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Titel1115

Kriegserklärung gegen den Sozialstaat  (Georg Rammer)

Der Kurs der Bundesregierung sei durch Regulierung, Bürokratie, Anspruchsdenken und immer neue Umverteilungspläne von oben nach unten bestimmt, lesen wir. Wie bitte? Ob solcher Realitätsverleugnung kann man nur ungläubig den Kopf schütteln. Aber statt in den Papierkorb der Redaktionen kommt die Meldung in mancher Tageszeitung auf die erste Seite. Denn diesen verblendeten Blödsinn verkündet niemand Geringeres als »die Wirtschaft«.


Wer ist denn »die Wirtschaft«? Verfaßt haben das hochtrabend »Manifest« genannte Pamphlet »Das Deutschland-Prinzip – Was uns stark macht« die Arbeitgeberverbände, der Bundesverband der Deutschen Industrie, die Branchenverbände von Metall, Chemie und Automobil und die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). Die Menschen, die in diesen Industrien arbeiten, zählen offensichtlich nicht zur »Wirtschaft«: Ihre Meinung war nicht gefragt.


»Die Wirtschaft« verlangt: Weg mit Mindestlohn, Rentenpaket und ausufernder Sozialpolitik! Sie will die rasche Umsetzung der Freihandelsverträge TTIP und CETA und vor allem »Freiheit für die Wirtschaft«. Es ist wohl sinnlos, diesen profitgeleiteten Interessen die Fakten entgegenzuhalten: Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer, die Altersarmut steigt massiv an, die Zahl der Menschen in atypischer Beschäftigung ebenfalls, die »Rekordbeschäftigung« basiert auf Wachstum im Niedriglohnbereich (wo zu 70 Prozent Frauen arbeiten). Die Langzeitarbeitslosigkeit verfestigt sich. Die Lebenserwartung von Kindern in Familien mit niedrigem Einkommen ist um zehn Jahre geringer als in wohlhabenden.


Die andere Seite: »Die Anteilseigner deutscher Aktiengesellschaften können sich über den üppigsten Geldregen der Geschichte freuen … Rekorddividende … zum fünften Mal in Folge«, meldet dpa (14.4.2015). Vom Wirtschaftswachstum profitieren fast ausschließlich die Wohlhabenden. Deutschland ist eine Klassengesellschaft, in der das Volk durch eine wirtschaftlich-politische Elite enteignet wird. All das reicht aber den Industrie- und Arbeitgeberverbänden und der INSM nicht. »Der Mindestlohn ... schadet unserem Standort, gefährdet Arbeitsplätze und widerspricht damit dem Deutschland-Prinzip« (INSM). Nicht einmal zum Leben soll der Lohn reichen. Die Lobbyisten »der Wirtschaft« wollen ihre Hungerlöhne vom Staat, von den Steuerzahlern subventionieren lassen. Mit unheimlicher Empörung wollen sie auch noch eine minimale Erhöhung der Erbschaftsteuer verhindern. Besonders aufdringlich wirbt INSM für einen weiteren Geldregen für Investoren und Aktionäre. Das ist nicht überraschend, denn sie ist eine von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanzierte stramm neoliberal ausgerichtete Lobbyorganisation. Treffender und der Wirklichkeit näher stünde INSM für »Initiative Neoliberalismus, Sozialdarwinismus und Marktradikalismus«.


Die Forderungen der Wirtschaftselite sind eine Kriegserklärung gegen Sozialstaat und Demokratie und gegen einen Großteil der Bevölkerung. Sie sind zynisch und voller Verachtung: »Die Arbeitskraft hat einen Preis, wie ihn auch Schweine haben«, sagte der frühere Präsident des BDI Michael Rogowski. Und die Forderungen offenbaren ein inhumanes Wertesystem. Im Rahmen der Studien zu »Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit« stellte der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer eine anwachsende »rohe Bürgerlichkeit« fest. Sie zeichne sich dadurch aus, daß »sie sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der sozialen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert … und einen Klassenkampf von oben inszeniert«. Menschen nach Nützlichkeit, Verwertbarkeit, Effizienz beurteilen: So eklatant das den Grund- und Menschenrechten widerspricht, ist es doch offizielle EU-Austeritätspolitik, und gegenüber Flüchtlingen wird sie besonders brutal exekutiert. Bundespräsident Joachim Gauck sagte nach dem Besuch eines Lagers für Flüchtlinge auf Malta: »Wollen wir die alle zurückschicken? Oder brauchen wir nicht einen Teil dieser, äh, Menschen, die eine ganz große Energie haben? Sonst hätten sie es nicht bis hierher geschafft.« (ARD-Tagesthemen, 30.4.15) Ja, einen Teil dieser, äh, Menschen können wir verwerten

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Überraschende Einsichten fördert eine andere Meldung. »Wenn der Mensch zum Monster wird«: Unter dieser Überschrift hatte Fokus online typische Persönlichkeitsmerkmale von Psychopathen beschrieben: »Sie sind oft äußerst charmant, eloquent, selbstbewußt … Psychopathen sind skrupellos, manipulativ und ohne jedes Mitgefühl für ihre Umwelt … Viele sind äußerst erfolgreich im Beruf: Ihre Rücksichtslosigkeit, ihr übersteigertes Selbstwertgefühl und ihre Risikobereitschaft bringt sie in Machtpositionen. Weil es den Psychopathen an Empathie fehlt und sie keine Furcht empfinden, können sie sich besonders gut durchsetzen.« Ohne die Wirtschaftselite psychopathologisch analysieren zu wollen: Das Persönlichkeitsprofil eines erfolgreichen Managers könnte anschei-nend dem Handbuch für Psychopathie entnommen sein, wie Paul Verhaeghe feststellt (vgl.: »Und ich? Identität in einer durchökonomisierten Gesellschaft«, München 2013).


Werden wir von asozialen, skrupellosen Eliten beherrscht? Wie konnte sich eine solche schamlose Haltung durchsetzen, zur dominierenden Ideologie werden? Anscheinend kamen die neoliberalen Postulate den Interessen der Kapitalisten in den 1980er Jahren entgegen. Ziel der »alternativlosen« Theorie der Chicago-Boys, der radikalen Initiatoren des Neoliberalismus, war nicht nur die Durchsetzung einer Wirtschaftslehre, sondern auch ein neues Wertesystem und eine Haltung, die durch Egomanie und Rücksichtslosigkeit charakterisiert werden kann. Und sie haben offensichtlich einen »guten Job« gemacht, ihre Maxime ist »gut aufgestellt« – dank der Politik.


Grundlage des Neoliberalismus ist ein unwissenschaftliches misanthropes Bild, das allerdings im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung immer mehr real wird. Der Mensch sei egoistisch, immer auf seinen Vorteil bedacht. Individuelle Empathie und gesellschaftliche Solidarität würden nur den notwendigen Leistungswettbewerb verfälschen. Soziale Gerechtigkeit? Sie bestrafe die marktkonformen, durchsetzungsfähigen Menschen, die sich selbst optimieren für den Konkurrenzkampf; Verlierer verdienen keine Unterstützung. Deshalb kann und muß der soziale Rechtsstaat samt Daseinsfürsorge entsorgt werden. Skandale um politische Korruption, maßlose Bereicherung, Steuerkriminalität et cetera nimmt die Bevölkerung nur noch mit Schulterzucken zur Kenntnis, denn sie sind alltäglich geworden. Gerade die »Leistungsträger« haben sich nämlich die neoliberale Ideologie zu eigen gemacht und in ihrem Sinn als Lizenz zur Anhäufung von Macht und Reichtum genutzt. Stünden sie für soziale Gerechtigkeit ein, würden sie nicht nur den sozialdarwinistischen Prozeß der Vermarktung und der Selektion unterhöhlen – sie selbst wären im Denksystem der Neoliberalen Versager und Verlierer.


Was zunächst in Chile brutal erprobt und dann von Reagan, Thatcher, Blair und Schröder in den Metropolen des Kapitalismus rigoros durchgesetzt wurde, beherrscht inzwischen Politik und Gesellschaft und wurde von vielen Menschen als selbstverständliche, quasi natürliche Norm internalisiert. Die Ungleichheit durch Verwertung und Ausbeutung von Menschen hat eine Dimension erreicht, die nicht durch ein paar Gesetze und schon gar nicht durch freiwillige Regeltreue, sogenannte Compliance, eingedämmt werden kann.


Menschen sind Arbeitssklaven; sie gelten nicht viel. Stürzt mal eine Sklavenfabrik ein, wo »unsere« Konzerne unter menschenunwürdigen Bedingungen schuften lassen, kommen dabei – wie in Bangladesch – 1127 Menschen um, so ist das für die Konzerne allenfalls ein Grund, über den Imageschaden nachzudenken. Genauso wie die Re-gierungen der EU die Tausenden toter Flüchtlinge im Mittelmeer nur zu verstärkten Abschottungsmaßnahmen veranlassen. Selbst dort, wo PolitikerInnen vorgeben, eine menschenrechtsorientierte Politik zu betreiben, etwa in der Migrationsförderung, offenbart sich die Bewertung nach Nützlichkeit: Junge, gut ausgebildete Leute aus den ausgelaugten südeuropäischen Staaten sind willkommen, andere werden diskriminiert und verfolgt. Menschen als Ware, die man beliebig ausnutzen kann, das ist das Prinzip dieses Systems. Es treibt Millionen von Menschen und ganze Staaten in den Ruin und in Verzweiflung. Die »Täter« sitzen in der Europäischen Zentralbank (EZB), im Internationalen Währungsfonds (IWF), leiten die Europäische Union und die Troika, managen Hedgefonds und sind Großinvestoren, führen transnationale Konzerne und Banken – sie schaffen eklatante Ungleichheit von Lebenschancen; verursachen eine erschreckende soziale Kälte, Gleichgültigkeit und Brutalität.


Babys und Kleinkinder entwickeln schon sehr früh die Fähigkeit, sich in andere Menschen einzufühlen, mitzuempfinden und die Sicht von anderen zu übernehmen. Menschen ohne Mitgefühl sind emotionale Krüppel, Gesellschaften ohne Solidarität werden anomisch, also desorientiert und entfremdet, und sie ähneln einer sozialdarwinistischen kriminellen Organisation. Immer wieder werden wir Zeugen eines staatlich geförderten inhumanen Projekts: das »Prinzip Verrohung«.