch unter den Bedingungen der sozialistischen Selbstverwaltung blieb Kosovo, autonomes Gebiet innerhalb der Republik Serbien, das am wenigsten entwickelte Gebiet Jugoslawiens.


Nach der mörderischen, völkerrechtswidrigen NATO-Aggression und der Abspaltung des Gebietes von Serbien sollte alles anders werden. In seinem unmittelbar nach dem Bombenkrieg erschienenen Lügenbuch »Wir dürfen nicht wegsehen. Der Kosovo-Krieg und Europa« versprach der damalige bundesdeutsche Kriegsminister Rudolf Scharping mit Blick auf Kosovo und den Balkan, »stabile Demokratien, florierende Marktwirtschaften und offene pluralistische Gesellschaften, in denen Grundfreiheiten und Menschenrechte beachtet werden ... [zu] fördern«. Zehn Jahre später erklärte sein Parteifreund, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, in einem Interview mit der Belgrader Tageszeitung Večernje novosti vollmundig: »Unser Ziel lautet: Frieden, Sicherheit und Wohlstand für die Menschen in ganz Kosovo.«


Die Worte hörte man wohl, aber schon damals fehlte der Glaube. Mittlerweile mußte selbst die bundesdeutsche Botschaft in Priština verlautbaren, daß die Wirtschaftslage im Kosovo alles andere als rosig ist und daß »die unzureichende Energieversorgung und ein unterentwickelter Industriesektor, welcher eine massive Exportschwäche und ein hohes Außenhandelsdefizit zur Folge hat«, dazu führen, daß »die wirtschaftlichen Kernprobleme bleiben«. 2013 exportierte Kosovo Waren und Dienstleistungen im Wert von 294 Millionen Euro, der Import dagegen erreichte eine Höhe von 2.449 Millionen Euro. Die Arbeitslosenrate liegt zwischen 50 und 60 Prozent. Rund ein Fünftel der 1,8 Millionen Einwohner leiden unter extremer Armut, pro Tag müssen sie mit weniger als 90 Euro-Cent ihr Leben fristen. Medizinische Versorgung können die Kosovo-Albaner in der Regel nur gegen Bargeld erhalten. Sowohl Ursache als auch Folge der schrecklichen Armut sind Korruption und organisierte Kriminalität, Prostitution, Drogen- und Waffenhandel in großem Stil.


So nimmt es denn nicht wunder, daß die Bewohner des Gebietes auf allen möglichen Wegen, vor allem über Serbien, in Massen versuchen, in das gelobte Land Bundesrepublik Deutschland zu gelangen. Doch gegen den kosovarischen Ansturm sind die Truppen des Außenministers Steinmeier und des Innenministers de Maizière längst zur Gegenattacke übergegangen, während die noch immer in dem kleinen Balkangebiet stationierten deutschen KFOR-Einheiten von der Leyens Zurückhaltung üben müssen. Asylanträge von Kosovo-Albanern werden »priorisiert«, innerhalb von 14 Tagen im Schnellverfahren bearbeitet und zu über 99 Prozent abgelehnt. Bereits in Kosovo werden Flugblätter verteilt, die auf die Aussichtslosigkeit einer Aufnahme in der Bundesrepublik hinweisen. Die sonst so kritisierten serbischen Behörden sind aufgefordert, dem Massenexodus in Richtung Deutschland entgegenzuwirken. Und damit nicht genug: Die Bundespolizei schickte 20 Beamte nebst Ausstattungsmaterial zur Verschärfung der Grenzkontrollen nach Serbien.


So ändern sich die Zeiten und die Interessen. Erst schützten die Bundesrepublik und ihre Bundeswehr die Kosovo-Albaner vor den bösen serbischen Schergen, jetzt müssen die Serben die Bundesrepublik vor den undankbaren Kosovo-Albanern verteidigen. Ja, so ist es: Den wahren Freund – dem stimmte schon Cicero vor mehr als zwei Jahrtausenden zu – erkennt man in der Not.