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Titel1120

Klarheit für den Kopf  (Klaus Nilius)

Es geschah beim Neptunbrunnen in Berlin-Mitte. Auf Twitter habe ich den Vorgang gesehen, am 16. Mai, dem Samstag, an dem an mehreren Orten in Deutschland gegen angeblich »übertriebene« Regulierungen und Beschlüsse von Bund und Landesregierungen zur Eindämmung der Corona-Pandemie gewettert wurde. Und gegen so manches andere.

 

Auf Twitter habe ich ihn tanzen gesehen, vor dem Brunnen mit seinen vier Frauengestalten, die vier Ströme personifizieren sollen. Er tanzte wie der Handelsvertreter, die Hausfrau, der Feuerbestatter, der Pfandleiher, wie das ganze von einer Tarantel gebissene und andere infizierende Personal in einem Bänkellied des frühen Degenhardt getanzt hat: »Er hüpfte und tanzte die Straße entlang, wobei er mit Hüfte und Armen schwang. Eins und zwei, drei und vier, fünf, sechs tadum …« (LP »Rumpelstilzchen«, 1963). Vom Brunnenrand her wurde eine Bongo-Trommel geschlagen. Tadum. Weitere Tänzerinnen und Tänzer kamen hinzu, auch Kinder. Beklatschten den Vortänzer, den Vorsänger, der immer wieder dieselben Sätze rief: »Befreit euch von den Massenmedien … Ich liebe das Leben, Gott, meinen Nachbarn. Der Virus existiert nicht.« Dazwischen manches, was ich akustisch nicht verstand. Wortfetzen wie »Überwachungsstaat«, »BND«, »Abfall«, von dem man sich befreien, den man beiseite schmeißen soll.

 

Und so tanzte er seinen Tanz der Irr-Rationalität gegen die Rationalität der Demokratie, gegen eine »gefährdete Rationalität«, wie Julian Nida-Rümelin in seinem neuesten Buch diagnostiziert. Der frühere Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie lehrt heute an der Ludwig-Maximilians-Universität München Philosophie und politische Theorie. Im März wurde er selbst sozusagen ein Opfer von Corona, dies hinsichtlich der Premiere seines Buches: Im KörberForum in Hamburg sollte er mit einem NDR-Journalisten diskutieren und anschließend auf Lesereise gehen, auch nach Leipzig zur Buchmesse. Alles abgesagt.

 

Nida-Rümelin hat seinen »politischen Traktat«, wie er die Schrift im Untertitel nennt, im September 2019 abgeschlossen, als in den Debatten um den Populismus die Sorge um die Verrohung des Tons und die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren dominierte. Inzwischen hat sich dieser Ton verschärft: zu beobachten auf vielen Plätzen im Lande und millionenfach in den Medien des World Wide Web. Hier treffen alle aufeinander: Bürgerinnen und Bürger, die um ihre Freiheitsrechte bangen, mit ihren teils nachvollziehbaren Motiven, rabiate Impfgegner, notorische Merkel- und Politik-Kritiker und Besserwisser, Verschwörungs»theoretiker« mit ihren Behauptungen von dunklen Mächten hinter dem Virus, Rechtsextreme, die eine antidemokratische Stimmung anheizen und im Trüben fischen wollen – ein »Festival der Wahnparolen«, wie die FAZ online resümierte.

 

Nida-Rümelin: »Die gegenwärtige Krise der Demokratie kann schwerlich bezweifelt werden. Jedenfalls der Demokratie, wie wir sie in westlichen Ländern kennen, charakterisiert durch Rechtsstaatlichkeit, unveräußerliche Grundrechte, institutionelle Stabilität und Gewaltenteilung, gestützt auf eine politische Kultur des öffentlichen Vernunftgebrauchs.«

 

Der Philosoph übersieht dabei nicht, »wie oft sich die demokratischen Institutionen nicht an ihre eigenen Regeln halten«. Es geht ihm aber um ein »angemessenes Verständnis dessen, was Demokratie ist und was Demokratie folgerichtig nicht ist. Es geht um die spezifische Rationalität der Demokratie und ihre aktuelle Gefährdung«. Sein Ziel ist Klarheit im Kopf, »damit die Praxis wieder Orientierung findet«. Sein Handwerkszeug ist die Analyse, nicht die Polemik, verbunden mit der Zuversicht, dass sich »die politischen, sozialen und kulturellen Grundlagen (der Demokratie) so erneuern lassen, dass sie den aktuellen Herausforderungen gewachsen ist«. Denn für den Buchautor ist die Regierungsform Demokratie nach wie vor unübertroffen.

 

 

Julian Nida-Rümelin: »Die gefährdete Rationalität der Demokratie. Ein politischer Traktat«, Edition Körber, 304 Seiten, 22 €