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Hebenshausen wacht auf  (Hartwig Hohnsbein)

Hebenshausen ist ein Ortsteil der Gemeinde Neu-Eichenberg. Es gibt hier als Sehenswürdigkeiten eine evangelische und eine katholische Kirche sowie ein ehemaliges Synagogengebäude. An der Hauptstraße lädt ein Gasthaus ein und am Ortsrand ein Haus des Sports.

 

Hebenshausen liegt im Dreiländereck von Hessen, Niedersachsen und Thüringen auf hessischem Gebiet. Der Ort mit heute circa 450 Einwohnern hat in der Geschichte nie eine Rolle gespielt oder gar überörtliche Schlagzeilen geliefert. Früher hätte man gesagt: Hier sagen sich Fuchs und Hase »Gute Nacht«. Das wird sich nun wohl ändern: Hebenshausen liegt nämlich auch im Dreiautobahneneck Richtung Hannover, Kassel/Frankfurt/Würzburg und Leipzig/Dresden, dazu seit 1990 in der »neuen« Mitte Deutschlands, und das hat seitdem ungeahnte Aktivitäten der örtlichen Politiker und Begehrlichkeiten von »Immobilienentwicklern« geweckt: Hier könne doch vorzüglich ein Logistikzentrum entstehen, wodurch viele, viele neue Arbeitsplätze in dieser abgelegenen Region entstehen würden – so hieß es schon vor 20 Jahren, und ein Bürgerentscheid im Jahr 2004 erbrachte 63 Prozent Zustimmung.

 

Danach geschah erst einmal gar nichts. Doch dann, im Juni 2018, verkaufte die Hessische Landgesellschaft (HLG) als »staatliche Treuhandstelle für ländliche Bodenordnung« 80 Hektar besten Ackerbodens an die Bensheimer Dietz AG.

 

Die Bürgermeisterin von Neu-Eichenberg frohlockte: »Tausend Arbeitsplätze werden neu geschaffen. Bürger werden sich bei uns ansiedeln.« »Natürlich gibt es auch Gegner des Projektes«, wusste die Sozialdemokratin, doch »Angst vor Bürgerprotesten braucht die Politik nicht zu haben«, erklärte sie mit Hinweis auf den Bürgerentscheid von 2004 im Göttinger Tageblatt (19.6.2018, »Projektentwickler schlägt in Neu-Eichenberg zu«).

 

Inzwischen ist bekannt geworden: Das geplante Logistikzentrum soll eines der größten europaweit werden mit 15 Meter hohen Logistikhallen, die dann von hunderten Lastern täglich angefahren werden – mit steigender Tendenz gemäß der »Zielsetzung« des Bensheimer Unternehmens: »Substanz und Wachstum [ist unser] unternehmerisches Ziel«. Dem Plan des neuen Deutsche-Bahn-Chefs Richard Lutz, den Güterverkehr nach und nach von den umweltschädlichen Lastern auf die Schiene zu verlegen, steht das »Projekt Hebenshausen« fundamental entgegen.

 

Nun sind die Bürger aufgewacht. An vielen Häusern des kleinen Dorfes hängen große Plakate: »Logistikzentrum bleib uns vom Acker« – »Acker bleibt« – »Beete statt Beton«, und auf der verkauften Fläche, die größer ist als der ganze Ort Hebenshausen, wurde inzwischen eine Zeltstadt aufgebaut. Unterstützer und Umweltschützer gegen den immensen »Flächenfraß« mit Bodenversiegelung kommen aus dem Umland und den Städten Kassel, Witzenhausen und Göttingen, zum Beispiel von der Bewegung »Ende Gelände Göttingen« und »Fridays for Future«. Unterstützung von der hessischen Landesregierung ist allerdings nicht zu erwarten. Die HLG wird in ihrem achtköpfigen Aufsichtsrat von dem Staatssekretär Jens Deutschendorf (Grüne) als Vorsitzender geführt und unterliegt der Staatsaufsicht durch den Hessischen Minister für Wirtschaft, Energie, Verkehr und Wohnen, Tarek Al-Wazir (Grüne), Minister seit 2014. Ach ja, die Grünen, die Umweltfreunde.

 

 

Manfred Sohn   Fünf nach zwölf

 

Die Diskussion um die »Grenzen des Wachstums« ist nicht neu. Im Jahre 1972 erschien die Studie des Club of Rome unter dem Originaltitel »The Limits to Growth«. Sie führte – von den Autoren auch so gewollt – zu einer Diskussion, die sich unter der Überschrift, es sei »fünf vor zwölf« zusammenfassen ließe.

 

Ab August 2018 löste die schwedische Schülerin Greta Thunberg mit ihren regelmäßigen Sit-ins vor dem Parlamentsgebäude in Stockholm die »Fridays for Future«-Bewegung aus, an der sich am 15. März dieses Jahres weltweit annährend zwei Millionen Menschen – überwiegend Schülerinnen und Schüler – beteiligten. In ihren Reden weist Thunberg darauf hin, wenn nicht sofort etwas geschehe, lösen »wir«, also die Spezies Mensch, eine »irreversible Kettenreaktion jenseits menschlicher Kontrolle aus«. Sie werde zum Ende der Zivilisation, wie wir sie kennen, führen.

 

Thunberg verwendet zwar den Begriff »fünf vor zwölf« nicht, aber das Muster ist dasselbe: Noch sei es nicht zu spät.

 

Der Vergleich zwischen beiden Ereignissen, die nahezu ein halbes Jahrhundert auseinanderliegen, führt entweder zu der Schlussfolgerung, Dennis Meadows und die anderen hätten 1972 geirrt – es war damals nicht fünf vor zwölf, sondern bestenfalls halb zwölf gewesen. Oder die Uhr ist seitdem stehengeblieben. Oder aber die Agitationsfigur, der sich sowohl Meadows als auch Thunberg bedienten beziehungsweise bedienen, ist zumindest für eine der beiden falsch.

 

Es spricht vieles dafür, dass letzteres zutrifft. Die Mehrheit der Wissenschaftler, die sich mit den Gründen der Erderwärmung befassen, führen sie auf Menschenwerk zurück. Ursachenunabhängig ist es Fakt, dass die Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre sich zügig erhöht und das Erreichen des Zieles, die Erhöhung auf 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit zu begrenzen, nicht mehr möglich ist. Sind tatsächlich die menschlichen Aktivitäten dafür verantwortlich und nicht etwa Veränderungen auf der Sonnenoberfläche, wird sich das nicht abbremsen, sondern beschleunigen: Während in Deutschland heftig um das Abschalten der hiesigen 150 Kohlekraftwerke mit einer Kapazität von 45 Gigawatt gestritten wird, planen die 120 größten Energiekonzerne der Welt auf diesem Globus zur Zeit den Bau von 1400 neuen Kohlekraftwerken mit einer Gesamtkapazität von 670 Gigawatt – überwiegend in China, Indonesien, Vietnam, Pakistan, Bangladesch, aber auch zum Beispiel in Südafrika.

 

Es sieht also alles danach aus, dass es nicht mehr fünf vor, sondern fünf nach zwölf ist.

 

Den Grund hat wiederum rund 100 Jahre vor Dennis Meadows ein anderer, Karl Marx, gefunden und in seinem bekanntesten Buch, dem »Kapital« in den Satz gekleidet, die kapitalistische Produktion werde, wenn sie nicht überwunden würde, die »Springquellen allen Reichtums« untergraben, »die Erde und den Arbeiter« (MEW 23, Kapitel 13). Weil das nach wie vor stimmt, ist auch eine andere beliebte Denk- und Argumentationsfigur falsch: Häufig wird – auch in linken Zeitungen – geschrieben, es könne ja sein, dass die Naturzerstörung innerhalb des Kapitalismus nicht mehr aufhaltbar sei. Aber weil – siehe oben – die Zeit so dränge, müsse die Frage der Umweltzerstörung noch innerhalb kapitalistischer Rahmenbedingungen gelöst werden, sonst würde die Zivilisation untergehen, ohne die es ein Voranschreiten zum Sozialismus nicht geben könne.

 

Die Fakten sprechen eine andere, härtere, wahl-ärmere Sprache. Die Klimaverschiebungen werden nicht nur Länder wie den Iran oder Irak für große Menschenmengen so unbewohnbar machen wie es jetzt schon die Wüste Sahara ist. Schon zu unseren Lebzeiten werden große Teile Spaniens zur Wüste werden und die dort jetzt noch Lebenden zwingen, ihr Dasein in anderen, grüneren Regionen zu fristen. Die Flüchtlingswelle des Jahres 2015 oder auch die Wahlergebnisse zum Europaparlament 2019, die zum Teil der ungebildet-rohe Reflex angstgetriebener Massen auf diese Flüchtlingswelle waren, sind beide nur das Vorspiel größerer Ereignisse.

 

Vor allem aber ist es Wunschdenken zu meinen, es könne eine innerkapitalistische Lösung geben, weil doch sonst angesichts der Schwäche der Linken alles verloren sei. Die 120 Energiekonzerne handeln innerhalb der kapitalistischen Logik folgerichtig. Solange Markt und Tauschwirtschaft das gesellschaftliche Handeln prägen, gibt es keine »Grenze des Wachstums« außer der dann von der Natur gesetzten. Die Natur wird nicht den Untergang der Menschheit anordnen. Die Eskimos auf der einen und die Beduinen auf der anderen Seite beweisen die Anpassungsfähigkeit dieser Spezies zumindest extremen Klimabedingungen gegenüber. Wir befinden uns seit 1989, dem Jahr des Scheiterns des nach der »Pariser Kommune« zweiten Versuchs, die Vernunft an die Stelle des Handelns »hinter dem Rücken der Produzenten«, also der Tauschwirtschaft zu setzen, im Epochenbruch. Er führt zu politischen Verhältnissen, die alles bisher Gewohnte umpflügen werden.

 

Der Kapitalismus wird weder Frieden noch Gerechtigkeit noch Klimarettung bringen. Es gibt keine andere Perspektive als den Sozialismus, also die weltweite Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die gesamtgesellschaftliche Planung ihres Einsatzes auf der Basis von kommunalen Assoziationen freier Produzenten. Dieser Sozialismus wird – weil es eben nicht mehr fünf vor, sondern fünf nach zwölf ist – nicht aus der Blüte des Kapitalismus hervorbrechen. Diese Blüte verwelkt vor unseren Augen. Das führt zu zwei Schlussfolgerungen.

 

Zum einen wird sich die an Marx und Engels orientierende Linke zu der von ihnen schon einmal erklommenen Höhe der Erkenntnis hinsichtlich der Gleichwertigkeit von Arbeit und Natur als den beiden Quellen all unserer Reichtümer – nicht nur der materiellen – hinaufzuarbeiten haben. Das geht nicht ohne Selbstkritik. Völlig konzentriert auf die Beseitigung der Armut für die Arbeitenden war die Praxis des großen Versuchs von 1917 bis 1989 eben auch geprägt von einer Geringschätzung der marx'schen Warnungen, die Menschen seinen »nicht Eigentümer der Erde«, sondern nur ihre Nutznießer und sie hätten »sie als boni patres den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen«. Es reicht nicht, wie in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts und danach für ein halbes Jahrhundert gelungen, an die Spitze des Kampfes um die Würde der Arbeit zu kommen. Die Linke muss, will sie nicht versagen, auch an die Spitze des Kampfes um unsere natürlichen Lebensgrundlagen kommen. Die Perspektive Sozialismus – der eine Grundvoraussetzung für den Erhalt unserer Lebensgrundlagen ist – wird sich zu verbinden haben mit tagespolitischen Forderungen, die noch im Rahmen des Kapitalismus einerseits vernünftig wären, andererseits aber eine systemsprengende Kraft entfalten. Um das nur am Beispiel Mobilität zu konkretisieren: Zu bekämpfen ist die verlogene Scheinlösung, nur Antriebssysteme in den Millionen Autos zu ersetzen. Eine klimarettende »Wende« in der Mobilität wäre erst erreicht, wenn die Produktion von Porsche-Fahrzeugen gestoppt und der massenhafte Umstieg vom Individualverkehr auf öffentlichen, kollektiv organisierten Verkehr erreicht ist. Dazu gehört auch eine Kontingentierung von Flugreisen und das Beenden des Wahnsinns, dass für jeden Bundesbürger pro Jahr fünf Tonnen Güter exportiert und acht importiert werden – also die Umkehr der Globalisierung und die Erzwingung konsequent regionalisierter Wirtschaftskreisläufe. Die Forderungen wären im Kapitalismus zu deklarieren – ihre Verwirklichung würde aber die Öffnung einer sozialistischen Perspektive erfordern. An der Tatsache, dass eine solche politische Dynamik auf bereits verdorrter Erde aufblühen würde, ändert das angesichts der inzwischen angerichteten Schäden vermutlich aber nichts.