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Titel1218

Der lange Arm des Roten Punkts  (Manfred Sohn)

Die Formulierung, jemand sei »ein 68er« enthält außer der meist üblichen männlichen Reduzierung eine weitere Problematik. Sie unterstellt eine Grenze in einer Schärfe, die es so hinsichtlich der Bewegung, die mit diesem Jahr gekennzeichnet wird, nicht gegeben hat. »68« hatte Vorläufer in diversen linken Projekten, die schon mit der ersten großen Koalition von 1966 ihren Ausgangspunkt genommen haben – etwa die Gründung der Außerparlamentarischen Opposition (APO) in Ermangelung einer wirksamen parlamentarischen, ohne die »68« gar nicht erklärbar ist.

 

»68« hat aber nicht nur vor 1968 begonnen, sondern auch nach diesem Jahr weiter ausgestrahlt. Die Rote-Punkt-Bewegung, die neben der Geschichte anderer deutscher Großstädte die der niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover wesentlich und bis heute mitgeprägt hat, hatte ihren Ursprung zwar im Jahre 1969, war aber in gewisser Weise die Geburtsstunde von »68« in der norddeutschen Provinz. Was der Vietnam-Kongress und die großen Demonstrationen für Berlin waren, war für diese Stadt der »Rote Punkt«.

 

Die damals noch privaten hannoverschen Verkehrsbetriebe – die ÜSTRA – hatten die Preise für die am meisten genutzte Sammelkarte damals von 50 auf 66,67 Pfennig, also um 33 Prozent erhöht. Dagegen gab es erst eine relativ kleine Demonstration, dann aber eine im linken Spektrum Hannovers geborene Idee, die schnell Breitenwirkung entfaltete: Wir weiten die Demonstrationen zu Blockaden der Straßenbahnen aus und organisieren gleichzeitig mithilfe der Bevölkerung die Aufrechterhaltung eines öffentlichen Nahverkehrs. Dazu druckte der Allgemeine Studentenausschuss (AStA) der Universität Hannover Flugblätter mit einem dicken roten Punkt. Den konnte sich jeder Autofahrer, der die Forderungen der Bewegung unterstützte, hinter die Windschutzscheibe kleben und so signalisieren, dass er – oder sie – bereit sei, jemanden als Mitfahrer in sein Auto zu nehmen und dorthin zu transportieren, wo er selbst fährt. Auf diese Weise entstanden zuerst in der Innenstadt, dann blitzartig auch an weiteren Knotenpunkten der Stadt Rote-Punkt-Bahnhöfe, wo die Aktivisten dieser Bewegung – oft Schüler, Azubis und Studenten – laut die Orte ausriefen, wohin der Rote-Punkt-Fahrer Leute mitnehmen könne. Als sich zuerst Betriebsräte großer Betriebe, Gewerkschaften und über die damals noch junge Deutsche Kommunistische Partei (DKP) hinaus auch die schon im Rathaus vertretenen Parteien anschlossen, sogar die örtlichen Zeitungen den roten Punkt nachdruckten und schließlich die Stadtverwaltung ebenfalls mitmachte, kippte das Kräfteverhältnis: Im Juni stellte die ÜSTRA für eine Woche den Straßenbahnbetrieb ein – aber das von ihr erwartete Chaos blieb aus. Der Rote Punkt funktionierte. Das materielle Ergebnis wirkt bis heute: Die ÜSTRA wurde kommunalisiert, später (1970) in den bis heute bestehenden Großraumverkehr Hannover (GVH) überführt, und durch Beschluss des SPD-dominierten Stadtrats wurde ein Einheitstarif von 50 Pfennig eingeführt.

 

Der Autor dieser Zeilen ist kein 68er oder 69er. Als die hier geschilderten Aktionen stattfanden, hatte er seinen 14. Geburtstag noch nicht erreicht. Aber der »Rote Punkt« hatte bewirkt, was vorher kein Vietnam-Kongress erreichen konnte: Er prägte die Gespräche am heimatlichen, kleinbürgerlich-spießigen Abendbrot-Tisch der Familie, aus der er kommt. Als dann 1972 die Stadt den Einheitstarif kassieren und durch einen Stufentarif ersetzen wollte, wurde das zur politischen Initialzündung für den inzwischen 16-Jährigen. Der »Rote Punkt« nämlich wurde wieder gedruckt, die Straßenbahnen wurden wieder blockiert, und der Individual- wurde wieder für eine kurze Zeit Kollektivverkehr. Der Autor nahm trotz strenger Hausarrest-Verdonnerung an den Demonstrationen und der Organisation der Rote-Punkt-Haltestellen teil. Und er erlebte – bis heute prägend –, wie die Demonstranten zuerst von den Reiterstaffeln der Polizei auseinandergejagt und dann, in Hauseingänge flüchtend, mit Wasserwerfern, in deren Tanks neben Wasser auch flüssiges Tränengas enthalten war, bis fast zur Atemlosigkeit durchnässt wurden.

 

Wer einen Eindruck von dem damaligen Ereignissen bekommen möchte, kann das übrigens auf einem Amateur-Filmchen sehen, wenn er »Rote Punkt Demo 1972« in seinen Rechner tippt.

 

Die Bewegung erreichte ihre Ziele nicht, der Einheitstarif wurde durch einen Stufentarif ersetzt, der in den Folgejahren immer wieder erhöht wurde. Die damals entwickelten Forderungen warten weiter auf Erfüllung: Nulltarif und Finanzierung des öffentlichen Personennahverkehrs durch eine Nahverkehrsabgabe der Großbetriebe und Kaufhäuser. Aber in dieser Bewegung wurzelte letztlich ein Aufschwung der Kräfte links der SPD, die dann später beispielsweise immerhin dazu führte, dass Hannover die erste westdeutsche Landeshauptstadt mit einem DKP-Ratsherrn wurde.

 

Der Impuls von damals ist inzwischen weitgehend verebbt – aber »68« hatte Wirkungen weiter über diese Jahreszahl hinaus auch in der deutschen Provinz. Zwei Lehren scheinen mir wichtig: Zum einen bekommen Bewegungen dann Wucht, wenn sie nicht nur einen linken Zirkel, sondern sogar die Spießer einer Stadt zu erreichen beginnen. Und zweitens: Gerade die Begrenztheit der materiellen Erfolge dessen, was damals gefordert wurde, zeigt, dass ein Großteil des Erbes dieses Jahres weiter auf seine Einlösung wartet.