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Titel819

Schatten der Jahrestage  (Stefan Bollinger)

Nachdem für Linke trotz verheerender Niederlagen und Irrwege doch ein erfreulicher Reigen wohl beachteter Jahrestage – 200 Jahre Marx, 100 Jahre Oktoberrevolution/Russische Revolutionen, 100 Jahre Novemberrevolution – gelaufen ist, geraten wir nun in den Strudel problematischerer und unmittelbar gegenwartswirksamer Ereignisse. Die sind nur für sehr optimistisch oder angepasst gestimmte Linke erfreulich. Allen anderen dürften sie weiter Kopfzerbrechen bereiten und sie zu theoretischen und politischen Schlussfolgerungen zwingen.

 

Denn das Jahr 2019 beschert gleich zwei deutsche Staatsgründungsjubiläen, das der BRD und der DDR 1949, zudem den Geburtstag des Grundgesetzes der Bundesrepublik, vor allem aber – seit Monaten bereits annonciert und möglichst in eine vermeintliche Kontinuität zu 1918/19 gerückt: der 9. November 1989 – die »friedliche Revolution« 1989 in der DDR, gelegentlich verknüpft mit einem Blick auf den damals generell in Krise und Auflösung begriffenen osteuropäischen Realsozialismus.

 

 

Gibt es etwas zu feiern?

Wer von »friedlicher Revolution« spricht, der »Wende«, meint eigentlich – und das ist für den siegreichen Westen, die treuen Demokraten, Menschenrechtler und Verfechter der einzig freien Demokratie von Marktwirtschaft, Parlamentarismus und Kapitalismus die dominierende Lesart, die sie allen politischen Akteuren einschließlich den diversen Linken aufzwingen will (oder schon aufgezwungen hat) – die Maueröffnung! Auch hier wird lieber vom Mauerfall gesprochen und verschämt ausgeblendet, dass dies eine fatale, unüberlegte, ohne Gegenleistung erfolgende Entscheidung einer damaligen SED-Führung war, die im kalten Staatsstreich endlich auf den Straßen Ruhe wollte. Zu ergänzen bliebe, dass es nur der Besonnenheit der Kräfte von NVA, Grenztruppen und Staatssicherheit gemeinsam mit dem Augenmaß der Bürger zu verdanken war, dass diese Maueröffnung friedlich und zivilisiert verlief.

 

Dieser 9. November und seine unmittelbaren Folgen, der zügige Übergang vom zunächst basisdemokratisch geprägten »Wir sind das Volk!« zu dem deutsch-nationalistischen »Wir sind ein Volk!«, der Weg von der Selbstermächtigung der Bürger der DDR zur politischen Selbstentleibung der gerade mündig gewordenen DDR-Bürger, bestimmt heute das offizielle Geschichtsbild. »Freiheit« als freiwillige Unterwerfung unter ein übermächtiges Profitsystem. Kann das ein kritischer Geist unbeschwert feiern? Die basisdemokratische Selbstermächtigung für eine reale Utopie sicher, die wenigen Wochen der Demos, der Runden Tische, der partiellen Machtübernahme in Betrieben und Institutionen, das Abstreifen eines vormundschaftlichen, repressiven Systems. Aber auch das mehrheitlich willenlose, wenn auch sehr materialistische Akzeptieren der westdeutschen Vormundschaft, nach dem Motto »erst kommt das Fressen, dann die Moral« ...?

 

Linke Erinnerungspolitik, politische Bildungsarbeit und politische Selbstvergewisserung ist in dieser übermächtigen Konstellation herausgefordert, sich einen eigenen Reim auf die Ereignisse und die politischen wie theoretischen Konsequenzen für heute und für morgen zu machen.

 

Sie geht der vorherrschenden Logik auf den Leim, wenn sie in Erinnerungen an eine Revolution schwelgen möchte, die schon ab einem sehr frühen Zeitpunkt im Herbst '89 nicht mehr ihre Revolution war. Die Akteure ließen sich ihren demokratisch-sozialistischen Schneid der ersten Tage mit einer gut gewürzten Linsensuppe westlicher Freiheiten zum Reisen und zum Profitscheffeln abkaufen. Wie gesagt, verständlich und berechtigt Freiheiten einfordernd, aber schlussendlich gegen die eigenen Interessen gerichtet. Der Zusammenbruch der Wirtschaft, Massenarbeitslosigkeit, das Wiederfinden in den »jungen« Bundesländern als »Bürger 2. Klasse« unter westdeutscher Vorherrschaft ... All dies entwertet nicht die große Flexibilität, Anpassungsfähigkeit, Improvisationskraft vieler DDR-Bürger, aber der erkämpfte und erhoffte »aufrechte Gang« wurde der in eine entfremdete, Geld und Kommerz unterworfene Gesellschaft, allerdings im Vergleich zu dem Rest-Osteuropa in Gestalt einer »Beerdigung 1. Klasse«.

 

Das Scheitern der DDR als des nicht nur von der SED deklarierten »besseren Deutschlands« – eine Selbstbefreiung der Linken von der schnöden Wirklichkeit eines ungeliebten »Realsozialismus«, der es nur wenig verstand, Sozialismus und Demokratie zu verbinden? Der endliche Abschied von fatalen, auch tödlichen Szenen an der zugemauerten Staatsgrenze, die zugleich auch System- und Blockgrenze war? Das Ende einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die zunehmend blind dem westlichen Konsumismus nacheiferte und daran kläglich versagte? Oder das Missglücken einer großen Hoffnung an den Widrigkeiten der Ökonomie, an der vom Westfernsehen geprägten Bedürfnisstruktur, an zu wenig innerer Offenheit, Dialog und Diskussion? Die Niederlage in einer offenen wie verdeckten Blockkonfrontation mit Abwerbung, Medien, Agenten, Wettrüsten und volleren Schaufenstern?

 

 

Ein anderes, basisdemokratisches, friedliebendes, ökologisches Deutschland?

Einfache Antworten werden hier nicht zu finden sein. Zunächst: Produktiv kann die Auseinandersetzung mit dem letzten Jahr der DDR, dem für kurze Zeit demokratischsten, freiesten, kreativsten Versuch der Erneuerung des Sozialismus hin zu einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft sein. Nicht der 9., sondern der 4. November 1989, die Demonstration von über einer halben Million DDR-Bürgern auf dem Berliner Alexanderplatz steht dafür: Für eine viel zu späte, viel zu inkonsequente, viel zu schwache und schließlich abgebrochene, abgekaufte, gescheiterte antistalinistische Revolution in der DDR!

 

Für wenige Wochen schien in der DDR alles möglich zu sein, ein Herbst, vielleicht noch Winter der Utopie, ja der Anarchie: Eine führende Partei, die in Demut und Dialog Fehler eingestand und für eine andere DDR plädierte; erstmals eine tatsächliche Koalitionsregierung unter Modrow, der Gesellschaft und nicht einer Partei allein verpflichtet; ein breiter Dialog in der Öffentlichkeit, in Betrieben und Institutionen, eine Diskussion in allen Teilen der Gesellschaft; die basisdemokratische Wahl und Abwahl von Funktionären, Managern, Betriebsdirektoren; Parteimitglieder, die spät ihre Parteiführung zum Teufel jagten und aus der immer noch stalinistisch geprägten SED eine linke, pluralistische SED-PDS beziehungsweise PDS entwickeln wollten; eine Zeit der Runden Tische, der Betriebsräte, selbstbewusster Werktätiger, die ihr Schicksal in die eigene Hand nahmen. All dies geronnen in einem Verfassungsentwurf des Runden Tisches, eines zutiefst demokratischen Möbelstücks, das nicht nur für den Osten ein Angebot für ein basisdemokratisches, friedliebendes, ökologisches Deutschland unterbreitete.

 

Der Rückblick schließt allerdings auch ein, dass dieser Weg scheiterte – obwohl viele ihrer treibenden Akteure das zunächst nicht wahrhaben wollten und der Zentrale Runde Tisch eine Reformagenda erarbeitete, gegossen in diesen Verfassungsentwurf, während die Entwicklung in der DDR längst fremdbestimmt war, das heißt westdeutsch. Ohne den massiven politischen, wirtschaftlichen, ideologischen Eingriff der alten Bundesrepublik, die sich endlich der Schmach der Teilung und einer sozialistischen DDR entledigen wollte, ist diese Entwicklung kaum zu begreifen. Die politische Klasse und die Wirtschaftsbosse der BRD wollten keine Basisdemokratie in Gesellschaft und Betrieb, keine eigenständig lebensfähige Ost-Wirtschaft, keine pazifistische Ausrichtung eines blockfreien Deutschlands. Sie hatten die finanzielle, propagandistische und personelle Kraft sowie die Strukturen, um viele DDR-Bürger von ihrem im Westen ach so bewährten Weg zu überzeugen, konnten den Antikommunismus befeuern und vor allem den Osten so strukturieren und organisieren, dass er nahtlos in das westdominierte Staatsgebilde beigetreten werden konnte.

 

Erinnerung bedeutet auch: Ohne den weltpolitischen Rahmen einer gescheiterten Perestroika-Politik, in die so viele ihre Erwartungen gesteckt hatten, ist die deutsche Entwicklung nicht erklärbar. Der gesamte Ostblock schaffte die erfolgreiche sozialistische Erneuerung nicht, zerbrach Staat um Staat und als Block. Im Herbst 1989 ging nicht nur die DDR – mit ihrem kurzen Zwischenleben bis 1990 – zu Grunde, der gesamte europäische Ostblock kollabierte unter vergleichbaren Vorzeichen, und Gorbatschow kapitulierte in der stürmischen See von Malta im Dezember 1989 vor den USA im Kalten Krieg.

 

 

Den Blick weiten

Heute begeistern sich selbst Politiker der Regierungskoalition, egal, ob schwarz oder rosarot, an der »Lebensleistung der Ostdeutschen«. Sie begreifen oder lassen vermuten, dass sie begreifen, dass der Weg der »Wiedervereinigung«, der »Treuhandpolitik« nicht so gradlinig war und dass ostdeutsche Biografien beschädigt wurden. Eine späte Einsicht, die nicht aus den relativen Wahlerfolgen der PDS/Linken vor 15 oder 20 Jahren erwächst, sondern aus Angst vor den rechtskonservativen, völkischen Kräften an der rechten Flanke, die zwar nicht den Kapitalismus, aber das gut geschmierte parlamentarisch-demokratische System in Frage stellen.

 

Aber: Ohne einen genaueren Blick auf das, was 1949 in Bonn und in Berlin begann, ohne das Verständnis der deutsch-deutschen Doppelbiografie zweier verfeindeter, sich zeitweise offen bekämpfender, auf jeden Fall konkurrierender Staaten und Gesellschaftsentwürfe ist dieses Stück Geschichte, sind seine aktuellen Nachwirkungen nicht zu begreifen. Die Doppelbiografie ist aber die zweier sich bekämpfender Systeme, die immer wieder vor vergleichbaren Herausforderungen standen, oft ähnliche und manchmal konträre Lösungen fanden und sich der Verantwortung Deutschlands nach der Befreiung vom Faschismus stellen mussten. Mit unterschiedlicher Konsequenz. Wer gewonnen hat, das ist bekannt. Es wäre gut zu wissen, warum. Ebenso, weshalb der andere deutsche Staat vierzig Jahre bestehen, widerstehen, auch Beispiel sein konnte und doch scheiterte.

 

Allein die Stichworte Mauer, Wende, Stasi, Stacheldraht und harte DM sagen darüber zu wenig aus. Erinnern ist Zwang zum Denken, zum Nachdenken.

 

Es wird wieder empfohlen werden, sich Biografien zu erzählen, linke Bildungsvereine träumen von den erhellenden Gesprächen mit Bürgerbewegten, SED-Reformern und heutigen Akteuren, die auf Übereinstimmungen zielen sollen – für eine offene, plurale, demokratische, fremdenfreundliche Gesellschaft. Gut und schön.

 

Es wird aber mehr kritische Analyse gebraucht: Warum die beiden deutschen Staaten so wurden, wie sie waren, mit ihrem antifaschistischen Anspruch und ihrem unterschiedlichen Verständnis von Vergangenheitsbewältigung.

 

Und auch linke Politik muss sich Fragen stellen, sicher auch die nach dem Versagen im Realsozialismus, vor allem aber nach dem Verlust ihrer Beziehung zur eigenen, sehr weit zu fassenden Arbeiterklasse. »Klassenpolitik« wird das heute genannt und ist in den letzten drei Jahrzehnten erst recht verlorengegangen. Blick auf Lebenslage und Arbeit, Verständnis für die Interessen der arbeitenden Menschen jenseits akademisch geprägter Kreise sind mehr denn je gefragt.

 

Genauso sollte genauer auf die Begeisterung für soziale Bewegungen geschaut werden – heute wie damals. In Krisenzeiten sind viele Menschen breit, sich politisieren zu lassen, bereit, Verantwortung zu übernehmen, basisdemokratisch zu agieren, das Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Nicht nur die letzten drei Jahrzehnte haben allerdings gezeigt, dass soziale Bewegungen, alte wie neue, nur dann etwas positiv bewegen, wenn sie wissen, wohin sie wollen. Hier sind die uneinigen Linken, geschweige denn andere Demokraten zerstrittener denn je, desorganisiert, von ihren negativen Erfahrungen mit den alten Bewegungen und Gesellschaftsalternativen desorientiert wie noch nie in der Geschichte von Kapitalismus, Sozialismus und seinem eigentlich unversöhnlichen Kampf. Jahrestage sollten Zeiten zur Besinnung, zum Neuanfang sein. Oder?