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Titel815

Der »Judäobolschewik«  (Arno Klönne)

Gläubige Konsumenten geschichtspolitischer Angebote bürgerlicher Zeitungen und auch einiger »linker« Blätter und Blogs wissen inzwischen Bescheid: An der Ausbreitung von Judenfeindschaft im vergangenen Jahrhundert tragen vor allem Sozialisten und Kommunisten die Schuld. Erst theoretisierend Karl Marx, dann in der Praxis die frühen Bolschewiken. Und heutzutage steckt schon in der Kritik an der Finanzelite des kapitalistischen Geschäftsbetriebs linker Antisemitismus, vermutlich ist überhaupt der Antikapitalismus nur verdeckter Judenhaß.


Judenfreundlich hingegen der gegenwärtige Regierungschef in Kiew: Seine ukrainischen Vorläuferscharen waren es, die seinerzeit Auschwitz befreiten, gezwungenermaßen in der Uniform der Roten Armee, denn die Sowjets hatten ja erst die Ukraine überfallen (und griffen danach Deutschland an) ...


So läßt sich Geschichte zweckgerichtet zubereiten. Allerdings kommt da eine historisch-ideologische Figur in die Quere: der »Judäobolschewik«. Auch passen nicht so recht ins Bild historische politische Führer, die im ukrainischen Terrain seit der orangenen Revolution posthum eine neue Karriere machen, als »Helden der Ukraine« geehrt werden: Symon Petljura und Stepan Bandera.


Aufklärendes wäre über Bolschewismus und Judentum, über Herkünfte antisemitischer Gefühle schon im Zarenreich, über Haßpropaganda dann auf der »weißen« Seite in Bürgerkriegszeiten und speziell über Pogrome in der Ukraine zu erfahren in einer sorgfältigen Studie von Ulrich Herbeck, unter dem Titel »Das Feindbild vom jüdischen Bolschewiken« 2009 erschienen (im Metropol Verlag, Berlin). Bemerkenswerterweise hat diese Veröffentlichung kaum öffentliche Beachtung gefunden; offenbar fügt sie sich in den derzeit erwünschten Diskurs nicht ein. Eben deshalb ist ihre Lektüre zu empfehlen.


Bei Herbeck ist für die Jahre vor und während des russischen Bürgerkriegs im Detail dargelegt: Antisemitismus, staatlich gefördert und von der staatsverbundenen Orthodoxie gepredigt, war ein zentrales Instrument der Machterhaltung im späten zaristischen System, gerade auch in Reaktion auf die revolutionäre Bewegung 1905. Per Massenpropaganda wurde das Judentum als »zersetzend«, auf gesellschaftlichen Umsturz hinwirkend an den Pranger gestellt. Ab 1917 diente dies dem Kampf gegen »die Roten«, der »Judäobolschewik« war nun das dominante Feindbild der »Weißen«, der »jüdisch-kommunistische Kommissar«, der »grausame jüdische Tschekist« und, noch schlimmer, das jüdische rote »Flintenweib«. »Alle Kommunisten sind Juden, alle Juden Kommunisten« hieß es in der »weißen« Propaganda, wahrheitswidrig.


Antisemitische Mythen enthielten systematisch die Aufforderung zur Gewalt. Diese tobte sich in den Wirren des Bürgerkrieges exzessiv aus im ukrainischen Territorium; hier vor allem hatten es die Bolschewiki mit »weißen« Warlords zu tun (die Unterstützung bei westlichen Mächten fanden) und auch mit nationalistischen ukrainischen Regenten oder Anführern wie Symon Petljura und später Stepan Bandera. Alle diese trugen Verantwortung für Wellen von Pogromen.


Die Sozialisten im Zarenreich und dann die Bolschewiki waren damals die einzigen politischen Kräfte, die in aller Eindeutigkeit gegen Judenhaß auftraten und ihn aus den Köpfen wegzuräumen versuchten, kennzeichnend dafür etwa das »Dekret gegen die antisemitische Hetze«, im Juli 1918 vom Rat der Volksdeputierten beschlossen und von Lenin unterzeichnet. Selbst bei einem Teil der neu zu den Roten stoßenden Anhängerschaft machten sie sich damit keineswegs beliebt; zu tief saßen antijüdische Ressentiments.


Herbeck läßt nicht die Probleme außer acht, die der sozialistischen und kommunistischen Argumentation gegen den Antisemitismus innewohnten: Zu sehr wurde erwartet, daß Judenhaß in einer nicht mehr feudal beherrschten Gesellschaft sich wie von selbst auflösen werde.


Aber am Feindbild vom »Judäobolschewiken« schieden sich nach der Oktoberrevolution die Geister. Und wenig später kam dieser propagandistische Hit in Gebrauch im Deutschen Reich, bei Deutschvölkischen und Deutschnationalen, bei reaktionären Christen, höchst wirkungsvoll bei den Nazis. Dem Angriff Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion 1941 diente er als ideologische Stütze. Dabei war übrigens wieder einmal das ukrainische Terrain fest im Blick. Heute stehen in einem Teil dieses Landes Denkmäler für Petljura und Bandera. Die Pogrome unter deren Befehlsgewalt bleiben dabei verdeckt im Nebel »westlicher Werte«.


Daß in der Geschichte der Sowjetunion ein ganzes Stück später auch judenfeindliche Ressentiments machttaktisch eingesetzt wurden, darf nicht verschwiegen werden. Aber geschichtsverfälschend, diskurspolitisch motiviert, ist die aktuell verbreitete Legende von der »Herkunft des Antisemitismus aus der kommunistischen Ideenwelt«.