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Titel1218

Die Zahl 68 im deutschen Orient  (Matthias Biskupek)

Die herzige Frage kommt bis heute: »Wieso wusstet ihr davon?« Gemeint sind konstruktive Misstrauensvoten oder Großdemos gegen die Nachrüstung, Notstandsgesetze, Kiesingers Nazi-Vergangenheit, ein Innenminister mit dem leicht abgewandelten Namen »Hörcherl«, auch schlichte geografische Namen: Mutlangen, Brokdorf, Wendland. Und natürlich der Wertewandel, den man mit den vier Ziffern 1968 verbindet. Mit »ihr« ist jene Bevölkerung gemeint, die wahlweise in der DDR, der Zone oder in der Unfreiheit einer Unrechtsrepublik lebte.

 

Der Blick in Europa war über Jahrzehnte immer von Ost nach West gerichtet. In Polen und Rumänien kannte man die neuere französische Bühnendramatik, Franzosen oder Niederländer wussten wenig von Bukarest oder Warschau. In Deutschland war trotz oder wegen gemeinsamer Sprache und leichtem Informationszugang alles noch verschärfter. Wir, also »ihr«, wussten (fast) alles über euch, also »uns«; umgekehrt galt dies kaum.

 

Wir wussten, dass Dutschke aus dem brandenburgischen Luckenwalde kam und fühlten uns wenig beseligt von seiner Sprachdiktion, erinnerte uns die, den Furor abgerechnet, doch stark ans DDR-Funktionärsdeutsch. Wir hatten in unseren besseren Zeitschriften über die seltsame Rolle der französischen KP in den Maitagen 1968 gelesen und die erste damals wirklich noch große Koalition mit Interesse verfolgt. Gewiss, wer offizielle DDR-Sprachrohre aus jener Zeit heute vernimmt, wird immer nur ein Stück der Wahrheit erfahren, aber es gab schließlich Bücher mit anderslautenden Wahrheiten. Es gab Radio und Fernsehen, aus deren Kanälen wir allzeit zwei verschiedene Wahrheiten erfuhren.

 

Wir waren in jenem Jahr aber stärker als von Ho-Chi-Minh-Rufen von einem Ereignis an der Südgrenze unseres Landes fasziniert: Der Aufbruch in Prag, die von der dortigen Parteiführung ausgehende Erneuerung. Die Tschechen und Slowaken wollten aus ideologischen Kästen ausbrechen. Im Deutschunterricht hatten wir gerade gelernt, dass die Aufklärung im 18. Jahrhundert just dies war: Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Beim slawischen Brudervolk – wir hatten im Osten nur Brudervölker – galt jetzt eine andere Offenheit, viel später mit dem russischen Wort »Glasnost« bezeichnet.

 

Als wir nach den Großen Ferien (damals wirklich groß, wenigstens acht Wochen lang) im September wieder zur Schule gingen – ich war in die zwölfte, die Abiturklasse, gekommen – war der 21. August, der Einmarsch der Sowjetunion mit anderen Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei, großes Thema. Obwohl wir in den Organen (Zeitungen hießen in der DDR Organe) und von einigen Lehrern gesagt bekamen, wie wir das bewerten sollten, hatten wir eigene Köpfe.

 

Besonders bewegte uns, dass deutsche Soldaten, also jene Nationale Volksarmee (NVA), die auch nach uns, den männlichen Schülern, gierte, beteiligt gewesen sein sollten. Was hatten deutsche Soldaten in einem Ausland zu suchen, in dem sie vor gut zwanzig Jahren gewütet hatten? Unser Geschichtsunterricht war offensichtlich nicht ganz falsch gewesen. Dass die NVA gar nicht einmarschiert war, sondern in erzgebirgischen Wäldern zeltete, erfuhren wir erst viel später. Jetzt dachten wir: Niemals Einmarsch deutscher Soldaten in fremde Länder.

 

Das wollten wir – vorsichtig – in einer Entschließung formulieren. Die Struktur für derlei nannte sich FDJ, die staatliche Jugendorganisation, in der fast alle Abiturienten Mitglied waren.

 

Ich war stellvertretender Gruppenvorsitzender in der FDJ. Mit meiner Vorsitzenden und dem Gruppenrat waren wir uns einig: Wir sprechen uns nicht direkt gegen den Sowjeteinmarsch aus, vielleicht gab es wirklich konterrevolutionäre Spuren in diesem uns eigentlich lieben Nachbarland. Doch NVA-Soldaten hatten dort nichts zu suchen.

 

In der Parallelklasse – wir waren eine zweizügige Erweiterte Oberschule mit dem Dichternamen »Erich Weinert« – wollte der Gruppenchef eine kraftvolle Zustimmung formulieren, besonders für unsere tapferen NVA-Soldaten. Vielleicht war er wirklich der Meinung, dass die NVA auch in diesem Fall treu an der Seite des Großen Bruders stehen müsse, weil der Einmarsch »erforderlich und angemessen« sei …, jetzt bin ich doch fünfzig Jahre zu weit vorgeprescht und habe die damalige FDJ-Sekretärin Angela Kasner in der Jetztzeit mit ihrer Bombardierungsbefürwortung zitiert.

 

Also, vielleicht hatte damals der Parallelgruppenchef auch nur von seinem Parteivater einen Wink bekommen: Es macht sich gut bei den Lehrern, wenn du nicht knieweich wirst, sondern sofort und knallhart zustimmst: Wo ein NVA-Soldat marschiert, marschiert er zu Recht!

 

Nun hatten wir einen Klassenlehrer, der im sächsischen Mittweida zur sogenannten Erich-Loest-Generation vom Jahrgang 1926 gehörte. Mit Loest war er befreundet gewesen und hatte, wie dieser, noch ein viel zu großes Stück vom Krieg mitmachen müssen. Der sagte uns zum einen: Nein, nochmal müssen Deutsche nicht irgendwo einmarschieren. Ich hab’s erlebt, danke! Zum andern sagte er: Natürlich ist der Wunsch verständlich, fest an der Seite des Fortschritts zu stehen – aber: Lasst doch mal beide eure Erklärungen stecken. Man muss nicht zu allem sich öffentlich äußern. Ihr macht euer Abitur, und das ist das Beste für die Republik.

 

So geschah es. Meine westdeutschen Generationsgefährten dürfen abwinken: Was wart ihr doch für feige Socken! Man muss doch als junger Mensch was riskieren, den Herrschenden widersprechen, auf die Straße, Nieder! oder Hoch! rufen …

 

Manche aus meiner Generation waren mutig – und flogen von der Schule. Manche davon machten später in Ost oder West Karriere. Mancher im Westen 1968 erhoffte und später vielleicht erkämpfte Wertewandel war im deutschen Orient längst eingetreten. Frauen durften dort schon immer ohne Erlaubnis ihrer Männer arbeiten, der Paragraf 218 war auch offiziell bald abgeschafft, ehemalige Nazi-Richter gab es nicht, und an der Hochschule, an der ich alsbald studierte, gab es eine Hochschulreform. Längst waren Studenten, selbstverständlich auch die weiblichen, in allen Gremien vertreten – auch wenn sie oft nur formale Rechte hatten.

 

Und was mir seit diesem Jahr 1968 ein dauernder Wunsch geblieben ist: Deutsche Soldaten haben in anderen Ländern nichts zu suchen.