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Titel1408

Alleswisser  (Werner René Schwab)

Das Statistische Bundesamt weiß es genau: In 50 Jahren gibt es nur noch 65 Millionen Deutsche, und ein großer Teil davon sind Alte. Mit anderen Worten: Die Bundesrepublik verliert nicht nur Menschen, sie vergreist zudem. Diese auch von vielen der »freien Wirtschaft« nahestehenden Wissenschaftlern als sicher angekündigte demographische Entwicklung wirkt sich selbstverständlich auf den Arbeitsmarkt, die Löhne und die Altersversorgung aus. So wird im Laufe des kommenden halben Jahrhunderts die staatliche Rentenversicherung nur noch eine Grundsicherung bieten können. Das bedeutet: Jeder Einzelne muß privat für ein lebenswertes Alter vorsorgen. Die Lebensarbeitszeit muß auf 67 oder gar 70 Jahre erhöht werden. Das Einkommen der Beschäftigten muß hinter der Produktivität zurückbleiben. Jeder muß mehr leisten, ohne dafür mehr Lohn zu beziehen. Schon ein allgemeiner Mindestlohn könnte alle verbliebenen sozialen Sicherheiten in Frage stellen; »er würde«, wie der für seine Weisheiten berühmte Präsident des Ifo-Instituts, Hans-Werner Sinn, vorhersagt, »bis zu 621.000 Arbeitsstellen kosten«. Deshalb warnen uns die privaten Versicherungsunternehmen eindringlich mit Zahlenangaben, die ihnen von Wirtschaftsinstituten und -professoren geliefert werden, und schon 30jährigen wird ans Herz gelegt, Geld fürs Alter anzulegen. Aber nur auf Kapitalbasis und bei Privatunternehmen.

Die meisten Politiker der »Mitte« und sogar ein Großteil der Bevölkerung glauben solchen pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen. Tag für Tag wird ihnen eingehämmert, hier seien objektive Fachleute am Werk, die uns nicht nur vor drohender Armut schützen, sondern Deutschland als gerechtes Land bewahren wollten, in dem zu leben es sich lohne. Allerdings müsse dazu jeder sein Scherflein beitragen, indem er auf manches verzichte und keinen Widerstand gegen Privatisierungen (zu deutsch Verschleuderung des gesellschaftlichen Reichtums Großkapitalisten) leiste.

Die Konzernmedien verschweigen, daß unabhängige Wissenschaftler es für unseriös halten, Voraussagen für etliche Jahrzehnte zu machen und entsprechende Rezepte auszustellen. Der Koblenzer Statistik-Professor Gerd Bosbach weist zum Beispiel auf eine vor 40 Jahren gemachte Bevölkerungsprognose hin, die weit danebenging. Kaum lag sie vor, begann 1959 der »Babyboom«: Innerhalb von sechs Jahren wurden in West-Deutschland 7,8 Millionen Kinder geboren. Dann wurde die Pille erfunden, und es folgte der sogenannte Pillenknick, der jede bis dato gemachte Prognose über den Haufen warf. Und niemand konnte abschätzen, welches Ausmaß die Einwanderung annehmen würde.

Es war die Zeit der beiden feindlichen Weltlager. Ebensowenig wie es damals möglich war, den heutigen Zustand der Welt, vor allem den der Industrienationen, richtig vorherzusagen, ist das heute für die Zeit bis zum Jahr 2060 möglich. Nach aller Erfahrung können wir zwar damit rechnen, daß die Produktivität Fortschritte machen wird. Aber wie sich die vielen neuen Erfindungen auswirken werden – keine Ahnung.

Nicht einmal für drei Jahre können Stadtkämmerer und Bürgermeister die Entwicklung der städtischen Finanzen überblicken. Vernünftigerweise stellen sie viele geplante Projekte unter Vorbehalt. Anders die zahlreichen vom Kapital und seinen abhängigen Politikern hochbezahlten Steuerschätzer, Wirtschaftsweise, Konjunkturforscher, Finanzexperten, Bankanalysten, Aktienmanager. Sie ändern zwar jedes Jahr ihre kurz zuvor gemachten Voraussagen, weil sie nicht stimmten. Aber wie es in einem halben Jahrhundert sein wird, das wissen sie angeblich ganz genau. Auf Punkt und Komma.