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Titel1108

Die extremistische Apostelgeschichte  (Klaus Höpcke)

Was mag Michael Brie, Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, bewogen haben, vor einigen Wochen »an alle« folgenden Satz zu mailen: Eine allzu gedankenlose Distanzierung vom Mauerbau könnte in Zukunft das Verständnis dahin dogmatisch versperren, wo eine ökonomisch unterentwickelte Region – um mehr Demokratie, mehr Ökologie, mehr Kulturausgaben, mehr Soziales zu wagen – sich abschottet oder etwa die Abwerbung der vom Monopolkapital bevorzugten Kräftigen, Jungen, teuer Ausgebildeten verhindern wollte. – Der Satz stammte nicht aus seiner Feder, er setzte ihn korrekt in An- und Abführungszeichen und gab Urheber und Quelle an: Diether Dehm, der heutige Bundestagsabgeordnete der Partei Die Linke, hatte ihn im Jahre 2001 in einem Beitrag für die Zeitschrift Utopie kreativ niedergeschrieben.

Was »an alle« gerichtet war, landete auch rasch bei der Frankfurter Allgemeine Zeitung, die auf ihrer Seite 4 vermeldete: »Dieser Zeitung ist eine Äußerung Dehms zugänglich geworden…« Der von Brie gemailte Text hatte bei der FAZ in Robert von Lucius einen interessierten Empfänger gefunden, der sich allerdings die Quelle erst einmal im Original anschaute. Der Journalist bemerkte, daß Dehm in seinem Aufsatz für eine »glaubwürdige, völlig neuartige Konzeption zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft« geworben hatte, wofür man die »Angst vor Enteignung kleinen und mittleren Eigentums… aus der Gesellschaft herausnehmen« müsse. Mit einem Zurückdrängen der Macht der Großbanken und großen Konzerne könnten, so verstand er Dehms Auffassung, »kleinbürgerliche Ängste abgebaut« werden. Korrekt wies er auch darauf hin, daß die Bemerkungen über eventuelles Abschotten und das Verhindern von Abwerbung qualifizierter Kräfte bei Dehm in Gedanken über Entwicklungsländer eingeordnet sind. Unkorrekt löste er diesen Zusammenhang, indem er ein »teils« einschob. So verschaffte er sich Spielraum, die vom Fernsehmagazin Panorama fabrizierte Kampagne gegen den Wahlerfolg der Linken in Niedersachsen auch noch mit zu bedienen.

Wenige Tage später gab Brie – von solchem Zwiespalt ungeplagt – im Rheinischen Merkur seinen verallgemeinernden Kommentar: »Einige in der Linken können linke Positionen nicht von Positionen trennen, die eigentlich extremistisch sind. Es gibt in der Partei durchaus noch Mitglieder, die bereit wären, die politische Freiheit für die Ziele Gerechtigkeit und Gleichheit einzuschränken.«

Der Berliner Rechtsphilosoph Hermann Klenner, der wohl fundierteste Menschenrechtekenner im Lande, reagierte darauf mit dem Satz: »Ich – zum Beispiel – bin dazu bereit.« Er sagte das Anfang Mai in einem Podiumsgespräch mit Brie. Wer meine, »liberty« dürfe »only for liberty« eingeschränkt werden, falle damit hinter die Französische Revolution zurück, die die Freiheit nicht der Gleichheit und Brüderlichkeit übergeordnet, politische, ökonomische, soziale und kulturelle Rechte nicht unterschiedlich gewichtet habe, argumentierte Klenner. Wer bestehende Unterschiede zwischen einem Bankier wie Ackermann und Arbeitern in den Betrieben leugne, der konserviere die heute herrschenden Unordnungsverhältnisse. Die Frage sei eben, ob man die Verhältnisse so lassen oder ändern wolle.

Und damit kamen die Diskutierenden zu Marx, der in seiner Schrift »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« geschrieben hatte: »Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.« Und: »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« Klenner begriff diese Aussagen in ihrem Zusammenhang. Brie hatte hingegen einen »Übergang von radikal zu extrem« in den Wechselbeziehungen zwischen dem Menschen als »höchstem Wesen« (Voraussetzung) und dem kategorischen Handeln für das Umwerfen der Verhältnisse (Folgerung) ausgemacht, wenn über Gewalt so gedacht und gedichtet wird wie in Brechts »Der Kommunismus ist das Mittlere«:

»Zur Gewalt seine Zuflucht zu nehmen
Scheint böse.
Aber da, wo das, was ständig geübt wird, Gewalt ist
Ist es normal und nichts Besonderes.«

Hierzu meldete Brie »konkrete Differenz« an. Er sehe fundamentale Auffassungsunterschiede.

Er wurde gefragt, wie man Kapitalmacht brechen könne, ohne ihre Freiheit einzuschränken, ohne Gegenmacht auszuüben. Er möge dafür ein einziges Beispiel nennen. Ein hilfsbereiter Souffleur rief aus dem Saal: »Allendes Chile!« Woran scheiterte der Sozialismus dort? Brie meinte, die Unidad Popular habe die Kontrolle der Streitkräfte vernachlässigt. Die Kontrolle! Daß die demokratisch errungene Volksmacht sich die Militärmacht hätte aneignen und die überwiegend antidemokratisch eingestellten Spitzen des Militärs auswechseln müssen, brachte er nicht zur Sprache. Aber: »Die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt«, heißt es bei Marx.

Wenn die Verhältnisse so bleiben, wie sie gegenwärtig sind, dann fallen wir – so nochmals Hermann Klenner – zurück hinter die von Rousseau erhobene Forderung, keiner dürfe so reich sein, einen anderen kaufen zu können, und keiner so arm, sich verkaufen zu müssen. Durch einen Hinweis auf die biblische Apostelgeschichte veranlaßte er mich, nach der Veranstaltung zu Hause im Neuen Testament nachzulesen: »Alle aber, die gläubig waren geworden, waren beieinander und hielten alle Dinge gemein. Ihre Güter und Habe verkauften sie und teilten sie aus unter alle, nach dem jedermann not war.« (Apostelgeschichte, 1. Kapitel, Vers 44 und 45)

»Wenn wir so etwas für extremistisch halten…« Klenner brauchte den Satz nicht zu vollenden. Er wünschte Mut zur Diskussion, frei von Denkverboten.

Aber an diesem Mut mangelt es. Unter dem Druck des verordneten Antikommunismus, den Organe des Staates sowie Interessenverbände, politische Vereine und Parteien immer dreister und drastischer betreiben, kommt links gelegentlich ein Gefühl der Aussichtslosigkeit auf. Die Medien tun so, als wären sich hierzulande alle einig, daß Sozialismus keine Chancen mehr habe. Doch Umfragen des Demoskopischen Instituts Allensbach haben das Gegenteil gezeigt. Institutsleiter Thomas Petersen schrieb in einem Beitrag, den die FAZ unter der Überschrift »Der Zauberklang des Sozialismus« veröffentlichte, über Ergebnisse einer Umfrage, die 2002 und nochmals 2007 vorgenommen worden war. Die Frage lautete: »Kürzlich sagte jemand: ,Ich frage mich, was das für eine Freiheit sein soll, in der Millionen arbeitslos sind, immer mehr Leute von Sozialhilfe leben müssen und die Großindustrie Rekordgewinne macht. Auf so eine Freiheit kann ich verzichten.‹ Würden Sie das auch sagen, empfinden Sie das auch so, oder würden Sie das nicht sagen?« – »Das sehe ich auch so«, sagten im Juli vergangenen Jahres 62 Prozent der Befragten. Fünf Jahre zuvor hatten 53 Prozent so geantwortet.

1944/45 verdichtete Bertolt Brecht das »Manifest« von Marx und Engels in Hexametern. Diesem Text sind die folgenden Zeilen entnommen. Die Schauspielerin Renate Richter trug sie und weitere Brecht-Texte in der von Klaus Höpcke erwähnten Veranstaltung vor. Das Gedicht »Der Kommunismus ist das Mittlere« entstand 1932 nach der Uraufführung von Brechts Stück »Die Mutter« als Antwort auf den Vorwurf von rechts, der Kommunismus sei nur die Sache einer kleinen extremen Minderheit. »Die Klassiker und ihre Zeit« stammt aus »ME-TI – Buch der Wendungen« (1940). Manfred Wekwerth stellte die Texte zusammen.

Aus dem »Manifest«
So nun aber entstand, die jetzt vergeht, die Epoche des Bürgers.
Eisernen Griffes zerstörte die Bourgeoisie alle alten
Patriarchalischen stillen Idylle, zerriß die feudalen
Alten buntscheckigen Bande, geknüpft zwischen Knechten und Schutzherrn
Duldend kein anderes Band zwischen Menschen als nacktes Interesse
Barer Bezahlung. »Adlige Haltung« und »Ritterlichkeit« und
»Treues Gesinde«, »Liebe zum Boden« und »ehrliches Handwerk«
»Dienst an der Sache« und »inn’re Berufung« ertränkt sie in
Eiskaltem Wasser der reinen Berechnung. Menschliche Würde
Macht sie zum Tauschwert, brutal setzend nun anstelle der vielen
Heilig verbrieften Freiheiten nur die Freiheit des Handels.
Kurz: an Stelle der innigen, frommen, scheinbar natürlichen
Ausbeutung setzt sie die offene, schamlos betrieben direkte.

Der Kommunismus ist das Mittlere
Wenn schon nicht die ganze Welt den Kommunismus
Für ihre Sache hält, so ist doch die Sache des Kommunismus
Die ganze Welt. Wir sprechen nicht für uns als
Einen kleinen Teil, sondern als Teil der Menschheit, der die
Interessen der Menschen (und nicht die eines Teiles) vertritt.

Zum Umsturz aller bestehenden Ordnung aufzurufen
Scheint furchtbar.
Aber das Bestehende ist keine Ordnung, sondern
Verordnete Unordnung und planmäßige Willkür.

Zur Gewalt seine Zuflucht zu nehmen
Scheint böse.
Aber da, wo das, was ständig geübt wird, Gewalt ist
Ist es normal und nichts Besonderes.
Der Kommunismus ist nicht das Äußerste
Aber wenn er nicht verwirklicht ist, gibt es keinen Zustand, der
Selbst von einem Unempfindlichen auf Dauer ertragbar wäre.
Der Kommunismus ist wirklich die geringste Forderung
Das Allernächstliegende, Mittlere, Vernünftige.
Wer sich gegen ihn stellt, ist nicht ein Andersdenkender
Sondern ein Nichtdenkender, ein nur an sich Denkender.
Niemand hat das Recht, daraus, daß wir kämpfen
Den Schluß zu ziehen, wir seien nicht objektiv. Der scheinbar
Objektive bürgerliche Skeptiker erkennt nicht oder
Will nicht erkennen lassen, daß er in diesem großen Kampf
Mitkämpft, indem er die permanente, aber durch den Usus
Lange Zeit dem Bewußtsein entrückte Ausübung der
Gewalt durch eine kleine besitzende Schicht
Nicht Kampf nennt. Es ist notwendig, dieser besitzenden Schicht auch
Sämtliche »Güter idealer Art« aus den Händen zu schlagen.
Was immer weiterhin »Freiheit«, »Gerechtigkeit«, »Menschlichkeit«
Bedeuten sollen – bevor diese Begriffe
Nicht von allem gereinigt sind, was ihnen von ihrem
Funktionieren in der bürgerlichen Gesellschaft anhaftet, werden sie
Nicht mehr gebraucht werden können. Unsere Gegner sind
Gegner des Menschengeschlechts. Sie haben
Nicht »recht« von ihrem Standpunkt aus: das Unrecht
Besteht in ihrem Standpunkt. Sie müssen vielleicht
So sein, wie sie sind, aber sie müssen nicht sein. Es ist
Verständlich, daß sie sich verteidigen, aber sie verteidigen
Den Raub und die Vorrechte, und verstehen darf hier nicht heißen
Verzeihen. Der dem Menschen ein Wolf ist, ist kein Mensch, sondern
Ein Wolf
Furchtbar
Böse
Unempfindlich
Stets nur das Äußerste wollend, was selbst zum kleinsten Teil verwirklicht
Die ganze Menschheit immer wieder ins Verderben stürzte.

Die Klassiker und ihre Zeit
Die Klassiker lebten in den finstersten und blutigsten Zeiten.
Sie waren die heitersten und zuversichtlichsten Menschen.