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Der Alibiprozeß  (Ralph Hartmann)

Der Prozeß geht weiter, bis Ende Mai soll er abgeschlossen sein. Nicht oft findet in der Bundesrepublik ein Gerichtsverfahren so viel Aufmerksamkeit wie das gegen den Staatenlosen John Demjanjuk, der beschuldigt wird, sich 1943 als sowjetischer Kriegsgefangener der SS zur Verfügung gestellt und im Vernichtungslager Sobibor Beihilfe zur Ermordung von 27.900 Juden geleistet zu haben. Zeitweilig war das Medienecho überwältigend. Als der Prozeß im November 2009 vor dem Landgericht München II begann, kam es zu Tumulten, da die 68 Presseplätze für die über 200 angereisten Korrespondenten nicht ausreichten. Fortan berichteten die Medien kontinuierlich und in großer Aufmachung über den Verlauf des Verfahrens, die Anklageschrift des Staatsanwaltes, die Einsprüche der Verteidigung, den tatsächlichen oder vorgetäuschten schlechten Gesundheitszustand des Angeklagten, sein Schweigen und die erschütternden Aussagen der Zeugen. Radio und Television sendeten lange Dokumentationen, in Talkshows wurde der Prozeß von allen Seiten beleuchtet, und in Heidelberg feierte das Theaterstück »Die Demjanjuk-Prozesse« Premiere.

Detailliert und mit Schaudern erfuhr das Publikum auch, was über das SS-Ausbildungslager im Ort Trawnik berichtet wurde, wo bereitwillige Kriegsgefangene in Schnellkursen für ihren Einsatz als Aufseher in den faschistischen Todeslagern geschult wurden. Die SS machte Opfer des Krieges zu Mittätern ihres Ausrottungsfeldzuges. Zu diesen »Trawniki« soll Demjanjuk gehört haben.

Wozu der enorme Medienaufwand? Welchem Ziel dient er? Soll er etwa beweisen, daß der bundesdeutsche Rechtsstaat konsequent und mit aller Schärfe des Gesetzes gegen alle Nazi-Kriegsverbrecher vorgeht, und seien sie auf den niedrigsten Stufen der KZ-Hierarchie zu suchen und noch so alt und gebrechlich? Handelt es sich gar um einen Alibiprozeß, mit dem die frühere Nichtverfolgung von Nazi-Verbrechern und die Milde für die relativ wenigen vor Gericht Gestellten in Vergessenheit gebracht werden sollen?

Dank des Prozesses in München und der Medien kennen heute viele am Zeitgeschehen interessierte Bundesbürger den Namen des Ortes Trawnik und die aus ihm abgeleitete Verbrecherbezeichnung »Trawniki«. 1973 war das anders. Damals stand auch ein »Trawnik« vor einem Landgericht, dem in Hamburg. Der Angeklagte hieß Karl Streibel. Der 1903 Geborene war kein gewöhnlicher »Trawnik«, sondern SS-Sturmbannführer und Kommandeur des SS-Ausbildungslagers in Trawnik. Die dort unter seinem Kommando geschulten Kriegsgefangenen kamen dann in den Vernichtungslagern in Belzec, Treblinka und eben in Sobibor zum Einsatz, wo im Rahmen der »Aktion Reinhard« über 850.000 jüdische Frauen, Männer und Kinder umgebracht wurden. Der Prozeß gegen Streibel endete mit einem Freispruch, Revision wurde nicht zugelassen, für die Kosten kam die Staatskasse auf.

Der Freispruch war ein Skandal, überraschen konnte er nicht, denn schon lange vorher war die SS von höchster Stelle rehabilitiert worden, und an Auschwitz, Treblinka, Sobibor und andere Orte der Massenvernichtung wollte man am liebsten nicht mehr erinnert werden. Franz Josef Strauß machte daraus keinen Hehl, 1961 proklamierte er: »Ein Volk, daß diese wirtschaftlichen Leistungen erbracht hat, hat ein Recht darauf, von Auschwitz nichts mehr hören zu wollen.« Zwei Jahre zuvor hatte er in einem Beitrag für das Kameradschaftsblatt der SS-Hilfsgemeinschaft (HIAG) eingestanden: »Wie ich persönlich über die Leistungen der an der Front eingesetzt gewesenen Verbände der Waffen-SS denke, wird Ihnen bekannt sein. Sie sind selbstverständlich in meine Hochachtung vor dem deutschen Soldaten des letzten Weltkrieges einbezogen.« Der führende bayerische Christsoziale stand nicht allein. Mit gutem Gewissen konnte er sich auf Bundeskanzler Konrad Adenauer berufen, der schon 1955 das Ersuchen des FDP-Bundestagsabgeordneten General a. D. von Manteuffel, sich für eine Rehabilitierung der Angehörigen der SS-Verbände zu verwenden, so beantwortete: »Ich weiß schon längst, daß die Soldaten der Waffen-SS anständige Leute waren. Aber solange wir nicht die Souveränität besitzen, geben die Sieger in dieser Frage allein den Ausschlag, so daß wir keine Handhabe besitzen, eine Rehabilitierung zu verlangen ... Machen Sie einmal den Leuten deutlich, daß die Waffen-SS keine Juden erschossen hat, sondern als hervorragende Soldaten von den Sowjets gefürchtet war ...«

Von dieser Geisteshaltung ließen sich auch die Richter im Prozeß gegen den SS-Ober-»Trawnik« Streibel leiten. Im Vergleich zum Verfahren gegen Demjanjuk war das Medienecho im Fall Streibel minimal. Schließlich ging alles rechtens zu, eben so, wie es sich in einem Rechtsstaat gehört. Heute aber verhält sich dieser vielgepriesene Staat anders. So großmütig und nachsichtig er sich einst gegenüber hochrangigen SS-Mördern verhielt, so konsequent und erbarmungslos geht er heute gegen ihre übriggebliebenen Helfershelfer vor. Oder handelt es sich nur um ein Justiz-Schauspiel für die Öffentlichkeit? Der langjährige Chefredakteur der Mitteilungen des Hamburgischen Richtervereins, Günter Bertram, Richter a. D., meint zum Prozeß gegen Demjanjuk: »Vermutlich wird und soll in München ein Schuldspruch nie gefällt werden, weil es mehr auf das öffentliche Verfahren und dessen Medienecho ankommt als auf ein abschließendes Urteil ...«

Das gewünschte Medienecho wurde erreicht, obwohl das umlärmte Verfahren nach den Worten des Amsterdamer Professors Christiaan Rüters, der sich in Fragen der Verfolgung beziehungsweise Nichtverfolgung von Nazi-Verbrechern bestens auskennt, »ein Prozeß gegen den kleinsten der kleinen Fische« ist.

Und die großen Fische?

Die nicht vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zur Verantwortung gezogen wurden, tauchten vorübergehend ab und alsbald in ihrer Mehrheit als brave unbescholtene Demokraten wieder auf, um Schlüsselpositionen in Staat und Wirtschaft einzunehmen. Namen wie Hans Globke, Kommentator der Nürnberger Rassengesetze, einer der Wegbereiter des Holocaust, unter Adenauer Chef des Bundeskanzleramtes, Adolf Heusinger und Hans Speidel, Generale der Nazi-Wehrmacht, einige Jahre später erste Befehlshaber der Bundeswehr, Theodor Oberländer, SS-Obersturmbannführer und überführter Kriegsverbrecher, von 1957 bis 1960 Vertriebenenminister, Waldemar Kraft, Ehrenhauptsturmführer der SS, von 1953 bis 1956 Bundesminister für besondere Aufgaben stehen für viele andere.

Noch 1968 hatten eine tiefbraune Vergangenheit: 20 Angehörige des Bundeskabinetts (Minister und Staatssekretäre), 189 Generale, Admirale und Offiziere in der Bundeswehr oder in den NATO-Führungsstäben sowie Beamte im Verteidigungsministerium, 1118 hohe Justizbeamte, Staatsanwälte und Richter, 244 leitende Beamte des Auswärtigen Amtes, der Botschaften und Konsulate, 300 Beamte der Polizei und des Verfassungsschutzes sowie anderer Bundesbehörden. Von Prozessen gegen sie wurde nichts bekannt.

Aber jetzt hat die deutsche Justiz den SS-Gehilfen Demjanjuk vor Gericht gebracht und hat noch einige andere greise mutmaßliche Nazi-Kriegsverbrecher im Visier. Selbst das Simon-Wiesenthal-Zentrum stellte einen »bedeutenden Wandel« bei der Justiz der BRD fest, denn bis vor zwei Jahren hätten die deutschen Strafverfolgungsbehörden an einem »deutlichen Mangel an Enthusiasmus« gelitten. Liebenswürdiger kann man eine notorische Strafvereitelung nicht umschreiben.