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Brutaler Gesundheitsmarkt  (Manfred Lotze)

Das Gesundheitswesen ist so krank wie unsere Kultur, infiziert vom Kommerz. Mit den Traditionen der Solidarität und der Menschenrechte paßt das postmoderne Menschenbild des homo oeconomicus nicht länger zusammen. Heilen und Pflegen werden konsequent »reformiert«, richtiger: transformiert, nach den Kategorien der »freien«, genauer: kapitaleigenen Marktwirtschaft.

Eine der Hauptlügen der Ideologen des Freien Marktes ist die Behauptung, unser Gesundheitswesen werde immer teurer. Tatsächlich liegen seine Kosten seit über 30 Jahren zwischen 10,1 und 10,6 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Oliver Decker, der an den Universitäten Siegen und Leipzig Sozial- und Organisationspsychologie lehrt, sagt: »Das Problem ist nicht, daß die Kosten steigen, sondern daß die Kosten nicht steigen können und damit die Wertschöpfung nicht weiter ansteigen kann.« Der Anteil am BIP konnte so lange nicht steigen, weil er reglementiert war. Das Gesundheitswesen wird nun aber seit 20 Jahren nach Maßgabe seiner Industrialisierung Zug um Zug dereguliert. Vorbild sind die USA mit den exorbitant höheren Kosten, weil dort Gesundheit eine Ware in der Gesundheitswirtschaft ist.

Nach welchem nationalen Reglement der von einem moralischen Standpunkt gesehen besonders heikle Gesundheitsmarkt profitorientiert umgebaut wird, habe ich in Ossietzky 8/08 (»Alles auf eine Gesundheitskarte?«) umrissen. Den internationalen Rahmen für den neoliberalen Ausverkauf des Menschenrechts auf Gesundheit stellte das Allgemeine Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (GATS) her, dem 1995 auch Deutschland beitrat.

Die Schlüsselrollen auf dem Gesundheitsmarkt spielen: elektronische Gesundheitskarte, elektronische Patientenakte und Telemedizin. Vorgeschobene Argumente sind Stärkung der Patientenrechte, der Transparenz und des Services. Die Speicherung der Gesundheitsdaten aller Bürger auf zentralen Servern der Versicherungen entwerten das Arzt-Patienten-Vertrauen und legen wichtige Entscheidungen in die Hände der Health Care Manager und der Angestellten der Call Center, um die Versorgung nach Leistungskriterien zu begrenzen. Das Versorgungsrisiko der Patienten, das sie individuell oft nicht erkennen und meist auch nicht abwehren können, ist Folge der Wettbewerbsideologie. Unsere regierenden Gesundheitspolitiker übernehmen die Lobby-Strategien von Roland Berger und Bertelsmann und machen Patienten zu Kunden. »Kranke können jedoch in der Regel die Kundenrolle, derer funktionierende Märkte bedürfen, nicht spielen. Es wird unterstellt, die Patienten seien durch Informationsbeschaffung in der Lage, die Rolle eines Geschäftspartners und kritischen Kunden zu spielen. Was hier nicht vorkommt, ist die ›brutale Realität des Krankseins‹ als emotionales Ereignis. Verdrängt wird, daß Krankheit eine existentielle Bedrohung in sich birgt und daß die Kranken konfrontiert und bedrückt sind mit Schmerzen und Sorgen um Gefahren von dauerhafter Behinderung und Tod.«(Hagen Kühn: »Wettbewerb im Gesundheitswesen?«, erschienen in: Westfälisches Ärzteblatt, 6/04). Wirtschaftlicher Wettbewerb bringt die Ärzte in Identitäts- und Interessenkonflikte. In Ärzteschaft und Pflegeberufen wächst die Frustration.

Besonders brisant wird die Krankendatenspeicherung vor dem Hintergrund des zentral gesteuerten Netzwerks mit Job Card und elektronischem Personalausweis – dieser angedacht noch mit RFID‘s, passiv ablesbaren Speicherchips.

Die Solidarität, das Prinzip der gegenseitigen Hilfe ohne Vorbedingungen und die informationelle Selbstbestimmung bleiben bei diesen Verwaltungs- und Überwachungstechniken auf der Strecke. Michel Foucault hat die Rationalität unserer Gesellschaft als eine ökonomische beschrieben, und folglich steht das Wirtschaftsindividuum, der Gesundheitskonsument unter der Selbstkontrolle. Diese geht heute schon so weit, daß Patienten ihre Krankenakte selber bei Internet-Anbietern speichern können. Sie fragen: Welches Geld steht mir noch für welche Zusatzleistungen zur Verfügung? Welche Vorsorge erfülle ich wann? Habe ich persönliche Gesundheitsrisiken minimiert? Wie dokumentiere ich das? War ich regelmäßig beim Arzt? Habe ich Angebote meiner Versicherung wahrgenommen? Und so weiter.

So erhält Krankheit wieder den Stempel der Schuld. Gleichzeitig kommt der gesunde Körper, lange bevor er erkrankt, unter das Vorzeichen von Krankheit. Das ist eine neue Entwicklung, die Ivan Illich als Medikalisierung des Lebens beschrieben hat: »Gesunde Menschen brauchen keine bürokratische Einmischung« (in »Die Nemesis der Medizin«, 1977).

Die Alternative besteht in der Demokratisierung des Gesundheitswesens nach den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation, aufgestellt in Alma Ata 1978. Sie fundiert auf drei Prinzipien: der Förderung von sozialer und ökonomischer Gerechtigkeit, der Sicherung multisektoraler Vorbedingungen für Gesundheit (Trinkwasser, Sanitärsysteme, Wohnung, Ernährung, Gewaltprävention) und der Partizipation der Betroffenen, die das Expertentum entmystifizieren.

Das alles ist ohne Vergesellschaftung aller Bereiche, die für Gesundheit relevant sind, nicht zu haben. Für die pharmazeutische Industrie bedeutet das einen öffentlichen, nicht profitorientierten Sektor und einen privatwirtschaftlichen für alle nicht ärztlich verordnungspflichtigen Waren. Die derzeitige Entwicklung läuft entgegengesetzt mit integrierten Systemen, also Konzernklinik mit Medizinischem Versorgungszentrum, verbunden mit konkurrierenden Versicherungen und Pharmafirmen, Stichwort »Rhön-Patient«.

Was ist hier und heute wichtig?

Datenschutz für personenbezogene Krankheitsinformationen, also ausnahmslos keine zentralen Serverstrukturen.

Deshalb keine elektronische Gesundheitskarte, keine elektronische Patientenakte und Stopp der ambulanten Kodierrichtlinien! Letztere sehen detaillierte Codierungen aller Diagnosen für die Krankenkassen vor, die mit einem sehr hohen Dokumentations- und Arbeitsaufwand verbunden sind. Da die Krankenkassen aus dem Gesundheitsfond einen umso höheren Anteil an Beitragsgeldern erhalten, je spezieller die Diagnosen codiert wurden, ist der Kunde Patient profitabler, wenn er kränker ist. In den Kliniken gibt es vergleichbare Vorschriften schon seit Jahren (DRG), um die sich angestellte, nicht ärztliche Codierer kümmern. Für Praxisärzte ist keine Bezahlung dieses Aufwandes im Interesse der Versicherungen vorgesehen. Für die Patienten bleibt ein ärztlicher Dienstleister übrig, der durch Zwänge der Bürokratisierung, Ökonomie und der ethischen Konflikte selbst zum Patienten werden kann.

Bürgerversicherung, Gesundheitsförderung, Patientenbeteiligung und -mitbestimmung in allen relevanten Gremien, Versorgungsqualität statt betriebswirtschaftlicher Zwänge und integrierte Versorgungsstrukturen sind wichtige gesundheitspolitische Forderungen. Beim Engagement gegen die genannten neoliberalen Schlüsselprojekte darf freilich der Zusammenhang mit der Systemfrage nicht außer acht gelassen werden. Ohne deren sozialistische Lösung ist der Raubbau an den natürlichen Voraussetzungen für Gesundheit nicht aufzuhalten.