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Dead Woman Walking?  (Johann-Günther König)

George Osborne, der von Premierministerin Theresa May bei ihrem Amtsantritt vor knapp einem Jahr entlassene Schatzkanzler, bezog sich mit seiner Einschätzung »Dead Woman Walking« nach der vorgezogenen Wahl des Unterhauses am 8. Juni sprachspielerisch auf den US-Film »Dead Man Walking« – hierzulande mit »Sein letzter Gang« betitelt. Der Spielfilm aus dem Jahr 1995 setzt sich allerdings mit der nach wie vor praktizierten Todesstrafe auseinander …

 

Theresa May hat sich verkalkuliert. Statt des von ihr erhofften Wahldebakels der Labour Party erlitt ihre Conservative Party ein solches und verlor die absolute Mehrheit im Parlament. Das wird allen politischen Gepflogenheiten nach Folgen zeitigen, zumal Mays Autorität, sprich ihre im Wahlkampf endlos wiederholte Formel, nur sie gewähre dem Königreich eine »starke und stabile Führung«, nun von gestern ist. Jedenfalls haben nicht nur viele – besonders jüngere – Briten ihrem harten Brexit-Kurs und ihren widersprüchlichen sozialpolitischen Heilsversprechen eine Absage erteilt. (Umfragen zufolge wählten rund 70 Prozent der 18- bis 24-jährigen Wahlberechtigten Labour.) Auch in den Reihen der Konservativen formieren sich inzwischen die Kräfte, die auf einen sogenannten sanften Brexit dringen und Theresa May lieber heute als morgen aus dem Amt kegeln wollen. Ob die Entlassung ihrer für den von der Presse als election mess gegeißelten Wahlkampf mitverantwortlichen Berater ausreicht, ist jedenfalls die Frage, und der erfolgte Umbau des Kabinetts dürfte auch keine gemütlicheren Zeiten nach sich ziehen. Der neue Umweltminister Michael Gove, der 2016 beim Premierauswahl-Geschacher May unterlegen war, beantwortete die Frage, wie lange sie wohl noch Chefin im Ring bleiben werde, bezeichnenderweise so: »Ich finde, dass sie einen phantastischen Job macht – im Moment.« (vgl. Guardian 12.6.2017)

 

Am Tag nach der Wahl beauftragte die Königin Theresa May, eine neue Regierung zu bilden. Als Rettungsanker soll nun die in jeder Hinsicht erzreaktionäre und auf einen harten Brexit drängende nordirische Partei DUP den Machterhalt ermöglichen. Eine Partei übrigens, die die Todesstrafe wiedereinführen will und die mit Arlene Foster die Chefin der nordirischen Regionalregierung stellte, bis das vorgeschriebene Einheitsbündnis mit der linken Partei Sinn Féin zerbrach. Letztere verließ das Regierungsbündnis wegen skandalöser Mehrkosten für ein Förderprogramm für erneuerbare Energien, das Foster aufgelegt hatte. Statt First Minister in Nordirland – wo die Regierungskrise nach wie vor unbewältigt ist – kann die DUP-Führerin nun Zünglein an der Waage für Mays Minderheitsregierung spielen. Gemeinsam kämen die beiden Parteien auf 328 Mandate – genug für die hauchdünne Mehrheit von einer Stimme im Unterhaus. Wie es scheint, wird eine Zusammenarbeit von Tories und DUP zustande kommen, und damit dürfte der »letzte Gang« der Premierministerin wohl nicht mehr lange auf sich warten lassen. Spätestens wenn neue Unruhen in Nordirland aufkommen und den Frieden im Land gefährden, dürfte May nicht mehr zu halten sein. Im Übrigen lehnen viele Tory-Parlamentarier – noch indirekt – die Zusammenarbeit mit Foster ab. Nicht auszuschließen sind zudem vorzeitige Neuwahlen.

 

Der vom Volk im Referendum knapp mehrheitlich gewünschte Brexit wiederum hängt gegenwärtig in einer Art Schwebe. Zum einen haben die Wählerinnen und Wähler keiner der beiden großen »Volksparteien« ein klares Mandat entweder für einen harten oder weichen Brexit erteilt. Großbritannien ist in dieser so lebenswichtigen Frage eine gespaltene Union. Wobei die in Schottland überraschend zum Gewinn von zwölf zusätzlichen Sitzen gekommenen Tory-Parlamentarier keine Freunde eines Brexits oder gar harten Brexits sind. Zum anderen ist die Unsicherheit der Bevölkerung über das kommende Verhandlungsgeschehen in Brüssel groß, sind die ökonomischen Unwägbarkeiten allmählich spürbar. Die Privat- beziehungsweise Kreditkartenschulden steigen, weil die Reallöhne stagnieren und die Inflation zulegt, das Pfund verliert laufend an Wert und die Abwanderungspläne vieler Unternehmen oder die Verlagerung von Arbeitsplätzen auf den Kontinent werden zunehmend konkreter und zum Teil bereits umgesetzt.

 

Großbritannien ist gegenwärtig ein von immer tiefer werdenden geistigen und sozialen Gräben durchzogenes Land. Stadt steht gegen Land, Arm gegen Reich, Schotten gegen Engländer, Sinn Féin in Nordirland gegen die DUP, Einheimische gegen Menschen mit auswärtigen Wurzeln. Wie sehr dieses schon längst nicht mehr »vereinigte« und durch die einschneidende Austeritätspolitik der Konservativen seit 2010 fast aller Wohlfahrtsträume beraubte Königreich in die Bredouille geraten ist, zeigte sich nicht zuletzt Mitte Juni, als in London das 24 Stockwerke hohe Wohngebäude Grenfell Tower ausbrannte und weit mehr als ein halbes Hundert Menschen in den Tod riss. Hunderte dieser Wohnblocks der Nachkriegszeit im ganzen Land sind laut dem namhaften Architekten und Brandschutzexperten Sam Webb von leicht entflammbaren Materialien nachgerade durchzogen, haben überalterte, teilweise funktionsuntüchtige Feuerschutzeinrichtungen, aber keine Sprinkleranlagen. Webb hatte die Regierung bereits in den 1990er Jahren in einem Report darauf hingewiesen, dass die Hälfte all dieser Wohnblocks nicht einmal minimale Sicherheitsstandards erfüllen würde; ihm wurde jedoch kein Gehör geschenkt oder entgegnet, ein Abriss der lebensgefährlichen Hochhäuser würde zu viele Leute in die Wohnungsnot treiben. 2009 hatte es zwar schon einmal ein heftiges Großfeuer in einem Londoner tower block gegeben, im 14-stöckigen Lakanal House, bei dem sechs Menschen elendig ums Leben kamen. Eine Verschärfung der Brandschutzauflagen wurde danach aber vom Gesetzgeber nicht verordnet.

 

Wie Mays Brexitmannen um Minister David Davies der geballten Verhandlungsmacht der EU-Beauftragten wohl ab dem 19. Juni gegenübertreten werden, wenn als erstes die zukünftigen Rechte der EU-Bürgerinnen und -Bürger in Großbritannien und die der britischen in den EU-Mitgliedstaaten verhandelt werden, muss sich weisen. Fest steht in diesen Tagen, da Theresa May proklamiert, sie wolle »jetzt mit der Arbeit vorankommen«, dass keiner der politischen Akteure in Brüssel einschätzen kann, was die aus den Fugen geratene Insel mit der Europäischen Union, dem Commonwealth und der Welt tatsächlich vorhat. Schlimmer noch, die Briten sind sich offenbar überhaupt nicht darüber einig, was sie bei den anstehenden Scheidungsverhandlungen eigentlich erreichen wollen. Und die Zeit läuft.