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Titel1217

Nu jaja – nu nee nee  (Monika Köhler)

Rufe in den Saal: »Nieder mit den Ausbeutern! Tod der Knechtschaft!« Nein, nicht in Deutschland – da war das Stück verboten, damals, 1893. Die Zuschauer riefen es in Paris. In Berlin waren »Die Weber« von Gerhart Hauptmann nach der Uraufführung am 26. Februar verboten worden. Für die Öffentlichkeit freigegeben wurden sie erst am 25. September 1894 für das Deutsche Theater, weil durch die hohen Eintrittspreise nicht zu befürchten sei, dass Arbeiter und Arbeitslose dorthin kommen, die »aufgereizt werden könnten«, berichtete Der Sozialist.

 

Jetzt in Hamburg, im Thalia-Theater, dieses Stück des Aufruhrs in der Inszenierung des ungarischen Regisseurs Kornél Mundruczó. »Nach Gerhart Hauptmann« heißt es im Programmheft und »mit Texten von Kata Wéber«. Bei der Zahl der Schauspieler wurde gewaltig gekürzt, dafür bevölkern viele »Weber«-Kinder die Bühne (Márton Ágh), die zweigeteilt ist in ein helles Oben und ein dunkles Unten. Unten, das ist Wohnung und Arbeitsplatz der Weber, alles vollgestellt und eng, die Decken niedrig. Staub. Die Arbeiter tragen Mundschutz. Und der Lärm! Da wird geklopft und gehämmert – ohrenbetäubend. Befinden wir uns im Jahr 1844? Heute doch nicht – hier in Deutschland. Vielleicht in Asien. Ein Arbeiter tritt an die Rampe, hält ein Paar Jeans hoch, will 50 Euro dafür. Keiner will sie. Er senkt den Preis bis auf 20 Euro. Das ist zu billig. Ein anderer macht was aus der Hose, schneidet Löcher hinein, erzeugt Fransen, Farbkleckse, zieht sie durch ein Säurebad. Nun soll sie 500 Euro kosten. Warum so teuer? »Weil viele Menschen mit ihrem Leben dafür bezahlen.« Das war der Prolog.

 

Der erste Akt findet im hellen Oben statt, in einer Edelboutique in Hamburg. Aber nicht auf der Bühne, auf der Video-Leinwand. Die Weber liefern ihre Ware ab, auch hier wird eine Hose zerrissen – nicht gut genug? Der Lohn reicht nicht aus. Ein Kind sagt: »Mich hungert« – den Fabrikanten Dreissiger (Bernd Grawert) interessiert nur, dass sein Champagner zu wenig perlt. Die Mutter Emma Baumert (Marie Löcker) will kein Aufsehen, nur eine ganz kleine Lohnerhöhung. Der Unternehmer ist der Bedauernswerte. Soll er den Laden hier zumachen oder 200 Arbeiter einstellen, zusätzlich? »Seid ihr nicht zufrieden mit eurem Geld?« Sie sagt eingeschüchtert ein unterdrücktes »Ja«.

 

Der zweite Akt: im unteren Teil der Bühne, im Gewimmel der Weber und ihrer Kinder. Texte werden nach oben projiziert, schlesischer Dialekt, in dem Krach ohnedies nicht zu verstehen. Auch verdecken die Maschinen, Tische, Stoffballen, Tragebalken die Sicht auf die Akteure. Mundruczó ist vor allem Filmregisseur, das gibt ihm ganz andere Möglichkeiten, die Schauspieler ins Licht zu rücken. Arbeit bis zur Erschöpfung, Krankheit, Hunger. Der Hund muss dran glauben, wird geschlachtet. Einmal Fleisch auf dem Teller! Sichtbar hängt sein toter Körper von der Decke. Der kleine Fritz kann nichts davon essen. Er wird gezwungen. Moritz, der »rote« Bäcker (Jörg Pohl), einer, der Aufruhr schürt, den Webern ihre Lage hautnah schildert. Aber das »Weberlied« oder das »Blutgericht« – im Stück heißt es, es sei verboten, das zu singen – in Hamburg wird es heute abgelöst durch Trommeln, den »Bolero« von Ravel oder wilde Rhythmen. Die Dramaturgin Kata Wéber sagt im Programmheft: »Den Text stelle ich hinten an, da er nur eine Möglichkeit von vielen ist.« Herrsche der Text allein auf einer Bühne, nehme er »die Interpretation eines ganzen Werkes vorweg«. Und wenn sich die Essenz des Stücks in bestimmten Text-Passagen ausdrückt? Kata Wéber meint, man müsse »den Text seiner Exklusivität berauben«. So schaffe man Realität. Diese Haltung führt dazu, dass die Revolte auf eine Trommel-Orgie reduziert wird – und auf ein paar umstürzende Kulissenteile. Die Kinder sind es, die wild um sich schlagen: aufs Schlagzeug. Ach ja, der rote Bäcker macht auch mit.

 

Im dritten Akt kommt ein Kunde mit Sonnenbrille in die Edelboutique, den »Concept Store« (bei Hauptmann der Reisende). Leere. Dann stürmen Kinder hinein, bedienen ihn, zwingen ihn, mehr zu kaufen, als er will und braucht, er muss alles übereinanderziehen, gewaltsam. Er: »Wenn ich mehr kaufe, hast du mehr Arbeit.« Arbeit – kein Geld. Kinder werfen den Kunden raus, singen, zünden Fackeln an, heben die Arme hoch. Der Aufstand?

 

Vierter Akt: Pastor Kittelhaus (Matthias Leja) trifft auf Moritz Bäcker. Streit. »Eure Aufrufe« – welche? – sie seien ja ergreifend, aber der soziale Frieden werde untergraben, so der Pastor. Oben tanzt eine Frau mit Kopfhörern im schwarzen Outfit (Marie Löcker). Lässt sich auf das weiße Sofa fallen. Entblößt sich, zieht ihren Hund zu sich her, der soll ihr die Schenkel lecken, die mit Leckereien bestrichen sind. Dieser Hund lebt, ist so real wie die Revolution irreal und nur angedacht ist. Ihr Ehemann, Herr Dreissiger, kommt, bedeckt ihre Blöße, scheucht den Hund weg. Dann beginnen Szenen, die ihre Angst ausdrücken sollen. Um ihre Goldbarren, um Diamanten. Entweder werden sie gegessen – hartes Brot – oder in den Arsch gesteckt. Alles sehr ausgespielt. Der Zuschauer hat schon verstanden. Nur: Wovor haben sie Angst? Vor den Kindern? Frau Pastor Kittelhaus (Victoria Trauttmansdorff) im hellblauen Mantel auf nackter Haut, kommt dazu. Nestelt am Pelzkragen: »Alles machen sie kaputt.« Es beginnt der Einsturz. Lampen und Putz fallen von der Decke. Säulen kippen, Rauch steigt auf. Jetzt erst fangen unten die Kinder mit dem Trommeln an – eigentlich zu spät. Und beginnen zu schreien. Was? Einfach so.

 

Fünfter Akt: Oben die gebrochenen Säulen, unten an den Maschinen nur ein Mensch, der alte Hilse (Axel Olsson). Er näht weiter und spricht ein Gebet. Dank an den Herrgott. »Jesu Blut und Gerechtigkeit, das ist mein Schmuck und Ehrenkleid.« Spricht von Gottes »Zuchtrute« und »Gib uns Geduld, himmlischer Vater«. Die paar Soldaten fürchtet er nicht. Alles viel kürzer als im ursprünglichen Text. Es prallt etwas an die Scheiben – hinter denen er sitzt, was der Zuschauer nicht sieht. Es raucht. Geschosse. Ein Dröhnen kommt immer näher wie ein Zug. Ein lauter Knall. Dunkel. Stille. Schluss. Hat ihn die Revolution überrollt? Die Kinder, das Trommeln? Getötet ihn, der den Aufstand verurteilte, auf seinen Gott vertraute, der einzige Unbeteiligte. Ihn trifft eine Kugel.

 

Die Haltung des alten Häuslers Ansorge – die viel von Hauptmanns Ambivalenz widerspiegelt, sein »Nu jaja – nu nee nee« – in dieser Inszenierung wird sie überdeutlich. Und der Hund weiß auch nicht, warum er immer wieder auf die Bühne soll beim Schlussapplaus.