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Themenschwerpunkt "Sparpolitik"


Eckart Spoo
Der Heilige Sparzwang

»Es muß gespart werden.« Der Aufruf schallt von Kanzeln und Kathedern, und die braven Schüler, die Gläubigen und Untertanen nicken ergeben.

»Es muß gespart werden.« Das Volk, seit Generationen dazu erzogen, versteht den Aufruf als Schicksalsruf, den man nicht hinterfragt. Eine Selbstverständlichkeit, für die niemand eine Begründung fordert. Wat mutt, dat mutt. Je öfter wir es hören, desto vertrauter wird es und entzieht sich jedem Zweifel. Dagegen aufzubegehren, hieße alle Götter herauszufordern. Hybris. Frevel. Sträflich.

»Es muß gespart werden.« Das ist eher ein Urteil als ein Aufruf. Wir haben da nichts mehr zu entscheiden. Da ist über uns entschieden.

Ursprünglich war mit Sparen gemeint: Geld zurücklegen für schlechtere Zeiten oder für künftige größere Anschaffungen. Wenn heutzutage der Firmenchef vom Sparen spricht, meint er etwas ganz anderes: Kürzung oder Streichung des Weihnachts- und Urlaubsgeldes (wo es das noch gibt), unbezahlte Mehrarbeit, Eingriffe in Rechte, die seine Vorgänger den Beschäftigten einst zugestanden haben, als die Gewerkschaften noch stärker und kämpferischer waren, als Osteuropa über Jahrzehnte hinweg trotz härtester Anfeindungen den Beweis zu erbringen versuchte, daß Güterproduktion ohne Privateigentum möglich ist, und als im Volk noch das Wissen verbreitet war, wie gründlich sich die Konzerne als Sponsoren und Nutznießer von Nazi-Verbrechen diskreditiert hatten.

Sparen heißt heutzutage: wegnehmen, privatisieren, Menschen entrechten, Reichtum immer brutaler von unten nach oben umverteilen. Um den Zynismus auf die Spitze zu treiben, sprechen regierende Politiker jetzt von »Sparpaketen«. Vorbei die Zeit, als wir uns noch über Pakete oder Päckchen freuen durften.

»Es muß gespart werden.« Der Glaubenssatz, den die Hohenpriester das Volk immer und immer wieder nachsprechen lassen, genügt zur Begründung für die Schließung von Theatern und Schwimmbädern, für die Einschränkung und Aberkennung der Rechte von Kassenpatienten, für die Demontage von Kostenfaktoren wie Gesundheitsschutz, Naturschutz, Umweltschutz, für die Entlassung von Tausenden und Abertausenden Menschen an jedem Tag. Denn gerade sie, die Menschen, sind Kostenfaktoren. Darum werden sie eingespart, weggespart.

Schulen und Universitäten, Bahn, Post und viele andere Gemeinschaftseinrichtungen galten als Errungenschaften, die der Entwicklung individuellen und allgemeinen Wohlstands dienten. Jetzt gründen Konzerne wie Springer (Bild) Konkurrenzunternehmen, die Briefe billiger befördern können als die Post, weil sie ihre Beschäftigten viel schlechter bezahlen. Mit der Begründung »Es muß gespart werden« verschicken staatliche Behörden, zum Beispiel der Berliner Senat, ihre Benachrichtigungen nicht mehr mit der Post, sondern mit Pin. Weil aber Pin seine Beschäftigten so schlecht entlohnt, muß der Staat ihnen Lohnzuschüsse zahlen. So schwächt der Staat die eigene Post. Diese Art »Sparsamkeit« ist alles andere als klug und nur in einer einzigen Hinsicht schlau: nämlich wenn die zuständigen Politiker die Absicht haben, die Gemeinschaftseinrichtungen und die sozialen Dienste gar nicht aufrechtzuerhalten, sondern sie abzuwickeln und letztlich die ganze Wirtschaft dem Kapital zu überlassen.

Die Bahn AG gibt neue Waggons in Auftrag. Stellen wir uns das so vor: Mehrere Hersteller machen Angebote. Der das günstigste vorgelegt hat, wird aufgefordert, den kalkulierten Preis um 25 Prozent zu senken – erst dann werde er den Auftrag bekommen. Also verwendet er billigere, schlechtere Materialien, »spart« an Bequemlichkeit und Sicherheit. Und die Bahn AG »spart« dann auch noch an der Wartung. Ergebnis: Immer mehr Züge verspäten sich oder fallen aus. Einen Sinn hat solche »Sparsamkeit« nur, wenn die Bahn an der Börse verhökert werden soll. Konzerne als Bahnbetreiber werden dann erst recht den ganzen Verkehrsbetrieb ihrem Profitinteresse unterwerfen.

Sparen wird zum Kaputtsparen. Allein die Verelendung von Millionen Menschen, deren Reallohn sinkt, sofern sie überhaupt noch Lohn beziehen und nicht ganz aus der Erwerbsarbeit verdrängt sind, zerstört Kaufkraft und Nachfrage. Die großen deutschen Konzerne und die regierenden Politiker sorgen sich wenig um den Binnenmarkt, um so mehr aber um ihre Machtstellung auf dem Weltmarkt. Sie wollen weltweit Absatzgebiete erobern und möglichst billig an sämtliche Rohstoffe der Welt herankommen. Aber es wird ihnen schwerlich gelingen, auch nicht durch massive Waffenexporte und verstärkte Militarisierung der Außenpolitik, Ausbeutungsverhältnisse auf Kosten aller anderen Staaten auf Dauer zu verfestigen. Eine neoliberale Politik, die das Wort »humanitär« nur noch als Beiwort zu Militäreinsätzen kennt, untergräbt ihre eigene Zukunft. Die »Sparpolitik« (Herbert Schui zeigt es in seinem Beitrag zu diesem Heft) führt in die ökonomische Stagnation. Es wäre töricht, wenn wir immer wieder vor dem Heiligen Sparzwang in die Knie sinken würden. Im Gegenteil: Nach Jahrzehnten der Umverteilung von unten nach oben muß endlich rückverteilt werden.

Eine vordringliche Aufgabe ist die Aufteilung der Lohnarbeit auf das dem heutigen Stand der Produktivität entsprechende Maß von 28 oder 25 Wochenstunden (bei vollem Lohnausgleich, versteht sich), und zwar aus humanitären wie aus ökonomischen Gründen. So könnten wir nach Jahrzehnten auch endlich aus der politischen Stagnation herauskommen. Dies ist eine, nein die gewerkschaftliche Hauptaufgabe, und wenn die heutigen Gewerkschaften sie nicht übernehmen, werden wir neue gründen müssen, die sich nicht mehr dazu mißbrauchen lassen, für vermeintliche Vorteile in der vielbeschworenen Standortkonkurrenz ein Sparopfer nach dem anderen zu bringen. Gewerkschaften, die über Jahre hin immerzu sinkende Reallöhne und steigende Arbeitszeiten legitimieren, machen sich selbst überflüssig. Ohne Arbeitszeitverkürzung um etwa ein Drittel würde die Reservearmee (s. den Beitrag von Ralph Hartmann) immer weiter wachsen und all den gesellschaftlichen Fortschritt verhindern, den der technische Fortschritt ermöglicht. Die schwere Krise des Kapitalismus, die noch lange dauern und sich verschärfen kann, wenn ihre Folgen per »Sparpaket« der großen Bevölkerungsmehrheit zugeschoben werden, muß als dringende Aufforderung zur Demokratisierung der Wirtschaft (Heinz-J. Bontrup) verstanden werden.



Christoph Butterwegge  »Sparen« – eine neoliberale Ideologie

Die Forderung, der Staat solle »sparen«, ist populär. Sie findet gerade nach den »Rettungspaketen« für die deutschen Banken, für Griechenland und den Euro in der (Medien-)Öffentlichkeit eine überwiegend positive Resonanz, weil »Sparen« eben mit vernünftigem »Maßhalten« im persönlichen Bereich gleichgesetzt wird, wenngleich es dort ganz anders zu bewerten ist: Hat der legendäre Familienvater oder die berühmte schwäbische Hausfrau wenig Geld zur Verfügung, müssen sie damit möglichst sparsam umgehen, während der Staat die Wirtschaft mittels öffentlicher Investitionen gerade dann ankurbeln muß, wenn diese aufgrund einer noch keineswegs überwundenen globalen Wirtschafts- und Finanzkrise lahmt.

Eine sparsame Haushaltsführung des Staates wird heute vielfach mit »Generationengerechtigkeit« in Verbindung gebracht, wohingegen die öffentliche Kreditaufnahme als Verletzung des Gebotes der Nachhaltigkeit gilt. Häufig tun Neoliberale so, als hätten künftige Generationen hohe Schuldenberge abzutragen, wozu sie weder willens noch in der Lage wären. Dabei lastet dieser Schuldendienst nur auf einem Teil der kommenden Generationen; ein anderer erhält viel mehr Zinsen aus (geerbten) Schuldverschreibungen des Staates, als er selbst an Steuern zahlt, und zieht dadurch aus heutigen Budgetdefiziten sogar Profit.

Trotzdem verfängt die Argumentationsfigur von »Zechprellern zu Lasten unserer eigenen Kinder«, wie der Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen die heutige Generation nennt. Da die Verschuldung der Gebietskörperschaften unseren Kindern und Enkeln laut Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder »die Chancen für ihre Zukunft raubt«, sei die Konsolidierungspolitik ein Gebot der Generationengerechtigkeit, hören wir immer wieder. Aus der Staatsverschuldung resultieren aber sowohl Forderungen als auch Verbindlichkeiten, und beide werden an die nächste Generation »vererbt«. Blickt man getrennt auf die gegenwärtige oder auf die folgende Generation, liegt immer ein gesamtwirtschaftliches Nullsummenspiel vor. Durch die Instrumentalisierung der nachwachsenden Generationen unter Schlagworten wie »Nachhaltigkeit der Finanzpolitik« (Papier der Bundesregierung zur »Sparklausur« im Kanzleramt am 6./7. Juni 2010) wird eine fragwürdige Politik der Haushaltskonsolidierung gerechtfertigt, die gerade für Kinder und Jugendliche verheerende Folgen hat, weil den Kindergärten, Schulen, Jugendzentren und Hochschulen nicht mehr die nötigen Mittel zufließen. Zwischen ökologischen und finanziellen Ressourcen besteht nämlich ein entscheidender Unterschied: Einmal vernutzte fossile Brennstoffen fehlen künftigen Generationen, während deren nötigen Beiträgen zur Tilgung von Schulden für öffentliche Aufgaben nützliche Infrastrukturangebote gegenüberstehen. Geld wird zwar im Jugendjargon als »Kohle« bezeichnet, verbrennt oder verschwindet aber nicht, sondern fließt nur von einer in die andere Tasche. Geld ist genug da, wenn es sich auch meist in der falschen Tasche befindet!

Ein Staat darf sich nicht ohne jedes Maß ver- oder überschulden. Die extrem starke Thematisierung des »Sparens« in Haushaltsdebatten lenkt den Blick allerdings einseitig auf die Ausgabenseite, obwohl die gegenwärtigen Probleme des Sozialstaates in erster Linie auf der Einnahmenseite entstehen. Der »Schuldenberg« ist nicht deswegen auf eine Höhe von 1,7 Billionen Euro gewachsen, weil »wir« über unsere Verhältnisse gelebt hätten oder weil der Staat schlecht gehaushaltet hätte, sondern weil die etablierten Parteien seit Jahrzehnten die Kapital- und Gewinnsteuern gesenkt und damit ausgerechnet die reichsten Bürger systematisch entlastet haben. Da wurde die Börsenumsatzsteuer abgeschafft, der Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer mehrfach gesenkt, die Vermögenssteuer seit 1997 nicht mehr erhoben, die Körperschaftsteuer für Kapitalgesellschaften zu einer Bagatellsteuer gemacht und die betriebliche Erbschaftsteuer ab dem 1. Januar 2010 dermaßen reduziert, daß sie bloß noch ein Phantom ist.

Häufig wird gar nicht »gespart«, sondern die finanzielle Belastung nur anders verteilt, also von der Bundesebene zu den Ländern und Kommunen oder von der Solidargemeinschaft auf jeden Einzelnen verlagert oder von der Gegenwart in die Zukunft verschoben. So will die Bundesregierung jährlich 1,8 Milliarden Euro »sparen«, indem Hartz-IV-BezieherInnen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung ausgeschlossen und keine Beiträge mehr für sie entrichtet werden. Dadurch erhöht sich zwangsläufig die Altersarmut, und sowohl die Kommunen als auch die künftigen Generationen, die angeblich entlastet werden sollen, müssen demnächst entsprechend mehr für die Grundsicherung der Alten und Behinderten aufbringen. Noch mehr Geld will die schwarz-gelbe Koalition im Bereich der aktiven Arbeitsmarktpolitik »einsparen«, indem Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung und Umschulungen für Erwerbslose, die bisher Pflichtleistungen waren, zu Ermessensleistungen der JobCenter werden. Damit zeigt die Bundesregierung, daß sich ihr Bekenntnis zur »Bildungsrepublik Deutschland« und das Versprechen der Kanzlerin, »Bildung für alle« zu ermöglichen, bloß auf sogenannte Exzellenzbereiche und die Elitebildung von Privilegierten bezieht, aber Erwerbslose ausschließt. Dadurch erhöht sich die (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, und es entstehen Mehrkosten im Bereich der passiven Arbeitsmarktpolitik.

Zu fragen ist, ob eine so reiche Gesellschaft wie die Bundesrepublik einerseits immer mehr Milliardäre und Multimillionäre und andererseits leere öffentliche Kassen haben will oder ob sie einen sozialen Ausgleich und eine nachhaltige Entwicklung anstrebt. Bekanntlich können sich nur die Reichen einen magersüchtigen Staat leisten. Denn sie schicken ihre Kinder auf Privatschulen und (ausländische) Eliteuniversitäten, kaufen sich selbst alles, was ihr Leben verschönert, und sind auf öffentliche Schwimmbäder, Bibliotheken oder andere kommunale Einrichtungen, die zunehmend geschlossen werden, gar nicht angewiesen. Alle übrigen Bevölkerungsschichten benötigen jedoch staatliche beziehungsweise kommunale Leistungen und kommen ohne öffentliche Infrastruktur nicht aus. Wohlfahrtseinrichtungen, Kunst, Kultur, (Weiter-)Bildung, Wissenschaft und Forschung dürfen nicht von kommerziellen Interessen oder der Spendierfreude privater Unternehmer, Mäzene und Sponsoren abhängig werden. Genau das droht, wenn der Staat in neoliberaler Manier kaputtsaniert wird.

Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Jüngste Buchveröffentlichung: »Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird«, Frankfurt am Main/New York 2009



Otto Meyer  Sparen – weshalb und für wen?

Die Bundesregierung hat wieder einmal ein sogenanntes Sparpaket aufgelegt, diesmal in Höhe von mehr als 80 Milliarden Euro bis 2014. Sollte es von Bundestag und Bundesrat verabschiedet werden, müssen auch die Länder, Städte und Gemeinden ihre Haushalte nochmals einschränken. Wiederum sollen vor allem Sozialleistungen, Ausgaben für Bildung und Kultur, Löhne und Gehälter im Öffentlichen Dienst sowie der Personalbestand gekürzt werden, nachdem von den fünf Millionen Arbeitern, Angestellten und Beamten, die dort vor 20 Jahren beschäftigt waren, nur noch 2,5 Millionen übrig geblieben sind.

Warum eigentlich? Wer hat ein Interesse daran, daß bald alles, was an den staatlichen Diensten noch sozial ist, zerstört wird und am Ende nur der Überwachungs-, Ordnungs- und Sicherheitsstaat übrig bleibt? Wer derart die Verantwortlichen in den Regierungsämtern befragt, stößt auf Abwehr und Empörung: Sie alle und jeder einzelne Minister oder Oberbürgermeister weisen jegliche Schuld an diesem Staatsumbau – man könnte ihn auch einen schleichenden Staatsstreich durch Zerstörung von Sozialstaatlichkeit und Demokratie nennen –, weit von sich: Sie seien selber Getriebene, die aufgelaufenen Schulden des Staates aus vielen Jahrzehnten zwängen nun mal zu radikalen Maßnahmen. Die Kanzlerin redet im Stil von Margret Thatcher: Zum Sparen gebe es »keine vernünftige Alternative«. Aber wenn Regierende und angeblich wir alle »keine Alternative«, also keine andere Möglichkeit, keine Wahl mehr haben, warum läßt man uns dann noch wählen? Demokratie, also »Herrschaft des Volkes«, wäre doch dann unmöglich geworden. Das Grundgesetz mit seiner Bestimmung der BRD als »demokratischer und sozialer Bundesstaat« (Artikel 21) wird so außer Kraft gesetzt.

Wer hat diese Maßnahmen verlangt, die tief in unsere Rechte eingreifen? Uns wird gesagt, es seien die Schulden des Staates, die dazu zwingen. Aber sind Schulden und ihre Eintreiber anonyme Diktatoren aus dem Weltraum, steht hinter ihnen ein schrecklicher Deus absconditus? Woher kommen Schulden? Schulden macht man, wenn man mehr ausgibt als einnimmt. Dann braucht man jemanden, der genügend Geld übrig hat, um einem für eine gewisse Zeit den fehlenden Betrag zu leihen. Bei größeren Summen und wenn man einander nicht kennen oder vertrauen kann, muß man als Schuldner dem Gläubiger einen Schuldschein – juristisch abgesichert – übergeben. Der fremde Gläubiger verlangt nicht nur die terminierte Rückzahlung, sondern einen jährlichen Aufschlag in Form von Zinszahlungen.

Der Staat BRD, also die rechtliche Vertretung der hiesigen Bevölkerung von 80 Millionen Menschen, hatte Ende 2008 auf allen Ebenen 1.655 Milliarden Euro Schulden – angehäuft im Lauf von Jahrzehnten, weil der Staat, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in dieser kapitalistisch oft chaotisch agierenden Volkswirtschaft einigermaßen zu gewährleisten oder als Reparaturbetrieb bei Wirtschaftseinbrüchen auszuhelfen, immer größere finanzielle Verpflichtungen eingegangen ist. Zugleich aber begnügte sich der Staat auf Drängen der Kapitalbesitzer mit geringeren Einnahmen aus Steuern und Sozialabgaben. So verlangte der Staat BRD 2008 mehr als zwei Prozent weniger vom Bruttoinlandsprodukt für die staatlichen Kassen als im Jahr 2000, was einen Verzicht auf 50 Milliarden Euro jährlich bedeutete. Bis Mai 2010 war die Schuldenlast – auch infolge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und der gewaltige »Rettungspakete« – auf 1.900 Milliarden Euro ausgeweitet worden, wofür der Bund, die Länder und Kommunen Schuldscheine in Form von Bundesschatzbriefen, Bundesobligationen und so weiter ausgegeben hatten. Allein für Zinsen der Altschulden waren 2010 rund 250 Milliarden Euro auf die Konten der Geldbesitzer zu überweisen. Die Neuemittierungen waren problemlos möglich, denn die Geldbesitzer als Gläubiger hierzulande und weltweit standen geradezu Schlange, um an deutsche Schuldscheine zu kommen, die national und international immer noch als sehr sicher gelten, Deutschland muß dafür zur Zeit weniger Zinsen zahlen als die meisten anderen Staaten.

Schätzungsweise 50 Prozent der staatlichen Schuldscheine befinden sich im Besitz vermögender deutscher Privatleute – verwaltet von Banken und Versicherungen im Inland –, die andere Hälfte bei Finanzinstituten im Ausland. Die dortigen Kontoinhaber sind aber ebenfalls zum großen Teil reiche Deutsche, die aus Gründen der Steuerersparnis ihre Depots lieber von Schweizer oder Liechtensteiner Instituten verwalten lassen. Diese Reichen als »Gläubiger« des »Schuldners« Staat haben ihre Vermögen überwiegend durch Gewinne von Produktions- und Handelsunternehmen erwerben können, zumeist durch Aneignung des Mehrwerts aus der »Ware Arbeitskraft«. Als Grundlage waren ererbte Besitztümer hilfreich. Nicht zuletzt konnten sie ihren Reichtum durch immer mehr Steuervergünstigungen und Nachlässe bei den Sozialabgaben weiter vermehren.

Die Sprüche der Politiker und ihrer Vor- oder Nachplapperer in den Herrschaftsmedien, »wir alle« lebten heute »auf Kosten unserer Kinder«, sind demnach nichts anderes als Volksverdummung. »Unsere« Staatsschuldscheine sind Guthaben in den Händen reicher, überwiegend deutscher Mitbürgerinnen und Mitbürger. Und wenn alles so bleibt und ihr staatlich geschütztes milliarden- und billionenschweres Kapitalvermögen ohne Vermögenssteuer und fast ohne Erbschaftssteuer weiter wuchern darf, wären all diese Reichtümer die lukrativen Erbteile der Millionärs- und Milliardärskinder. Die Frage kann da doch nur sein, wie lange sich die weit über 90 Prozent, die wenig oder gar kein Kapital besitzen, eine solche Unordnung noch gefallen lassen.

Otto Meyer, ständiger
Ossietzky-Autor, ist Theologe in Münster (Westfalen)



Daniel Kreutz  Armut soll sein

Mangel an Entschlossenheit wird von allen Seiten der schwarz-gelben Bundesregierung vorgeworfen, aber das sogenannte Sparpaket zeigt: Bei der »Schuldenbremse« weiß das Kabinett Merkel, was es will – Sozialstaatlichkeit soll ausgehungert werden.

Größter Einzelposten des »Pakets« ist die Umwandlung von Pflichtleistungen der Arbeitsförderung für Erwerbslose in Ermessensleistungen, wodurch sich die Ausgaben bis 2014 um 16 Milliarden Euro verringern. Bei Hartz IV (Sozialgesetzbuch II) kann einzig noch der Rechtsanspruch auf besondere Teilhabeleistungen für behinderte Erwerbslose, zum Beispiel Berufsvorbereitung und Berufsausbildung in Berufsbildungswerken, gestrichen werden. Ansonsten geht es darum, Rechtsansprüche an die Arbeitslosenversicherung (SGB III) zu kappen, und zwar wiederum besonders Teilhabeleistungen für Behinderte, ferner Fördermaßnahmen sechs Monate nach Beginn der Arbeitslosigkeit, den Gründungszuschuß, den Eingliederungsgutschein für Ältere, das Nachholen des Hauptschulabschlusses, Berufsausbildungsbeihilfe (Berufsvorbereitung und Erstausbildung), Arbeitslosengeld bei beruflicher Weiterbildung, Kurzarbeitergeld und Wintergeld. Welche dieser Rechtsansprüche verschwinden sollen, ist noch offen. Klar ist aber, daß die Zerstörung der Arbeitslosenversicherung, die mit Hartz IV sturmreif geschossen wurde, fortgesetzt werden soll.

Zynismus pur ist die amtliche Begründung, Ermessensleistungen brächten »mehr Flexibilität« für »zielgenauere Förderung« und bessere »Anreize zur Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung«. Letzteres bezieht sich zugleich auf das zweitdickste Kürzungsvorhaben: die Streichung der Rentenversicherungsbeiträge bei Hartz IV (minus 7,2 Milliarden Euro bis 2014). Damit würde der Skandal, daß ein Jahr Hartz IV wegen des absurd geringen Beitrags nur einen monatlichen Rentenanspruch von 2,09 Euro bringt, auf die Spitze getrieben. »Mehr Mut zur Altersarmut« ist offenbar die Devise dieser Politik. Zugleich ist dies ein Griff in die Kassen der Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV) und der Kommunen. Die GRV muß sehen, wie sie die Beitragsausfälle verkraftet, und die Kommunen werden solche »Spar«-Maßnahmen vielfach mit Sozialhilfe auffangen müssen.

Wegfallen soll der Zuschlag für aus der Arbeitslosenversicherung ausgesteuerte Neu-HartzerInnen (»Armutsgewöhnungsprämie«) von maximal 160 Euro je Erwachsenem und 60 Euro je Kind im ersten Jahr und jeweils der Hälfte im zweiten (minus 0,2 Milliarden Euro jährlich). Wer sozial abstürzt, wird dann noch härter aufschlagen. Eltern und Kinder sollen zudem in einen noch tieferen Abgrund stürzen: Bei Hartz-IV-Bezug soll das Elterngeld gestrichen wird (minus 0,4 Milliarden Euro jährlich). Schon die Ablösung des Erziehungsgelds durch das Elterngeld halbierte die Leistungen für arme Mütter. Ganz in der Logik der Gebärförderung für gut verdienende Frauen soll das Elterngeld für untere und mittlere Einkommen von 67 auf 65 Prozent des Nettoeinkommens gekürzt werden, während der Höchstbetrag von 1.800 Euro für Besserverdienende (oberhalb 2.770 Euro) ungekürzt erhalten bleiben soll. Das hat selbst in der Koalition wegen allzu offensichtlicher »Schieflage« Bedenken ausgelöst. Nicht aber die Kürzungen bei den Armen. Die sozialrassistische Botschaft frei nach Thilo Sarrazin lautet: »Eure Kinder wollen wir nicht.«

Eher Drohung als Versprechen ist die beabsichtigte »Effizienzverbesserung der Arbeitsmarktvermittlung« bei Hartz IV, die 2013/14 zusammen 4,5 Milliarden Euro bringen soll. Hier geht es vorrangig darum, mehr Menschen aus dem Leistungsbezug zu drängen. Schon fürs kommende Jahr vorgesehen ist die Streichung des Heizkostenzuschusses für wohngeldberechtigte Geringverdiener oberhalb der Hartz-Schwelle – bislang zwischen 24 Euro monatlich für Alleinlebende und 49 Euro für den Fünf-Personen-Haushalt, wodurch der Staat 0,1 Milliarden Euro jährlich »sparen« will. Und auch aus der Rentenkasse soll etwas ins »Sparpaket« gepackt werden: Bei der Wiedervereinigung waren der GRV bekanntlich enorme Folgelasten auferlegt worden, die eigentlich zu Lasten der Besitzenden aus Steuermitteln hätten finanziert werden müssen. Immerhin gab es bisher in einigen wenigen Punkten Erstattungen des Bundes an die GRV für »einigungsbedingte Leistungen«. Die sollen jetzt auch gestrichen werden, um bis 2014 eine Milliarde Euro auf die Versicherten abzuwälzen.

Selbst Mainstream-Massenmedien, sonst verläßliche Transporteure neoliberaler Sachzwang-Legenden, konstatierten den Unterschied zwischen ganz realen Sozialkürzungen und den Luftbuchungen, mit denen Unternehmen und Banken »belastet« werden. Sie attestierten dem Kürzungspaket eine »soziale Schieflage«, so daß man fast hätte glauben können, sie hielten gesellschaftliche Gegenwehr für legitim. Aber DGB-Chef Sommer beließ es bei üblichen Floskeln (»wir werden nicht hinnehmen, daß …«); die »Mosaik-Linke« (IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban) mußte am 12. Juni in Berlin und Stuttgart allein demonstrieren.

Nun meint das öffentliche Reden von der »sozialen Schieflage« allerdings nicht, daß für die Kosten der Krise deren Verursacher und Profiteure aufkommen sollen. Wenn etwa der Präsident des CDU-Wirtschaftsrates, Kurt Lauk, eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes forderte, dann in der Sorge, dass die offenkundige Einseitigkeit der Belastungen den sozialen Frieden unnötig gefährden könne. »Das Potenzial des Einsparens wird nur gesellschaftliche Akzeptanz finden, wenn Oben und Unten gleichermaßen einbezogen werden«, so Lauk. Ihm und anderen »Schieflage«-Kommentatoren geht es nicht darum, die Armen zu schützen; sie wollen die denen da unten zugedachten Grausamkeiten mit einem Anschein von »Ausgewogenheit« legitimieren.

Nach Jahrzehnten unsozialer Reform- und Sparpolitiken wäre dieses »Spar«-Paket auch dann nicht »sozial gerecht«, wenn es mit einer »Reichensteuer« verknüpft wäre. Zwischen 1993 und 2009 verdreifachte sich in Deutschland die Zahl der Millionäre, während die untere Hälfte der Haushalte so wenig verdient, daß sie keine Steuern zahlen muß. Die Einkommen der Besserverdienenden stiegen um das 2,4fache schneller als die von Geringverdienenden; 83 Prozent der Bevölkerung wurden von den Wohlstandsgewinnen abgekoppelt. 2007 verfügte das reichste Prozent der Bevölkerung allein über ein Viertel des Gesamtvermögens von 8.000 Milliarden Euro, während die untere Hälfte kein Vermögen hat. Die öffentlichen Schulden stiegen zwischen 1999 und 2009 um 458 Milliarden Euro, aber die an der Spitze der Reichtumshierarchie konzentrierten Geldvermögen zugleich um 1.133 Milliarden Euro (auf insgesamt 4.670 Milliarden Euro).

Das Grundproblem der Staatsfinanzen ist die politisch gewollte und geförderte Privatisierung des Reichtums in den Händen weniger, während die »Mittelschichten« schrumpfen, die Niedriglöhne sinken und Armut ansteigt. Das schwarz-gelbe Kürzungspaket wird die Staatsverschuldung nicht beheben. Die Polarisierung der deutschen Gesellschaft in Arm und Reich wird also weitergehen, und zur Legitimation dafür werden die Nöte der öffentlichen Kassen herzuhalten haben. Armut soll sein; vorgetäuscht wird: Sie müsse sein.

Daniel Kreutz (parteilos) war von 1990 bis 2000 Sprecher der grünen Landtagsfraktion Nordrhein-Westfalen für Arbeit, Gesundheit und Soziales und arbeitete von 2000 bis 2010 als Referent für Sozialpolitik beim Sozialverband Deutschland (SoVD).



Heinz-J. Bontrup  Das neoliberale Umverteilen geht weiter

Vor anderthalb Jahren schrieb ich in Ossietzky 2/09 unter dem Titel »Das Scheitern geht weiter«: »Doch die Neoliberalen sind nur abgetaucht. Sobald die Wirtschaftskrise einigermaßen überwunden ist, werden sie wieder mit den alten marktradikalen Botschaften auftauchen. Nach aller Erfahrung werden sie dann die krisenbedingt zunehmende Staatsverschuldung für ihre Profitinteressen instrumentalisieren und weitere, noch heftigere Angriffe gegen den Sozialstaat, die Gewerkschaften und die abhängig Beschäftigten führen. Um so notwendiger ist es, die Ursache der Finanzmarktkrise in Erinnerung zu behalten: den weltweit praktizierten Neoliberalismus, der für die Wirtschaftspolitik nur eine einzige Zielorientierung kennt: Umverteilung von unten nach oben.«

Was ist seit Anfang 2009 geschehen? Die neoliberalen Umverteilungsgewinner wollten nicht für die Krise haften. Deshalb wurde der Staat über Nacht zum Heilsbringer erklärt. In vulgär-keynesianischer Manier buchte er die den Vermögenden drohenden Verluste um – zur Staatsverschuldung. Banken wurden gestützt und sogar verstaatlicht, Konjunkturpakete geschnürt, Abwrackprämien und Kurzarbeit aus öffentlichen Kassen bezahlt. Dennoch brach die reale Wirtschaftsleistung in Deutschland um bisher unvorstellbare fünf Prozent ein. Daran zeigte sich die ganze Wucht der Krise. Ohne staatliches deficit-spending, ohne antizyklisches Gegensteuern im konjunkturellen Abschwung, ohne expansive Geldpolitik mit niedrigsten Zinssätzen wäre die Wirtschaft noch tiefer eingebrochen, und die Folgen wären vielleicht nicht mehr beherrschbar gewesen. Dennoch darf man bei dem scheinbaren Paradigmenwechsel der deutschen Politik nicht übersehen, daß die Konjunkturpakete zu zögerlich gepackt wurden. Außerdem waren sie angesichts des dramatischen Konjunktureinbruchs noch zu klein bemessen. Aber immerhin betrug der Impuls der Finanzpolitik im Jahr 2009 gut 36 Milliarden Euro (1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts), und er wird in diesem Jahr immerhin noch fast 25 Milliarden Euro (ein Prozent des BIP) ausmachen.

Weiterhin besteht aber in Deutschland Massenarbeitslosigkeit. Trotz des in den Medien stolz verkündeten Rückgangs der amtlichen Arbeitslosenzahlen sind nach wie vor gut vier Millionen Menschen ohne Arbeit. Dabei ist nicht einmal die große Zahl der nur prekär Beschäftigten mitgerechnet. Vor diesem Hintergrund die Krise für beendet zu erklären, ist fahrlässig. Verantwortungslos ist es, die Ursache der Finanz- und Wirtschaftskrise – eben den von unten nach oben umverteilenden Neoliberalismus – in der politisch-öffentlichen Krisendiskussion auszublenden und allenfalls Krisenauslöser zu benennen. So haben dann die Amerikaner und die US-amerikanische Notenbank Fed mit ihrer expansiven Geldpolitik Schuld, oder wir haben über unsere Verhältnisse gelebt, wie neben vielen anderen auch Bundeskanzlerin Angela Merkel uns bezichtigt. »Die Banker« werden pauschal für schuldig erklärt, und Verwürfe richten sich auch gegen zu sehr deregulierte Finanzmärkte, die man aber bis heute nicht wieder reguliert hat. Im Gegenteil: Was die sogenannte Elite der Weltpolitik (»G-20-Gipfel«) bis heute zustande gebracht hat, kann man nur als absolutes Versagen bewerten. Den Versprechungen und großen Worten folgten lediglich hohle Taten, denn die politischen Herrschaftseliten und Plutokraten wollen gegenüber der Öffentlichkeit nicht die wahre Krisenursache offenlegen, weil ihnen das schlecht bekommen würde. Deshalb wird weiter abgelenkt, desinformiert und mystifiziert – koste es was es wolle (selbst die nächste große Krise), nur nicht das Vermögen und die Macht der Reichen.

Daß diese es politisch geschickt geschafft haben, die Krisenverluste zu sozialisieren und die Gewinne zu privatisieren, zeigt die von der Deutschen Bundesbank veröffentlichte gesamtwirtschaftliche Vermögens- und Finanzierungsrechnung. So hat allein von 1991, also nach der Wiedervereinigung, bis 2009 das Vermögen der privaten Haushalte in Deutschland um gut 1,8 Billionen Euro zugenommen. Dies waren jahresdurchschnittlich 96,8 Milliarden Euro privater Reichtumszuwachs. Im selben Zeitraum nahm die Staatsverschuldung (öffentliche Armut) um knapp 888 Milliarden Euro zu. Dies waren jahresdurchschnittlich 46,7 Milliarden Euro. Außerdem standen die Unternehmen (ohne Finanzinstitute) mit gut 461 Milliarden Euro und das Ausland mit knapp 749 Milliarden Euro bei deutschen privaten Haushalten und den Kreditinstituten in der Kreide (vgl. Tabelle).

Gesamtwirtschaftliche Vermögensbildung und ihre Finanzierung von 1991 bis 2009 (Finanzierungssalden in Milliarden Euro)

  Private
Haushalte
Unternehmen
(außer Finanzinstitute)
Finanzinstitute Staat Ausland
Summe 1.839,9 - 461,1 257,6 - 887,7 - 748,7
Jahresdurchschnitt 96,8 - 24,1 13,6 - 46,7 - 39,4
Quelle: Deutsche Bundesbank, eigene Berechnungen

Hier wird die Täuschung des deutschen Volkes durch die herrschende Politik und ihre neoliberalen Helfer aus Wissenschaft und Medien in ihrem ganzen Ausmaß sichtbar. Vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Vermögensrechnung bleibt nichts mehr übrig von den volksverdummenden Sprüchen wie »Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt« oder »Wir können nicht weiter unseren Kindern so hohe Schulden hinterlassen«. Die Summe allen Vermögens (positive Werte in der Tabelle) entspricht exakt der Summe aller Schulden (negative Werte). Der Saldo ist immer gleich Null. Was die einen gewinnen, müssen die anderen verlieren. Dies gilt selbstverständlich auch für die Beziehungen zum Ausland. Wenn man »Exportweltmeister« ist, mehr exportiert als importiert, also mehr Geld aus dem Ausland einnimmt, als man dort ausgibt, dann lebt die Volkswirtschaft nicht über ihren, sondern unter ihren Verhältnissen. Ein »wir« gibt es hier aber nicht. Diejenigen, die Schulden vererben und in exakt gleicher Höhe auch Vermögen, sind eben nicht dieselben. Den zehn Prozent der reichsten Erwachsenen in Deutschland gehören vom gesamten Vermögen (Geld-, Immobilien- und Produktivvermögen) gut 61 Prozent. Zwei Drittel der Bevölkerung haben so gut wie gar kein Vermögen, und etwa 27 Prozent sind hoch verschuldet.

Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin hat soeben in einer Langzeiterhebung festgestellt, daß die deutsche Gesellschaft im ersten Jahrzehnt des dritten Jahrtausends rapide auseinandergedriftet ist. Im Jahr 2000 gehörten 18 Prozent der Bevölkerung zur Unterschicht. 2009 waren es schon 22 Prozent, und die Tendenz ist weiter steigend, die Kluft zwischen Arm und Reich vergrößert sich. Um die Reichen und Vermögenden in Deutschland zu bedienen, gibt es die beiden Schuldner, den Staat und das Ausland. Daß die produzierende und Dienstleistungen anbietende Wirtschaft (ohne Finanzinstitute) ebenfalls verschuldet ist, liegt in der Natur der Sache. Schließlich benötigen die Unternehmen den Kredit für ihre Geschäfte, schütten aber regelmäßig ihre Gewinne an private Haushalte aus. Im Gegensatz dazu hat die Finanzwirtschaft, trotz der Verluste einzelner Institute, selbst in der Krise noch ihr Vermögen steigern können. Selbstverständlich haben die Schuldner den Vermögenden für die gegebenen Kredite Zinsen zu zahlen, die deren Vermögen noch weiter erhöhen. Und wenn das Ausland wie im Fall Griechenland in Zahlungsschwierigkeiten gerät, dann wird sogar die europäische Staatengemeinschaft zur Hilfe gerufen. Was stört die neoliberalen Geister da noch ihr ideologischer Schlachtruf »Privat vor Staat!«?

Unverfroren fordern die neoliberalen Verursacher der Krise die Sozialisierung der Verluste durch Staatsverschuldung ein, ohne selbst einen Beitrag zur Krisenbewältigung zu leisten. Und jetzt stellen sie die Staatsverschuldung sogar als Krisenursache hin, die durch »Konsolidierung« oder auch »Sparprogramme« zu Lasten der Schwächsten der Gesellschaft reduziert werden müsse. Das ist blanker Zynismus und sollte deutlich machen, daß man einem argen Trugschluß erläge, wenn man glaubte, der Neoliberalismus sei mit der kurzen »Rückkehr des Staates« am Ende. Im Gegenteil: Mit der europäischen und der 2009 ins Grundgesetz geschriebenen deutschen »Schuldenbremse« besitzen die Neoliberalen ein Instrument zur Durchsetzung ihrer alten Umverteilungspolitik in Form rücksichtsloser Haushaltskonsolidierung bei (womöglich gleichzeitiger) Steuersenkung für Unternehmer und Vermögende.

Genau diese Umverteilung ist mit dem von der schwarz-gelben Bundesregierung jetzt geplanten »Sparpaket« in Höhe von 80 Milliarden Euro, verteilt über fünf Jahre, intendiert. Besonders perfide sind dabei die Kürzungen bei den Ärmsten der Armen, den »Hartz IV«-Empfängern und Arbeitslosen. Aber auch die geplanten Kürzungen bei den Beschäftigten und den Arbeitsplätzen im öffentlichen Dienst werden die Umverteilung von unten nach oben weiter forcieren. Das alles wird jedoch die aktuelle Krise nicht lösen und schon gar nicht zum Abbau der seit Mitte der 1970er Jahre in Deutschland grassierenden Massenarbeitslosigkeit beitragen, sondern die Krise prozyklisch verschärfen und die Gesellschaft noch schrecklicher in Arm und Reich aufspalten.

Das einzige, was wirklich hilft, ist neben einer strengen staatlichen Regulierung der Finanzmärkte eine Beseitigung der Krisenursache, also eine Beendigung der neoliberalen Umverteilung von unten nach oben durch eine seit langem überfällige Demokratisierung der Wirtschaft.

Professor Heinz-J. Bontrup ist Sprecher der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. Von ihm erscheint in den nächsten Wochen die vierte, erweiterte Auflage seines Standardwerkes »Arbeit, Kapital und Staat. Plädoyer für eine demokratische Wirtschaft« im PapyRossa Verlag.



Herbert Schui   Europa spart sich in die Stagnation

Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat haben die Marke gesetzt: Das Grundgesetz ist um eine Schuldenbremse ergänzt worden, die öffentlichen Ausgaben besonders im Bereich Arbeit und Soziales werden gekürzt. Damit wollen sie das Defizit verringern und schließlich den Staatshaushalt ausgleichen.

Griechenland und Spanien sind mit dem Hilfsprogramm der Europäischen Union und des Internationalen Währungsfonds zu denselben Maßnahmen gezwungen worden. England beginnt nach dem Regierungswechsel gleichfalls mit energischen Ausgabenkürzungen.

Ebenso Frankreich: Zwar hatte noch im März die französische Finanzministerin Christine Lagarde von Deutschland eine Stärkung der Binnennachfrage verlangt: Dadurch könne es anderen Staaten der Euro-Zone helfen, ihre Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen und ihre Staatsfinanzen zu stabilisieren. Mittlerweile aber gibt Frankreich seinen Widerstand auf und schwenkt auf die deutsche Linie ein. Lagardes neue Parole heißt »rilance« – ein Kunstwort aus Mühe (rigueur) und Aufschwung (relance). Ob das weiterhilft?

Lagarde hatte Recht mit ihren Forderungen. Denn in Deutschland sind die nominalen Stundenlöhne im Verhältnis zum Produktionsergebnis je Stunde (also zur Arbeitsproduktivität) viel zu niedrig. Damit kann die deutsche Exportindustrie ihre Produkte billiger anbieten als andere; sie hat Wettbewerbsvorteile. Vor allem aber haben die niedrigen deutschen Einkommen zur Folge, daß Deutschland relativ wenig aus den Partnerländern importiert. Da diese mangels Nachfrage weniger exportieren und weniger Exportgüter herstellen, nimmt die Beschäftigung ab, und die Steuereinnahmen schrumpfen. Deutschland ist also in der Tat Verursacher ihrer Handelsbilanzdefizite und eines Großteils ihrer Staatsdefizite.

Das hat zunächst auch die EU-Kommission so gesehen. Mittlerweile aber folgen alle dem deutschen Kurs. Interne Abwertung heißt die euphemistische Umschreibung. Die Lösung soll so aussehen: Weil die Lohnstückkosten in Deutschland von 1999 bis 2009 nur um sieben Prozent gestiegen sind, in Frankreich und Spanien aber um 22, in Portugal um 33 und in Italien um 35 Prozent, fordert man: Die Lohnkosten in diesen Ländern müssen sinken. Das läßt sich erreichen mit sinkenden Stundenlöhnen (als Hebel dienen ein verringerter Kündigungsschutz und eine Kopie der deutschen »Hartz IV«-Gesetze) oder auch mit konstanten Stundenlöhnen bei steigender Arbeitsproduktivität und steigenden Preisen. Sicherlich ließe sich dieselbe Wirkung auch erzielen durch eine interne Aufwertung, also eine Steigerung der deutschen Löhne.

Das aber geht den Unternehmern gegen den Strich. Was kümmert sie der Ausgleich der Handelsbilanzen mit höheren deutschen Löhnen, wo sie doch von Deutschland alle Argumente für Lohnsenkungen geliefert bekommen! Der Sachzwang kommt aus dem feindlichen, mächtigen und anmaßenden Deutschland. Da muß jeder aus Gründen der nationalen Verteidigung in Lohnsenkungen einwilligen. Überdies wird mit dem lästigen Sozialstaat aufgeräumt, und obendrein schafft die drohende Arbeitslosigkeit bei niedriger Arbeitslosenunterstützung Disziplin am Arbeitsplatz.

Diese Politik wird die EU unter der Anleitung Deutschlands zu einer lang anhaltenden Stagnation verdammen. Die legitimierenden Redensarten sind schon im Umlauf: »das Vertrauen der Märkte wiedergewinnen«, »wettbewerbsfähiger werden«. Allemal sind Märkte und Wettbewerb eine menschliche Nutzveranstaltung zur Organisation der Wirtschaft, sie sind Werkzeuge. Hat der Maurer je versucht, das Vertrauen seiner Kelle wiederzugewinnen, wenn ihm was schiefgegangen ist? Er hat genau hingesehen und sich, wenn nötig, eine neue besorgt. Hier werden neue Mythen geschaffen, nachdem die alten bei der Säkularisierung der Gesellschaft unter die Räder gekommen sind. Statt der Schöpfungsmythen nun der Mythos vom Vertrauen der Märkte, vom Wettbewerb und der Wettbewerbsfähigkeit! Aber beachten wir: Im Gegensatz zur logischen Erkenntnis bildet der Mythos keine Urteile, sondern will Realitäten darstellen, für die er keine rationalen Beweise erbringen will. Ein Rückgriff auf ein magisches Weltbild also! Je weniger leistungsfähig der Kapitalismus, desto abstruser die Rechtfertigung der Politik.

Aber wenn uns die Märkte nach allen Opfern wieder vertrauen, wenn alle EU-Länder gleich wettbewerbsfähig sind, wer soll dann das kaufen, was wir so wettbewerbsfähig herstellen?

Auf dem europäischen Binnenmarkt ist die Kaufkraft geschrumpft. Die öffentlichen Ausgaben sind gesenkt, die Löhne sind niedrig. Also muß sich alle Hoffnung auf Exporte in die USA oder die Schwellenländer richten. Die USA aber werden nicht der Endverbraucher in letzter Instanz sein, werden also ihr Wachstum nicht durch Konjunkturprogramme anregen, damit Deutschland mehr exportieren kann.

Und die Schwellenländer? Zu bedenken ist: 74 Prozent der deutschen Exporte gehen nach Europa, 63 Prozent in die EU und 43 Prozent in die Euro-Zone. Die Schwellenländer haben an den deutschen Exporten einen Anteil von – großzügig gerechnet – zehn Prozent, das sind 78 Milliarden Euro (Lateinamerika, Volksrepublik China, südostasiatische Schwellenländer). Will Deutschland seine Exporte in diese Länder auch nur um 25 Milliarden steigern (ein Prozent des deutschen Bruttoinlandsproduktes), dann müssen die Importe in diese Länder um ein Drittel ansteigen. Nun hängen die deutschen Exporte – vor allem der Export sogenannter höherwertiger Kapitalgüter – im wesentlichen vom Wachstum bei den Handelspartnern ab. Je höher ihr Wachstum, desto mehr können sie importieren. Als grobe Regel kann gelten: Wenn die Schwellenländer ihre Importe um 30 Prozent steigern sollen, dann muß ihr Wachstum um 30 Prozentpunkte zulegen. Das aber ist nicht zu erwarten (das chinesische Wachstum beträgt zehn Prozent). Und selbst wenn ihnen ein derart schnelles Wachstum beschieden wäre, würden die deutschen Exporte doch nur um 25 Milliarden Euro, also um ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes steigen. Das bedeutet Stagnation, vor allem, wenn die Staatsausgaben und der Lohnanteil am Volkseinkommen sinken.

Deutschland und die EU steuern also auf eine lange Phase der wirtschaftlichen Stagnation zu: Äußerst niedrige Wachstumsraten, steigende Arbeitslosigkeit, die auch durch definitorische Erhebungstricks nicht mehr zu kaschieren ist.

Und wie wird es politisch weitergehen? Wird die Linke mit ihrem Programm schließlich überzeugen können, wird die SPD mit ihrer Schröder-Gabriel-Linie brechen? Oder läuft alles eher auf ein Erstarken der radikalen Rechten hinaus, weil ja das Ausland unser Unglück ist? Die faulen Griechen zum Beispiel, die uns Deutschen auf der Tasche liegen. Das Wahlergebnis in Ungarn deutet diese Richtung an. Andererseits zeigt das Ergebnis der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen: Die Griechenlegende hat der Koalition keine Stimmen gebracht.

Der Wirtschaftswissenschaftler Professor Herbert Schui hat an der Hamburger Hochschule für Wirtschaft und Politik gelehrt und gehört seit 2005 dem Bundestag an. Nach wie vor aktuell ist das Buch »Geld ist genug da«, das er 1996 gemeinsam mit Eckart Spoo herausgegeben hat. Webseite: http://herbert-schui.de/




Tilo Gräser   Was ist an dem »Sparpaket« neu?

Antwort: sehr wenig. Das zeigt sich schon daran, wie die Bundesregierung die geplanten Maßnahmen begründet. Da wird alles aufgezählt und heruntergebetet, was wir schon seit Jahren zu hören bekommen: Sparen soll Wachstum fördern. Wachstum soll neue Arbeitsplätze hervorbringen. Weniger Ausgaben sollen zu mehr Einnahmen führen. Steuererhöhungen sollen unterbleiben, weil sie Leistung und Investitionen verhindern würden. Die Eigenverantwortung der Bürger soll gestärkt werden. Und so weiter. Die ganze Litanei war unter anderem schon in einem Strategiepapier des Bundesfinanzministeriums unter Theo Waigel (CSU) aus dem Jahr 1996 zu lesen, auf das Otto Meyer in Ossietzky aufmerksam gemacht hat. In dem Dokument mit dem Titel »Finanzpolitik 2000« gab Waigel als Ziel aus, »mehr Freiraum für die private Wirtschaft« zu schaffen. Dafür müßten die Staatsausgaben gekürzt werden, weil der angeblich ausufernde »Wohlfahrts- und Steuerstaat« die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gefährde. Der »staatliche Zugriff auf die gesamtwirtschaftliche Leistung« müsse »zurückgeführt« werden. Wachstum sei nur möglich durch »Selbstbeschränkung des Staates«, der soziale und andere öffentliche Leistungen kürzen müsse. Die Beiträge zu den Sozialversicherungen wurden mit der Behauptung diffamiert, sie hemmten die Schaffung von Arbeitsplätzen.

Waigels Nachfolger aus der SPD hielten sich an sein Strategiepapier und setzten es brav um, und auch der jetzige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) knüpft daran an.

Auf Seite 43 dieses Papiers ist zu lesen, daß Sparmaßnahmen »politisch noch am leichtesten in einer Phase der wirtschaftlichen Bedrohung durchzusetzen« seien. Das bestärkt die Vermutung, daß die Pläne für das aktuelle »Sparpaket« längst vor der Finanzkrise in den Regierungsschubladen lagen. Und wie schon 1996 werden die versprochenen Ergebnisse auch jetzt nicht eintreten. Nur die Gewinne der Unternehmen werden weiter steigen, und die Vermögen der Reichen werden wachsen und wuchern, während die Armut sich ausbreitet.

Das Sparpaket der jetzigen Bundesregierung unter Angela Merkel ist nur die Fortsetzung eines Kurses, der schon in den 1980er Jahren begann. International gaben Ronald Reagan und Margaret Thatcher den Startschuß. Die Politik wurde allein an den Interessen der Wirtschaft ausgerichtet. Alles, was den Gewinn schmälert, wurde als wirtschaftsfeindlich diffamiert. Sozialpolitik wurde zur Armenfürsorge degradiert. Gesellschaftlicher Widerstand wurde klein gehalten und notfalls unterdrückt, die Gewerkschaftsbewegung konsequent geschwächt. Experimentierfeld für diese sogenannte neoliberale Politik war schon ab 1973 Chile unter dem Diktator Augusto Pinochet.

Das »Sparpaket« begleitet passenderweise die offiziellen Jubelfeiern im 20. Jahr der Deutschen Einheit. Hier zeigt sich, wer deren wirkliche Gewinner sind. Die Bundesregierung unter Helmut Kohl gab ab 1982 den gelehrigen Schüler der neoliberalen Vordenker und Vorreiter aus den USA und Großbritannien. Sie konnte aber nicht ganz so skrupellos vorgehen, war doch die Bundesrepublik bis 1989 das Schaufenster des »Freien Westens« gegenüber der DDR und den anderen sozialistischen Staaten. Hemmungsloser Kapitalismus à la Thatcher und Reagan hätte weniger anziehend gewirkt. Doch diese Beschränkung erledigte sich mit dem Untergang der DDR und des Staatssozialismus insgesamt. Die Verwertungsinteressen des Kapitals und seiner führenden Kräfte bekamen freie Bahn. Dem entfesselten Kapitalismus steht der Versuch einer gesellschaftlichen Alternative seit Herbst 1989 nicht mehr im Wege. »Das, was wir heute ›globalen Kapitalismus‹ nennen, war von der Leine gelassen, und nichts konnte ihn mehr aufhalten.« So offen beschrieb es 1999 in Berlin Robert J. Eaton, damals Vorstandsvorsitzender von DaimlerChrysler. 2004 freute sich der damalige Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie, Michael Rogowski, daß die Regierung unter Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 endlich »wirklich ernsthafte Konsequenzen« aus dem 9. November 1989 und der Wiedervereinigung gezogen habe.

Alles, was die deutsche und internationale Arbeiterbewegung in mehr als 100 Jahren erkämpft hat und was den Sozialstaat ausmachte, wird nun Stück für Stück abgeräumt. Was dem Kapital einst mühsam und opferreich abgetrotzt wurde, wird wieder einkassiert. Ostdeutschland und die einstigen sozialistischen Länder Ost- und Mitteleuropas waren und sind die Testgebiete. Hier prüfen die führenden Kapitalkräfte und ihre politischen Vasallen, wie weit sie gehen können, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Dieser droht schon lange nicht mehr von den Gewerkschaften und erst recht nicht von den Restbeständen der einstigen kommunistischen Parteien. Wo diese einst an der Macht waren, bemühen sich ihre Nachfolger eifrig, von den heute Herrschenden als »Realpolitiker« anerkannt zu werden. Die Idee einer gesellschaftlichen Alternative zur Vorherrschaft des Kapitals wird weiterhin erfolgreich diffamiert.

Warren Buffet, der US-amerikanische Großspekulant und Multimilliardär, hat schon 2005 in einem Interview mit CNN erklärt, worum es eigentlich geht: »Es ist Klassenkampf, meine Klasse gewinnt …« Er fügte hinzu: »… was sie aber nicht sollte«; doch derzeit ist keine Kraft in Sicht, welche die Klasse der Kapitalisten am Sieg hindern könnte. Massenmedien in der Hand großer Konzerne sorgen dafür, daß die Massen nicht auf falsche, also richtige Gedanken kommen. Millionen Menschen treffen sich, während ihre sozialen Rechte abgebaut werden, fahnenschwenkend auf Straßen und Plätzen und machen ihr persönliches Glück von hoch bezahlten Fußballspielern abhängig. Eine Niederlage der deutschen Mannschaft trifft sie mehr als der Abbau ihrer Rentenansprüche, die Verschlechterung ihrer Gesundheitsversorgung und die Tatsache, daß sie für immer mehr Arbeit immer weniger Lohn bekommen. Wenn sie denn noch Arbeit haben.

Tilo Gräser arbeitet als Journalist in Berlin. In Ossietzky hat er über längere Zeit als Chronist des Sozialabbaus mitgearbeitet.



Arno Klönne   Kommunaler Kollaps

»Selbstverwaltung in der Gemeinde«, »kommunale Demokratie« – in Sonntagsreden und Schulbüchern wird immer noch das Hohe Lied auf dieses »Fundament des Bürgersinns« gesungen. Aber intoniert ist da ein Märchen. Seinen Stoff hat es im Grundgesetz der Bundesrepublik: Die Gemeinden, Städte und Landkreise sollen »alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung regeln« können, die »Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung« seien ihnen bereitzustellen.

Die gesellschaftspolitische Realität hat nicht einmal mehr entfernte Ähnlichkeit mit diesen Verfassungsnormen. Die Regierungspolitik im Bund und in den Ländern hat den Kommunen immer mehr »Pflichtaufgaben« aufgebürdet und ihnen zugleich die eigenen Steuereinnahmen geschmälert; für »freiwillige Leistungen« blieb immer weniger finanzieller Spielraum. Kommunalpolitik besteht inzwischen zum größten Teil aus dem administrativen Vollzug der Aufträge »von oben«. Aus dem »Rahmen der Gesetze« ist eine Zwangsjacke geworden. Die meisten Kommunen sind hochverschuldet, viele dem Sparkommissariat unterworfen.

Regelmäßig beklagen sich die kommunalen Spitzenverbände über den Finanzkollaps der Gemeinden, was aber in den höheren Etagen der Politik keine Aufregung verursacht. Rettungsschirme werden hier nicht aufgespannt, vielmehr verweisen Landes- und Bundespolitiker auf »ehrenamtliche Selbsthilfe«, die doch an die Stelle bisheriger kommunaler Daseinsvorsorge treten könne.

Um klamme Kassen aufzubessern, aber auch verführt von der Ideologie der schönen Welt des »Marktes« haben viele Städte kommunale Betriebe oder Dienstleistungen privatisiert, oft mit wirtschaftlichem Schaden, immer mit dem Effekt, daß sie an Selbstverwaltung und Gestaltungsfähigkeit verlieren.

Und jedes Steuergeschenk für die Unternehmen reduziert die kommunalen Einnahmen. Die Ausgaben vor Ort indessen wachsen an, die Agenda-Politik von SPD und Grünen wie auch jetzt die schwarz-gelbe »Sparpolitik« haben die Folgen von Arbeitslosigkeit, Niedriglohn und wachsender Armut mehr und mehr auf die Kommunen abgewälzt. Darum reduzieren sie den Nahverkehr, schließen Schwimmbäder und Kultureinrichtungen, machen Krankenhäuser dicht; vielerorts verfällt die Infrastruktur, öffentliches Personal wird auf Ein-Euro-Arbeitsverhältnisse abgestuft. Das alles hat System; die finanzielle Austrocknung und damit politische Entmündigung der Kommunen hat ihren klassenpolitischen Sinn. Reichtumsschichten sind davon nicht betroffen, sie sind mobil, sie können sich ihre lokalen Lebensverhältnisse aussuchen, auch so, daß sie vom Prekariat nicht belästigt werden. Armutsbevölkerung ist ortsgebunden. Der sozialmateriellen Polarisierung in dieser deutschen Gesellschaft folgt die sozialräumliche. Die Kollapskommunen haben sich um die Hütten zu kümmern, und da muß »gespart« werden. Für die Paläste gibt es angenehmere Standorte, und an Geld fehlt es hier ja nicht.

Die Kommune als »örtliche Gemeinschaft«? Was mögen sich die Grundgesetzgeber dabei nur gedacht haben.

Professor Arno Klönne, Soziologe in Paderborn, ist Ossietzky-Mitherausgeber und Autor zahlreicher Bücher zu aktuellen Themen



Werner Rügemer
  Sparen wie die Sparkassen?

Sparen ist etwas Gutes. Sparen ist das, was in Deutschland vor allem und vorbildlich die legendäre schwäbische Hausfrau macht: Sie hält das Haushaltsgeld zusammen, sie vergleicht die Preise und kauft, was am günstigsten ist, sie gibt möglichst wenig aus, legt möglichst viel Geld zurück, auf einem Sparbuch, damit die Familie etwas hat in der Not. Ob es diese schwäbische Hausfrau je gegeben hat und weiterhin gibt, ist noch nicht geklärt. Unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel von der christlichen Banken- und Konzernpartei jedenfalls lobt die schwäbische Hausfrau immer dann, wenn die Bundesregierung etwas tut, was sie »sparen« nennt.

Das gute und richtige Sparen nach der schwäbischen Methode ist, wenn wir in etwas größere Dimensionen gehen, aufs engste mit den Institutionen verbunden, die das Sparen im Namen tragen: den Sparkassen. Die entstanden seit Ende des 18. Jahrhunderts als kommunale Einrichtungen. Die Bürger brachten ihr überschüssiges Geld aufs Konto, die Sparkasse vergab Kredite an die Stadt, an die örtlichen Gewerbetreibenden und an die Bürger. Die lokale Wirtschaft wurde gefördert, und die Bürger bekamen einen bescheidenen Zins auf ihr Sparbuch. Die Welt war in Ordnung oder soll es gewesen sein, jedenfalls bevor die Freundin der Deutschen Bank mit ihrer Art des Sparens anfing.

In Wirklichkeit ist es etwas anders. Die Sparkassen blieben zwar ihren Städten und Landkreisen verpflichtet, Ratspolitiker sitzen in den Verwaltungsräten, und es ist den Sparkassen immer noch nicht erlaubt, Profite zu machen. Aber die Sparkassen wurden Miteigentümer der Landesbanken. Das war in der Zeit, als die spätere Bundeskanzlerin noch begeistert das blaue Hemd der Freien Deutschen Jugend in der DDR überzog. Die Landesbanken, also zum Beispiel die Westdeutsche Landesbank, die Bayerische Landesbank und die Landesbank Baden-Württemberg, machten bald dasselbe wie die großen Privatbanken, namentlich die Lieblingsbank aller bundesdeutschen Bundeskanzler und Bundeskanzlerinnen: Sie gründeten Filialen zunächst in den wichtigsten europäischen Finanzoasen, in Luxemburg, Zürich und London, später auch in New York und Singapur. Sie verspekulierten sich mit Immobilien und amerikanischen Ramschanleihen. Und weil sie mitgespielt haben, müssen die Sparkassen nun einen Teil der Landesbankschulden übernehmen.

Doch die Sparkassen haben noch auf andere Weise den Sparern geschadet: Sie verkauften den Bürgern die sogenannten Lehman-Zertifikate. Dabei wiegten sie die meist älteren Mitbürger in trügerische Sicherheit: Der Begriff »Zertifikat« klang nach etwas Sicherem, und die Sparkassenberater informierten die unerfahrenen Anleger nicht darüber, daß die Zertifikate der US-Investmentbank Lehman Brothers in den USA an individuelle Anleger gar nicht verkauft werden durften, wegen ihres spekulativen Charakters. Jetzt stöhnen Zehntausende Anleger unter ihren Verlusten, haben ihre Rente verspielt. Mithilfe von Massenklagen kämpfen sie vor den Gerichten gegen die Sparkassen um Schadenersatz. Soweit ist es also gekommen: Die Bürger verklagen »ihre« Sparkassen, aus Freund wurde Feind.

Die Sparkassen fügen auch den Städten, denen sie ihre Existenz verdanken, großen Schaden zu. Nehmen wir zum Beispiel die Sparkasse Köln. Sie wollte wie die großen Banken das ganz große Geld mit ganz großen Immobilienprojekten machen – unter anderem dem Medienzentrum Coloneum und den neuen Kölner Messehallen. Zu diesem Zweck vergab die Sparkasse Kredite an Millionäre und Milliardäre, die sich an den Immobilienfonds beteiligten. Natürlich war die Sparkasse daran interessiert, daß die Stadt für die Messehallen möglichst hohe Mieten zahlt. Um das Projekt investorenfreundlich durchzuziehen, vergab der Sparkassenvorstand an zwei CDU-Politiker hochdotierte Beraterverträge. Einer der beiden, der Bundestagsabgeordnete Rolf Bietmann, genehmigte als Vorsitzender des Verwaltungsrates der Stadtsparkasse zum Ausgleich dem Vorstandsvorsitzenden der Sparkasse, Gustav Adolf Schröder von der SPD, eine Nebentätigkeit, damit der Investor auch von dieser Seite aus gut beraten wurde. Und so sind nun die Mieten und sonstige, verdeckte Kosten für die Hallen tatsächlich weit überhöht. Ein vom Kölner Klüngel unabhängiger Immobilienexperte hat ausgerechnet, daß die Stadt mindestens 300 Millionen Euro gespart hätte, wenn sie die Hallen nicht mit Hilfe der Sparkasse und des Investors hätte bauen lassen. Die Sparkasse hat also nicht geholfen, damit die Stadt etwas spart, sondern damit sie viel mehr Geld ausgibt, als sie hat und als die Messehallen wert sind. Weil die Sparkasse unter anderem wegen ihrer Mietgarantien für Immobilieninvestoren 2007 viel Geld verloren hat, hat die selbst schon hoffnungslos überschuldete Stadt Köln ihr 200 Millionen Euro stille Einlage zugeschossen. Sparen konnten nur diejenigen, die ohnehin schon zu viel haben, die Investoren, beispielsweise die Quelle-Erbin Madeleine Schickedanz und der ehemalige Karstadt-Chef Thomas Middelhoff, die mit den Verlustzuweisungen aus ihrer Messehallen-Beteiligung Steuern sparen, also die öffentlichen Kassen noch ärmer machen, als sie schon sind. Soweit ist es also gekommen: Mithilfe der Sparkassen sparen Millionäre und Milliardäre Steuern, machen Staat und Städte arm.

Das ist den Freunden der Bundeskanzlerin aber immer noch nicht genug. Die Deutsche Bank und auch die Europäische Union betrachten die Sparkassen als Fremdkörper in der Marktwirtschaft und wollen sie endgültig in die Hände privater Eigentümer geben. Wenn die Bundesregierungen, die Landesregierungen und die Oberbürgermeister in den Städten heute sagen, daß wir alle »sparen« müssen, dann ist höchste Vorsicht geboten. Dann soll uns das, was wir noch im guten Sinne gespart haben, aus der Tasche gezogen werden. »Sparen« heißt eben bei den sogenannten Verantwortlichen heute nicht sparen und die Wirtschaft fördern und zurücklegen für die Not, sondern die Reichen noch reicher machen und die Armen noch ärmer.

Schwäbische Hausfrau, erlöse uns vom falschen Sparen! Und wenn es diese legendäre Person gar nicht gibt und vielleicht nie gegeben hat? Dann müssen wir die finanzielle Vorsorge selber in Ordnung bringen. Schrecklich, was wir alles selbst tun müssen!

Werner Rügemer, Köln, hat als Journalist und Buchautor in den vergangenen Jahren diverse Finanzskandale aufgedeckt.



Ralph Hartmann
  Das »Sparpaket stärkt die »Hartz IV«-Armee

Die bundesdeutsche Regierung hat es wahrlich nicht leicht. Gibt sie Milliarden zur Bekämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise, zum Beispiel für Bankenrettung, Abwrackprämie und Hotelbesitzer, aus, wird sie beschimpft und beschuldigt, das Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Versucht sie zu sparen, wird sie kritisiert und angegiftet. Undank ist der Welten Lohn. Die Reaktion auf das von ihr beschlossene 82-Milliarden-Euro-Sparprogramm zeigt es anschaulich. Obwohl es rekordverdächtig ist, immerhin ist es laut der CDU das »größte Sparpaket in Deutschland« und zudem »sozial ausgewogen und zukunftsorientiert«, geifern die Spitzen der Oppositionsparteien, der Gewerkschaften und der Wohlfahrtsverbände und verunglimpfen es als »armselig und unausgegoren« (SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel), »sozial zynisch und feige« (Grünen-Fraktionsvorsitzender Jürgen Trittin), »Anschlag auf den sozialen Frieden« (Linksfraktionsvorsitzender Gregor Gysi). Übereinstimmend beklagen sie vor allem, daß von dem Sparplan, den das Kabinett inzwischen in seine Haushaltsplanung aufgenommen hat, vor allem die Ärmsten der Armen, die Hartz-IV-Bezieher, betroffen seien, wenn sie unter anderem kein Elterngeld und keinen Beitrag zur Rente mehr erhalten. Die Wohlfahrtsverbände malen den Teufel an die Wand und behaupten, daß die Umsetzung der Sparmaßnahmen zu einer weiteren Verschärfung der Lebenssituation der Hartz-IV-Abhängigen führen werde, deren jetzige Einnahmen schon zu knapp bemessen seien und nicht zu einem menschenwürdigen Leben reichen würden. Selbst der SPD-Fraktionsvorsitzende Frank-Walter Steinmeier, einer der Väter der Hartz-Gesetze, springt den klagenden Verbänden zur Seite.

Ja sind denn die Kritiker des Sparpaketes von allen guten Geistern verlassen? Haben sie immer noch nicht kapiert, daß es nicht um die 6,7 Millionen Bezieher von Grundsicherungsleistungen nach den Hartz-IV-Gesetzen, sondern um 82 Millionen Einwohner unseres Landes, um die deutsche Volkswirtschaft und damit um Deutschlands Zukunft geht? Wo wären wir denn hingekommen, wenn Ex-Kanzler Gerhard Schröder, sein unglücklicherweise wegen kleiner moralischer Verfehlungen verurteilter Freund Peter Hartz, seine rosa-grüne Regierung und die sie in dieser schicksalsschweren Frage stützenden damaligen Oppositionsparteien CDU/CSU und FDP nicht den Mut gehabt hätten, das ausufernde Sozialsystem rigoros zu beschneiden und die Agenda 2010 mit ihrem Kern, den Hartz-Gesetzen, zu beschließen?

Für halbwegs vernunftbegabte Bürger ist doch nicht zu übersehen, daß gerade Hartz IV in den zurückliegenden Jahren eine wahrhaft segensreiche Wirkung entfaltet und wesentlich dazu beigetragen hat, Deutschlands Ökonomie in den Stürmen der Finanz- und Wirtschaftskrise über Wasser zu halten und letztlich wieder auf Erfolgskurs zu bringen. Hartz IV ist der Hebel, um nicht zu sagen die Peitsche, mit dem die deutschen Arbeitnehmer zu höchster Effektivität und vorbildlichem Arbeitselan stimuliert wurden und werden. Seit Verabschiedung der Hartz-Gesetze zwischen 2003 und 2005 wissen die verbliebenen 27, 5 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in unserem Land, daß sie sich im Falle des Arbeitsplatzverlustes nicht in die recht bequeme Hängematte des früheren Arbeitslosengeldes und der darauffolgenden Arbeitslosenhilfe legen können, sondern auf der harten Armutspritsche landen. In Hartz IV zu rutschen, ist der Alptraum der noch erwerbstätigen Beschäftigten, dessen wohltuende Wirkung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Von Hartz IV leben einige Millionen, vor Hartz IV fürchten sich Abermillionen, und die Furcht hält sie auf dem Pfad der Tugend, der Arbeitsliebe und -disziplin. Erstaunlicherweise kritisieren die Gegner von Hartz IV, darunter auch Die Linke, weniger diese Nötigung der großen Mehrheit der lohnabhängig Beschäftigten (Böswillige sprechen gar von Erpressung), sondern beklagen vor allem die Lage der unmittelbar Betroffenen. Diese aber neigen glücklicherweise am ehesten zu Resignation, Politikverdrossenheit und Wahlabstinenz. Und so können die Forscher des bei der Bundesagentur für Arbeit angesiedelten Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), mit Recht einschätzen, daß die Hartz IV-Reformen »gegriffen haben«, wie auch immer sie das meinen mögen.

In der Bundesrepublik ist ein Billiglohnsektor entstanden, der in Europa seinesgleichen sucht. Zeit- und Leiharbeit wurden enorm ausgeweitet. Neue unbefristete Arbeitsverhältnisse haben Seltenheitswert. Der Arbeitsdruck in den Unternehmen ist beständig gestiegen. Aus berechtigter Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und vor Hartz IV setzen sich die Beschäftigten gottlob nicht oder nur schwach zur Wehr. »Blaumachen« gehört der Vergangenheit an. Selbst Kranke erweisen sich als pflichtbewußte Arbeitnehmer, überwinden den inneren Schweinehund und gehen diszipliniert zur Arbeit. 1975 lag der Krankenstand in der Bundesrepublik bei 5,3 Prozent, 2009 war er auf 3,3 Prozent gesunken, was Mediziner als »ungesund niedrig« bezeichnen.

Gesundheitsexpertem beim Vorstand der IG Metall haben festgestellt, daß seit Einführung der Hartz-Gesetze und als Folge des gewachsenen Arbeitsdrucks psychische und psychosomatische Erkrankungen rasant ansteigen. Depressionen werden gar zu einer Volkskrankheit erklärt.

Für die Wirtschaft aber sind diese Nebenwirkungen von Hartz IV durchaus erträglich. Schließlich können die Unternehmer, die Manager und ihre Personalchefs jederzeit auf Arbeitsuchende zurückgreifen. Das ist doch das Schöne an unserer Sozialen Marktwirtschaft, daß es immer einen Überschuß an Arbeitskräften gibt, gewissermaßen eine Rücklage. Karl Marx nannte sie bekanntlich »industrielle Reservearmee«. Den Begründer des Marxismus und seine Wortwahl muß man nicht lieben, aber seine Einschätzung, daß die genannte Reservearmee den Kapitalisten einen doppelten Vorteil bietet, ist goldrichtig: Einerseits ermöglicht sie eine sprunghafte Akkumulation, und andererseits drückt die Konkurrenz der unbeschäftigten Arbeitskräfte auf den Lohn und zwingt sie zu harter Arbeitsdisziplin.

Die Autoren der Hartz-Gesetze haben sich diese einfache wissenschaftliche Erkenntnis zu eigen gemacht und sie lediglich den Bedingungen des verschärften Konkurrenzkampfes in einer globalisierten Welt angepaßt.

Die Hartz-IV-Armee ist nicht nur eine Reserve, sie ist eine notwendige schlagkräftige Heerschar, um die die deutsche Wirtschaft und ihre Leistungsfähigkeit zu stärken. Je niedriger ihr Sold, je ärmlicher ihre Lebensbedingungen, desto besser für das Gemeinwohl. Wer die neuerlichen Kürzungen bei Hartz IV beklagt, hat das Wesen der Arbeitsmarktreformen verkannt. Deshalb muß endlich Schluß gemacht werden mit der üblen Kritik am großen Sparpaket und der Haushaltsplanung unserer tüchtigen Regierung.

Ralph Hartmann, Publizist, war im Diplomatischen Dienst der DDR tätig, unter anderem als Botschafter in Belgrad. Er schreibt regelmäßig in Ossietzky. Im Ossietzky Verlag erschien sein Buch »Die DDR unterm Lügenberg«



Rita Rosmarin  Wie man beim Einkauf »spart«

»Sie sparen € 100.-, teilt mir der Prospekt mit, den ich im Briefkasten gefunden habe. Wann, wo, wie spare ich 100 Euro? Ganz einfach: Ich muß nur den »sommerlich leichten« Blazer aus Schurwolle mit Seide kaufen, der da abgebildet ist. In einem anderen Prospekt wird mir eine »edle Hirschnappa-Langjacke mit abtrennbarem Lammfell-Kragen« angeboten. Die gefällt mir nicht, aber das mit kräftiger roter Farbe in großen Ziffern verkündete Argument »Sie sparen € 250.-« wirkt überzeugend. Wenn ich die Langjacke kaufe, spare ich 150 Euro mehr, als wenn ich mich für den Blazer entscheide. Wenn ich aber, wie mir nun durch den Sinn geht, beides nehme, spare ich sogar 350 Euro. Und noch günstiger kann ich den Damen-Kurzmantel aus Lammnappa kaufen: »Sie sparen € 400.-«. Ich brauche zwar keinen Kurzmantel, aber soll ich mir darüber Gedanken machen, wenn ich doch so viel sparen kann? Bestelle ich alle drei Teile, dann darf ich mich gar an 750 gesparten Euro freuen. Wunderbar!

Im Kleingedruckten erfahre ich, daß der Blazer »statt € 249.-« 149 Euro kostet, die Langjacke »statt € 899.-« 649 Euro für kleine und mittelgroße Personen, für Größere 739 Euro, der Kurzmantel »statt € 998.-« 598 Euro und bei meiner Größe 698 Euro. Ich rechne und komme zu dem Ergebnis, daß ich dem Versandunternehmen 1486 Euro zu zahlen habe, um zwar nicht 750, aber immerhin 560 Euro zu sparen. Das sind nahezu 40 Prozent. Welche gemeinnützige Sparkasse bietet mir so hohen Zinsgewinn wie diese Versandunternehmen?

Oder habe ich da etwas mißverstanden?

Ein bißchen Geld werden die Unternehmen wohl selber verdienen wollen. Und sicher werden sie – auch wenn die Ware aus China käme und fast nichts kostete – noch Geld brauchen, um weiterhin bunte Prospekte und dicke Kataloge drucken und verschicken zu können.

Nach langem Rechnen stelle ich überrascht fest, daß die Bekleidungshändler eigentlich noch viel großzügiger sein könnten. Sie könnten nämlich risikolos die Beträge nach dem Wörtchen »statt« beliebig heraufsetzen. Bei dem Blazer zum Beispiel, bei dem im Prospekt »statt € 249.- jetzt nur € 149.-« steht, könnte stehen: »statt € 349.-« oder »statt € 449.-«. Dann würde ich bei dem Kauf nicht 100, sondern 200 oder 300 Euro sparen. Ähnlich könnte unser Bäcker seine Brötchen annoncieren: »statt 98 nur 25 Cent, Sie sparen 73 Cent«. Bestimmt würden die Brötchen dann noch besser schmecken als bisher, weil sie ja irgendwie wertvoller geworden wären, und wir wären vergnügt, zufrieden, stolz ob unserer Sparsamkeit.

Ich ziehe den Schluß: Je mehr ich kaufe, desto mehr spare ich. Um mehr sparen zu können, muß ich um so mehr kaufen. Am meisten spare ich, wenn ich mein ganzes Geld ausgebe. Maximale Sparsamkeit würde dann freilich zu totaler Verarmung führen.

Ein Blick aufs Girokonto zeigt mir, daß ich momentan die 1486 Euro nicht habe, die ich brauchen würde, um durch die Bestellung von drei Kleidungsstücken 560 Euro zu sparen. Man müßte eben reich sein, um viel sparen zu können. Die Reihen haben das schon immer besser gekonnt als die Armen.

Rita Rosmarin (Berlin) ist aufmerksamen
Ossietzky-Lesern durch gelegentliche Beiträge bekannt



Wolfgang Bittner  Fahrradsteuer geplant

Das Bundesfinanzministerium plant die Einführung einiger neuer Gebühren, Abgaben und Steuern, um den besorgniserregend defizitären Bundeshaushalt zu entlasten und eine weitere angemessene Bezahlung und Versorgung der Politiker sicherzustellen. Im Gespräch sind bisher eine Straßenbenutzungsgebühr für Fußgänger, Fahrradsteuer, Briefkastengebühr, Lampenanschlußgebühr und Schlafstellensteuer, wie aus Regierungskreisen verlautete.

Grünanlagengebühren, Autobahnerweiterungsabgaben, Kindersteuer und Kinderverweigerungssteuer, Luft- und Wasserverbesserungsabgaben, Knopf- und Reißverschlußsteuer sowie eine Schminksteuer für Frauen und eine Rasur- beziehungsweise Bartgebühr für Männer stehen ebenfalls auf einer Vorschlagsliste des Bundesfinanzministeriums. Weitere Vorschläge zur Sanierung der Staatsfinanzen werden zur Zeit in den Finanzministerien des Bundes und der Länder ausgearbeitet. Noch umstritten sind Überlegungen, die Nutzung der Atemluft steuerlich zu regulieren.

Ohne Frage ist mit einer abermaligen deutlichen Anhebung der Lohn-, Einkommen- und Mehrwertsteuer zu rechnen, während die Bundesregierung in dem überaus sensiblen Bereich der Gewerbe-, Vermögens-, Erbschafts-, Kapitalertrags- und Transaktionssteuer äußerste Zurückhaltung übt, also jeden Eingriff in die Freiheit der Vermögenden unterläßt.

Auch die Preise für öffentliche Verkehrsmittel, Müllabfuhr, Straßenreinigung, Wasser, Abwasser und alle öffentlichen Dienstleistungen werden drastisch erhöht werden müssen. Viele Kommunen – so erläuterte der Finanzminister in mehreren gleichlautenden Interviews – stünden vor dem finanziellen Ruin und könnten kaum noch die Gehälter auszahlen. Deswegen wird beispielsweise die Ausstellung eines Personalausweises, Reisepasses, Führerscheins, polizeilichen Führungszeugnisses, einer Geburtsurkunde oder einer Steuerkarte in absehbarer Zukunft wahrscheinlich einen runden Tausender kosten müssen. Geld sei genug da, heißt es in Regierungskreisen, es sei nur noch nicht richtig verteilt. Dafür wolle man in den nächsten Jahren Sorge tragen.

Ist es gefährlich, solche Planungen bekanntzumachen, bevor die Gesetzesvorlagen auf dem Tisch liegen? Sicher! Eigentlich ist es unverantwortlich. Soll es doch Politiker geben, die hin und wieder sogar Satiren lesen. Doch nach Feststellungen der demoskopischen Institute gibt es kaum Grund zur Beunruhigung: Die Steuerpflichtigen lassen sich trotz aller Unkenrufe das Vertrauen in unsere Finanzpolitiker nicht nehmen. Kritiker behaupten zwar, die Gebühren-, Abgaben- und Steuerlast heutiger Tage gehe sogar über vergangene feudale Verhältnisse hinaus. Aber das ist eine böswillige Übertreibung. Schließlich sind die zeitlich sehr aufwendigen Hand- und Spanndienste schon seit Längerem abgeschafft worden. Das Jus primae Noctis, das mancherorts zu Unzuträglichkeiten führte, ist ersatzlos weggefallen, und die lokalen Verbote, in den Wäldern Blätter als Streu für die Schweine und Ziegen zu sammeln, sind ebenfalls aufgehoben. Das zeigt eindrucksvoll, wie viel Spielraum immer noch vorhanden ist.

Der Bund der Steuerzahler hat gegen die geschlechterbezogene Einführung von Schmink- sowie Rasur- beziehungsweise Bartsteuern scharfen Protest erhoben, da sie nach Ansicht auch von Verfassungsrechtlern gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen. Ferner warnte er vor übermäßiger Anhebung der Mehrwertsteuer: Bei 48 Prozent sei die Schmerzgrenze erreicht.

Wolfgang Bittner, Schriftsteller, lebt in Göttingen.




Lothar Kusche   Was oder wen könnte man sparen?

Eine Frage, die sich nur nach dem persönlichen Geschmack des Befragten beantworten läßt. Manch einer denkt daran, daß es in vielen Ländern über dem Ministerpräsidenten noch einen schwebenden Gips-Engel gibt, welcher einmal jährlich eine Neujahrsansprache verfaßt oder in seinem Garten Würstchen an erwählte Kinder verteilt. Unser Bundespräsident ist eine feste Einrichtung. Man liebt ihn, wenn er da ist oder wenn er gerade mal nicht da ist. Man hat ihn nicht angeschafft, und man kann ihn nicht abschaffen. Kleinere Gemeinden verfügen noch über Nachtwächter.

Sparen wollten wir uns die staatlichen und städtischen Spar-Fritzen, die uns gern die restlichen Kultur-Güter unverzüglich beschneiden oder ganz abschneiden möchten.

Beim Musiktheater sind solche Einsparungen schwierig. Verdis »Nabucco«-Gefangenenchor (»Fliege, Gedanke, auf goldenen Schwingen«) verliert ein bißchen von seinem Gedankenflug, falls ihn weniger als vier Sänger vortragen. Auch für Ballett-Aufführungen, die meistens nicht nur aus Pas-de-deux-Serien bestehen, bringt eine Personal-Verknappung Probleme mit sich. Man stelle sich Prokofjews »Romeo und Julia« in Abwesenheit des alten Capulet vor, der vielleicht gerade an einer Kaffeefahrt für Rentner teilnimmt. Und auch die Begründung, in Belá Bartóks Ballett »Der holzgeschnitzte Prinz« müsse wegen der gestiegenen Holzpreise die Titelrolle unbesetzt bleiben, könnte manche Zuschauer womöglich verstimmen.

Vor einiger Zeit mußte die Deutsche Staatsoper Unter den Linden alle »Dornröschen«-Vorstellungen absagen, weil 16 Planstellen unbesetzt waren, darunter die für jene sieben Tänzerinnen und Tänzer, ohne die man Tschaikowskis populäres Werk (in der Choreographie von Rudolf Nurejew) nicht aufführen kann. »Die Stellen sind im Haushaltsplan ausgewiesen und vom Parlament bewilligt, durften aber auf Grund des vom Innensenator verfügten allgemeinen Einstellungsstopps für den öffentlichen Dienst nicht wieder besetzt werden. Kürzlich waren bei einer ›Schwanensee›-Vorstellung nur 18 und nicht 24 Schwäne auf der Bühne zu bewundern.«

Das amtliche Interesse von Polizeipräsidenten am Opernspielplan hat, wie man aus der Geschichte weiß, schon zu Katastrophen geführt. Fühlt sich der Innensenator als Choreograph und ordnet an, welche Schwäne im öffentlichen Dienst beschäftigt werden dürfen und welche nicht, so ist das Fiasko vorprogrammiert. Die hiesige Obrigkeit spendet unsere Mittel nur ungern dem Kulturleben und verwendet sie stattdessen großzügig für die Untertunnelung ganzer Stadtteile oder die Umleitung der Spree. Lediglich für den Opernbetrieb war das Kleingeld meistens noch vorhanden. Wird auch damit weiter geknausert, so muß man mit dem Schlimmsten rechnen.
Beispielsweise damit, daß der Tanz der kleinen Schwäne von einer Einzelperson zelebriert wird, deren Tutu mit der Aufschrift »Schwan Nr. 1–8« bestickt ist, während man an ihren Roßhaar-Waden sofort jenen aushilfsweise eingesprungenen Senator erkennt, der in unserer einmaligen Metropole das einzigartige Kultur-Niveau verkörpert, um das uns mit Recht die ganze Welt inklusive der Insel Sankt Helena beneidet.

Der Berliner Schriftsteller und Satiriker Lothar Kusche schrieb jahrzehntelang für
Die Weltbühne und ist Ossietzky-Autor seit der ersten Ausgabe des Blattes.