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Erinnerungen zu einem Jahrestag  (Wolfgang Helfritsch)

Vor einigen Jahren, als es noch die »Sojus« gab, besuchten wir mit einer Reisegruppe das damalige Leningrad. Auf dem Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof kamen wir vor der Inschrift »Niemand ist vergessen, nichts wird vergessen.« mit Einheimischen ins Gespräch. Wir hatten schon länger nebeneinander gestanden, aber kaum voneinander Notiz genommen. Das änderte sich, nachdem ein älterer Mann – offensichtlich ein Kriegsveteran – umständlich eine Flasche Wodka aus seiner Wattejacke genestelt hatte und sie in der Runde herumgab. Keiner verweigerte einen Schluck, und danach bedurfte es nur noch weniger Worte. Sprachlich unbeholfen versicherten wir uns, dass sich so etwas nicht wiederholen dürfe, und jeder werde sein Scherflein dazu beitragen. Bevor wir auseinandergingen, umarmten wir uns.

 

Daran erinnerten wir uns, als der 75. Jahrestag des faschistischen Überfalls auf die damalige Sowjetunion seine verpflichtenden Schatten vorauswarf. Wir erwarteten, dass die Medien angemessen darauf orientieren würden und das blutige Jubiläum in historische Zusammenhänge stellen würden. Das erwies sich als Illusion. Ein Presse-Rundumsicht bestätigte uns, dass es, wie der Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums, Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Platzeck, im Tagesspiegel und in der MAZ bedauerte, weiße Flecke in der bundesdeutschen Gedenkkultur gibt. »Weder im Bundestag noch in Form von Veranstaltungen der Bundesregierung« würde offiziell der 27 Millionen Toten gedacht, die der Vernichtungskrieg gegen die SU gefordert hatte. Erst auf Drängen der Linkspartei gab es eine einstündige Debatte im Bundestag. Matthias Platzeck war übrigens der einzige deutsche Polit-Prominente, der im eigenen Auftrag nach Minsk reiste, um an den Gedenkfeierlichkeiten in der von den Aggressoren einst fast dem Erdboden gleichgemachten Stadt teilzunehmen.

 

Zwar hatte Bundespräsident Gauck am Jahrestag – mit Verspätung, aber immerhin – daran erinnert, dass kein Land im Zweiten Weltkrieg so große Opfer erlitten hatte wie die Sowjetunion und dass »die barbarische Politik des nationalistischen Deutschlands von Rassenwahn und Herrenmenschentum geleitet« war. Und auch Bundestagspräsident Lammert hatte im Deutschen Historischen Museum auf die deutsche Schande Bezug genommen. Eine »kleine Anfrage« an die Bundesregierung bezüglich des traurigen, aber verpflichtenden Gedenktags war jedoch schon vorher dahingehend abgeschmettert worden, dass der Jahrestag Aufgabe der »fachkundigen ... Einrichtungen der politischen, historischen und kulturellen Bildung« sei. Ach so.

 

In Vorbereitung auf den denkwürdigen Schandtag durchblätterten wir in den Vortagen einige Zeitungen, um uns über diesbezügliche Veranstaltungen zu informieren. Neben Beiträgen in Periodika (Rotfuchs 6/16; Ossietzky 13/16) informierte das neue deutschland, die »sozialistische Tageszeitung«, auf Seite 12 unter der Spaltenüberschrift »TIPPS« in sieben Zeilen à fünf Zentimeter über eine Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag des deutschen Überfalls »auf der Fanmeile«, unter anderem mit Erhard Eppler und dem Hanns-Eisler-Chor. Für die »Fête de la Musique« – nichts dagegen zu sagen – reservierte das Blatt am selben Tage eine seitenlange Randspalte.

 

Außer zwei Hinweisen in der jungen Welt auf Veranstaltungen in Frankfurt am Main fanden wir keine weiteren Hinweise, aber unsere Spurensuche war vielleicht auch nicht gründlich genug.

 

Im Gegenzug zum Gedenktag, den Heinrich Mann einst als den »wirklich entscheidenden Tag des Jahrhunderts« bezeichnet hatte (Essays, 3. Band, Aufbau-Verlag, 1962), sprach sich Kanzlerin Merkel im Kontext zu den USA-Militärausgaben für die Erhöhung des bundesdeutschen Militäretats aus, und die EU verlängerte die gegen Russland verhängten Sanktionen um ein weiteres halbes Jahr, obwohl die deutsche Wirtschaft davon auch ihren Schaden hat.

 

Das NATO-Manöver »Anakonda« probt in Polen den Ernstfall und sorgt dafür, dass man ihm näherkommt. Die Aufstockung der NATO-Kontingente im Baltikum erhöht die Bedrohung der russischen Enklave Kaliningrad und zwingt Russland dazu, an der Rüstungsspirale kräftig mitzudrehen.

 

Die »Russlandgegner« praktizieren, wie der Kommentator Kalbe einschätzte, »genüssliche Feindseligkeit« und watschen besorgte Mahner als Putin-Versteher und Demokratiefeinde ab. Außenminister Steinmeier hat alle Mühe, seine Warnungen vor »Säbelrasseln« und »Kriegsgeheul« vor Sinnesfreunden und Kontrahenten innerhalb und außerhalb seiner Partei zu relativieren und zwischen den Stühlen nicht vom Seil zu stürzen. Und SPD-Chef Gabriel, nicht mit dem gleichnamigen Erzengel zu verwechseln, versucht sich mit seiner undefinierten Forderung nach einem »Bündnis aller progressiven Kräfte« aus dem Schneidersitz zu erheben und die bevorstehende Begegnung mit Putin achtbar zu überstehen. Der Russlandbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, schlägt Alarm und warnt vor einer weiteren Eskalation »bis hin zum Krieg« (Berliner Kurier vom 24. Juni).

 

Nachdem wir beim vormittäglichen Besuch im Deutsch-Russischen Museum in Karlshorst zwar offene Türen und eine eindrucksvoll angeordnete Materialsammlung, aber keine Gedenkveranstaltung angetroffen hatten, entschädigte uns der Besuch der gut besuchten und emotionalen öffentlichen spätnachmittäglichen Veranstaltung vor dem sowjetischen Ehrenmal im Berliner Tiergarten. SPD-Urgestein Erhard Eppler fand zum Jubiläum und zur aktuellen Situation deutliche Worte, und der Hanns-Eisler-Chor bewies ein weiteres Mal, dass Musik und Dichtung die Vernunft und das Gefühl gleichermaßen ansprechen können. Ein besonderes politisch-künstlerisches Gepräge erhielt das Gedenken durch die Veranstaltung: »Meinst Du, die Russen wollen Krieg?« am Nachmittag des 25. Juni vor der Volksbühne unter anderem mit Gina Pietsch, Anna Thalbach, Hans Modrow und Diether Dehm.

 

Alles in allem: Eingedenk der lange zurückliegenden Begegnung auf dem Piskarjowskoje-Gedenkfriedhof und trotz der ernüchternden Entwicklung danach hätten wir uns das Gedenken an den 75. Jahrestag des faschistischen Überfalls anders vorstellen können.

 

Aber zum Glück gibt es genügend Gedenk- und Jahrestage, oft täglich mehr als einen, und mit populäreren Inhalten als Krieg und Frieden allemal. So folgte knapp auf den Jahrestag des faschistisch-deutschen Überfalls als Berlin-Brandenburgisches Regional-Geo-Event der Tag der Artenvielfalt, der am 25. und 26. Juni im Spandauer Eiskeller und auf der Falkenseer Kuhlake abgearbeitet wurde. Nichts gegen den Naturschutz, und möge uns wenigstens die Vielfalt der Flatter- und Kriechtiere erhalten bleiben!