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Bemerkungen

AKW-Praktikum geboten

Unregelmäßigkeiten, Risse in Druckbehältern, beschädigte Brennstäbe, die ungeklärte jahrtausendelange Abfalllagerung – das alles macht nichts. Bei uns in Europa ist die Atomkraft sicher. Allerdings muss man etwas für die Nachwuchsförderung tun. Doch wie gelangt man an geeignete Auszubildende? Die Arbeit in Atomkraftwerken ist schließlich anspruchs- und verantwortungsvoll.

 

Ein tschechischer Energiekonzern hat sich da etwas einfallen lassen, wie die Deutsche Welle Ende Juni meldete. CEZ nutzte einen Wettbewerb, zu dem junge Leute eingeladen waren, die ihr Schulabgangszeugnis frisch in der Tasche hatten. Als erster Preis wurde ein Praktikum in Temelin ausgelobt, dem größten tschechischen Atomkraftwerk (AKW), keine hundert Kilometer von der bayerischen Grenze entfernt. Contest Location war das Innere eines AKW-Kühlturms, der sich wegen Wartungsarbeiten gerade nicht in Betrieb befand. Für das Auswahlverfahren sollten sich die Betreffenden dort von der besten Seite zeigen.

 

Und das taten sie. Die zehn eingeladenen Mädchen posierten im Bikini vor der Kamera. Die Fotos wurden auf Facebook gestellt, damit dort die User die Schönste zur Siegerin küren konnten. Selbstverständlich sei beim Fotoshooting auch an die Sicherheit gedacht worden, erklärte CEZ in der Pressemitteilung. Neben dem knappen Zweiteiler hätten alle Teilnehmerinnen Helm und geschlossenes Schuhwerk tragen müssen.

 

Vermutlich war dem Energiekonzern gar nicht klar, wie sehr der enthüllende Badeanzug zum Ort der Ausscheidung passte. Der Bikini erinnert an eine tödliche Wurzel der Atomkraft. Benannt ist er nach dem Südseeatoll, das für frühe Atombombenversuche missbraucht wurde.

 

Nach Sexismusvorwürfen und Protesten empörter Tschech/inn/en entschuldigte sich der Betreiber des 2000-Megawatt-Reaktors später im Internet, er habe doch nur die Öffentlichkeitsarbeit zugunsten technischer Ausbildungsberufe im Sinn gehabt. Offenbar ein »Girls‘ Day« ganz eigener Art. Wie der AKW-Betreiber betonte, sei er selbst gar nicht Ausrichter des Schönheitswettbewerbs gewesen und habe inzwischen allen zehn Finalistinnen einen Praktikumsplatz im Atomkraftwerk zuerkannt.

 

Für die Ausbildung in AKW-relevanten technischen Berufen, so haben die Schulabgängerinnen demnach gelernt, qualifiziert man sich als Frau vor allem durch eins: Schönheit (oder was Facebook-User dafür halten). Und nun alle noch einmal im Chor: Bei uns in Europa ist die Atomkraft sicher. Dank kompetenter, weitsichtiger, seriöser AKW-Betreiber.          

                         

Helga Kühn

 

 

Der marktgerechte Mensch

Die Welt verändert sich mit rasanter Geschwindigkeit. Die meisten Menschen werden das mit ihrer eigenen veränderten Stellung und den verschwundenen Sicherheiten am sogenannten Arbeitsmarkt selbst erleben, seit dieser mit der Hartz-Schröderschen Agenda 2010 massiv dereguliert wurde. Gesellschaftliche Solidarsysteme wie die Krankenversicherung, die Erwerbslosenversicherung und die Rentenversicherung, die über Jahrzehnte von der Arbeiterbewegung, von den Gewerkschaften erkämpft wurden, erodieren, werden ausgehebelt, gehen in ihrer Substanz verloren. Die Arbeitszeit wird verlängert und extrem flexibilisiert – Nachtarbeit und Sonntagsarbeit nehmen fast sprunghaft zu.

 

Angela Merkel kreierte die »marktgerechte Demokratie«, die Deregulierung des Arbeitsmarktes, der Verfall des Wertes der Arbeit führt zum massiven Exportüberschuss und wird anderen Ländern empfohlen oder – im Falle von Griechenland – aufoktroyiert. Die Verlängerung dieser postdemokratischen Perspektive führt zum Menschen selbst, der sich »marktgerecht« entwickeln muss. Selektion in Schule und Universität sowie die disziplinierende Berufsausbildung reichen nicht mehr, um aus eigensinnigen Individuen brave, fitte, schnelle und flexible »Individuen« zuzurichten, die immer und überall in Konkurrenz gegeneinander aufgestellt werden: in der Produktion wie in der Reproduktion, in der Herstellung von Waren wie in der Konsumtion von Waren. Die Beziehungen zwischen uns Menschen, selbst die Liebe, alle Lebensbereiche werden Nützlichkeitserwägungen und der Konkurrenz unterworfen. Das neoliberale Ziel dieser Zurichtung ist es, einen positiven »Arbeitsrausch« zu konstruieren und zu suggerieren, im »Flow« zu bleiben und Lohnarbeit als Selbstzweck zu erleben, immer schneller und effektiver zu arbeiten. Verbunden damit ist der zeitweilige Irrglaube, so der Fremdbestimmung zu entgehen.

 

Wenn ein Praktikum dem anderen folgt, eine Befristung an die nächste gehängt wird, wenn der »Crowdworker« sich nicht für fünf Euro pro Stunde bei Audi, Telekom, der Deutschen Bank, bei Coca-Cola oder bei Greenpeace verdingen kann, schwinden Illusionen und Hoffnungen.

 

Demokratie hat nur eine Chance, nicht zu einer »marktgerechten« zu verkommen, wenn die Menschen ihre Interessen erkennen und selbst in die Hand nehmen, wenn sich Solidarität statt Konkurrenz durchsetzt. Ein neuer Film soll dafür ein Werkzeug sein: »Der marktgerechte Mensch«. Die Macher von KernFilm, Leslie Franke und Herdolor Lorenz, haben bereits »Water makes Money«, »Bahn unterm Hammer«, »Wer rettet wen« als mobilisierende Dokumentationen herausgegeben, die nicht nur in der Bildungsarbeit und von Bürgerinitiativen eingesetzt werden, sondern gelegentlich auch in öffentlich-rechtlichen Sendern gelaufen sind – Aufklärung im besten Sinne des Wortes. Der neue Film soll als »Film von unten« entstehen – finanziert von denen, die ihn sehen und zeigen wollen. Die genannten und erfolgreichen Filmprojekte haben gezeigt, wie mit Aufklärung und Mobilisierung Einfluss genommen werden kann, wie Menschen in das neoliberale Räderwerk eingreifen können, wie wir Sand im Getriebe der kapitalistischen Welt werden können. Kommunen eignen sich ihre Wasserversorgung wieder an, befreien sich von unwirtschaftlichen und undemokratischen PPP-Projekten, die Privatisierung der Bahn konnte bis auf weiteres verhindert werden.

 

Die Filmemacher bitten also um Hilfe, rufen zu Spenden auf, um den Film »Der marktgerechte Mensch« realisieren zu können und so ein Stück Zukunft zu sichern. Alle Spender_innen ab 20 Euro erhalten übrigens eine DVD von dem dann fertig gestellten Film vom Verein Gemeingut in BürgerInnenhand, der aus der Kampagne gegen Privatisierungen hervorgegangen ist.   

                     

Stephan Krull

Weitere Infos: www.marketable-people.org; Spendenkonto: Empfänger: Der marktgerechte Mensch, GLS-Bank, IBAN: DE49430609672020346200

 

 

 

Fake-Splitter

Ein Lügengebäude ist ein Lügengebäude, auch wenn es wie ein Dom aussieht.

*

Glaubwürdige Fake News sind gefährlich.

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Vor dem Patentamt steht eine bestimmte Sorte Journalisten Schlange – mit ihren Erfindungen.

*

Ich weiß nicht, ob es stimmt; es stand in der Zeitung.

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Wenn Medienkonzerne sich zwar falscher Meldungen enthalten, aber dafür etwas totschweigen – ist das Totschlag oder Mord?

*

Was passiert, wenn sich die Lügen der Kritiker bewahrheiten?

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Immer die leidige Wahl: Entweder der Wahrheit ins Gesicht sehen oder den Blick abwenden.

 

Dietrich Lade

 

 

Schaurige Tagesschau

Welchen Einfluss hat »die Macht um acht«? Dieser Frage widmen sich Uli Gellermann, Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam in ihrem neuen Buch. Die Tagesschau informiert in 15 Minuten über die wichtigsten Ereignisse des Tages oder auch nicht und sieht sich als das »Flaggschiff der ARD«. Dabei gibt sich die Fernsehnachrichtensendung verlässlich, seriös und neutral. Diesen Anspruch hinterfragen die Autoren: Uli Gellermann arbeitete als Journalist, Filmemacher und Creatve Director. Friedhelm Klinkhammer war nach seinem Jurastudium dreieinhalb Jahrzehnte beim NDR tätig, unter anderem als Gesamtpersonalratsvorsitzender und wirkte außerdem als Vorsitzender des IG-Medien-, später ver.di-Betriebsverbandes beim Sender. Auch Volker Bräutigam hat zwanzig Jahre beim NDR als Redakteur für die Tagesschau und Kulturredaktion von N3 gearbeitet.

 

Im Vorwort schreibt das Autorenkollektiv: »Seit mehr als 60 Jahren informiert die Tagesschau Abend für Abend im Ersten Deutschen Fernsehen das deutsche Fernseh-Volk über die wichtigsten Nachrichten des Tages. […] Natürlich ist die Übermittlung von Fußballergebnissen objektiv. Und auch über das Wetter wird so seriös berichtet wie möglich. Auch Unfälle, Ausstellungen und Trauerfeiern werden mit einer gewissen Neutralität ausgesucht. Doch schon, wenn es darum geht, welche Beerdigung es wie in die Nachrichten schaffen soll, bringt dieser Prozess der auswählenden Gewichtung die Redaktion in den Fahrstuhl der Parteilichkeit: Im Nachruf zum Beispiel auf Muhammed Ali wären zwei erklärende Sätze zu dessen Hinwendung zur ›Nation of Islam‹ ein sinnvoller Beitrag zur deutschen Islam-Debatte gewesen.«

 

Heute sind es in der BRD drei Generationen, die Tag für Tag das Nachrichtenensemble von ARD-aktuell – Tagesschau, Tagesthemen, Nachtmagazin und Tagesschau24 – konsumieren. Noch immer gilt die Tagesschau als eine Art amtliche Vermittlung von Neuigkeiten. Selbst die Gegner der Sendung müssen das Format beachten.

 

Die Autoren sagen: »Die ARD-Nachrichten sind die Taktgeber für die meisten Medien der Bundesrepublik Deutschland. Wer sich kritisch mit ihnen auseinandersetzt, der kritisiert den Kern des deutschen Journalismus.« Entsprechend kommentieren sie die Berichterstattung zu aktuellen Themen und stellen die viel zu unbekannten »Programmbeschwerden« als Möglichkeit des Zuschauerprotests vor.

 

Denn seit einiger Zeit wehren sich die ehemaligen NDR-Mitarbeiter, Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer, die die Schläue der Tagesschau-Redaktion nicht mehr ertragen können, mit Programmbeschwerden. Das begann während des Ukrainekriegs im Frühjahr 2014. Tagelang berichtete die Tagesschau über die angebliche Gefangennahme angeblicher »OSZE-Militärbeobachter«, die in Wahrheit nicht offiziell von der OSZE ins Krisengebiet entsandt worden waren. Für seriöse Journalisten wäre das schnell überprüfbar gewesen. Wer sie mit welchem Auftrag in den Krieg geschickt hat, ist bis heute nicht bekannt.

 

Inzwischen haben Bräutigam und Klinkhammer 200 Beschwerden verfasst, exemplarische Fälle sind beschrieben. Ein lesenswertes Buch.

 

Karl-H. Walloch

 

Uli Gellermann/Friedhelm Klinkhammer/Volker Bräutigam: »Die Macht um acht: Der Faktor Tagesschau«, PapyRossa Verlag, 173 Seiten, 13,90 €

 

 

Meister der Motivation

Anfang Mai starb Wolfgang Popp kurz vor Vollendung des 82. Lebensjahres. Ich lernte ihn 2003 im Zusammenhang mit der Demonstration der Siegener Friedensbewegung gegen den Irak-Krieg kennen. Wolfgang Popp und Bernhard Nolz vom Zentrum für Friedenskultur (ZFK) koordinierten die Proteste in Siegen mit mehreren Tausend Demonstranten. Weil ich von der Friedensarbeit des ZFK begeistert war, nahm ich ab diesem Zeitpunkt regelmäßig an den Informations- und Diskussionsveranstaltungen des ZFK und der AG Siegerländer Friedensbewegung teil, deren Sprecher Wolfgang Popp ebenfalls war.

 

Schnell wurde ich mit einer weiteren Seite von Wolfgangs Aktivitäten bekannt: Er organisierte monatliche Veranstaltungen im Literaturcafé. Wolfgang, ein Meister der Motivation, ermunterte mich, dort Vorträge zu halten. Als ich für den ersten Vortrag das Thema »Die Geschichte der osteuropäischen jüdischen Arbeiterbewegung« vorschlug, war er gerade wegen der politischen Brisanz des Themas Feuer und Flamme und sicherte mir Unterstützung zu. Damit war der Erfolg vorprogrammiert.

 

Die jüdische Thematik griff Wolfgang einige Jahre später mit der Vortragsreihe »Jüdische Autorinnen und Autoren in der neueren deutschen Literatur« wieder auf, in der ich Arnold Zweig und Hermann Kesten vorstellte. Aus den 20 Vorträgen der Lesereihe entstand 2013 das Buch »Leben im Zeichen von Verfolgung und Hoffnung«, das Wolfgang Popp zusammen mit Bernhard Nolz herausgab. Beide haben auch die interkulturelle, viersprachige Zeitschrift Panorama, den Siegerländer Friedensboten sowie et cetera ppf, die Zeitschrift der Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden (PPF) publiziert.

 

Der emeritierte Literaturprofessor Wolfgang Popp produzierte und veröffentlichte bis ins hohe Alter Texte verschiedenster Art. Sie erschienen unter anderem in der Siegener Zeitschrift durchblick, aber auch in Ossietzky. Ging er in Ossietzky vor allem auf friedenspolitische Themen ein, so erfreute er mit humorvollen Geschichten allmonatlich auch seine Freundinnen und Freunde von »Anders altern«. 2003 war er mit der »Kompassnadel« vom Schwulen Netzwerk NRW für sein gesellschaftliches Engagement ausgezeichnet worden.

 

Was seine wissenschaftlichen Verdienste betrifft, lasse ich seine Kollegen von der Universität Siegen sprechen: »Doch war es vor allem die literatur- und kulturwissenschaftliche Homosexualitätsforschung, die ihm weit über die Grenzen Siegens hinweg nationales und internationales Renommee einbrachte. Durch Wolfgang Popps Initiative wurde Siegen bereits sehr früh zum Vorreiter in Sachen Geschlechterforschung. Es gelang ihm, … Siegen als Pionier-Standort der Queer und Gender Studies zu etablieren.«

 

Ich gehöre zu einem Initiativkreis, der sich um die Pflege des Lebenswerks von Wolfgang Popp kümmern wird.

 

Peter Schmöle

 

Peter Schmöle arbeitet als Altenpfleger und ist ehrenamtlich im Siegener Zentrum für Friedenskultur (ZFK) tätig.

 

 

Ein Könner seines Fachs

Gerhard Scheumann (1930–1998) war nicht nur Liebling des Fernsehpublikums, auch vielleicht der Götter und bestimmt zeitweise der DDR-Oberen. Er hatte eine klare, überzeugende Sprache und eine Stimme, die sich einprägte. Was er machte, schien zu glücken, bürgte für Qualität. Zuerst – von 1963 bis 1965 – das Fernsehmagazin »Prisma«, das einen neuen Wind in das Medium brachte. Dann die Dokumentarfilme. »Der lachende Mann« oder »Piloten im Pyjama« waren aufregende Zeugnisse einer Weltlage, die den Sozialismus als moralischen Sieger sah. Ähnlich die Chile-Filme oder die aus Asien oder Afrika. Das war keine billige Propaganda, da hatten Könner des Dokumentarfilms Seiten der Wirklichkeit entdeckt, die man so noch nicht gesehen hatte.

 

Das Studio Heynowski und Scheumann (H&S) war ein Markenzeichen. Einige Zeit gepäppelt mit Sonderbe-dingungen, wurde es 1982 plötzlich aufgelöst. Scheumann hatte auf einem Kongress der Film- und Fernsehschaffenden Kritik geübt. Es folgte ein Parteiverfahren, aber auch ein immer gründlicheres Nachdenken seitens Scheumanns über die Arbeit, die DDR, den Sozialismus, die Welt. Verstärkt durch die große politische Entwicklung und nach der Wende als Repräsentant der DDR stigmatisiert, wurde es sehr ruhig um ihn. Er befragte sich und sein Tun gründlicher als viele andere, trennte sich von Freunden, verfiel in Depressionen, plante neue Projekte, schrieb, aber es waren nur Bruchstücke. Dazu Krankheit, schließlich Tod mit siebenundsechzig.

 

Frank Hörnigk (1944–2016) nennt das Buch ein »Fragment«. Es kommt »angesichts der Widersprüche dieses Lebens zu einem Abschluss ohne Ende«. Gerade das ist das Spannende daran.

 

Christel Berger

 

Frank Hörnigk: »Das geteilte Leben des Gerhard Scheumann«, Verlag für Berlin-Brandenburg, 262 Seiten, 20 €

 

 

 

Er fehlt

Es gab nicht so viele Menschen in der DDR, die bereits zu ihren Lebzeiten Legenden waren. Einer gehörte ganz gewiss dazu: Jürgen Kuczynski, der wohl letzte Universalgelehrte, dessen Lebenswerk – allein gemessen an geschriebenen Büchern, Broschüren und Aufsätzen – noch immer großen Respekt abverlangt. Der Wirtschaftshistoriker, der in den 1920er Jahren promoviert hatte und während der Nazizeit 1936 ins Exil nach England gegangen war. Er wollte sie mitgestalten, die neue Gesellschaft in einem antifaschistisch-demokratischen Deutschland. Auch wenn er später immer ein wenig bedauerte, dass er nach Gründung der DDR nicht Wirtschaftsminister geworden war, so war er doch von 1947 bis 1950 der erste Vorsitzende der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion, dem Vorläufer der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft (DSF). Aus dieser Zeit ist ein ganz kurzer Brief erhalten geblieben, der belegt, dass auch große Wissenschaftler durchaus in der Lage sind, zu flirten. An eine Elsbeth B. schrieb er am 1. November 1949 auf DSF-Briefpapier: »Du warst noch reizender als sonst. Wie soll das zwischen uns enden!«

 

Bis zu seiner Emeritierung 1968 leitete J. K. das Institut für Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität. Danach stand ihm noch mehr Zeit zur Verfügung für eine ungeheure geistige Produktivität. So verwundert es nicht, dass er auch als Kandidat für die Verleihung des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften ins Gespräch kam.

 

1964 holte ihn der als Nebenklagevertreter im Frankfurter Auschwitz-Prozess agierende Friedrich Karl Kaul als Sachverständigen für die Erstattung eines Gutachtens über die »Verflechtung sicherheitspolizeilicher und wirtschaftlicher Interessen bei der Errichtung und im Betrieb des KZ Auschwitz«. Hier ging es vor allem darum, die Zusammenarbeit zwischen der IG Farben und der SS zu charakterisieren. Mein erster Brief an J. K. befasste sich deshalb auch mit diesem Gutachten und geht in das Jahr 1978 zurück. Von da an gab es einen losen Briefverkehr. Als ich 1986 an der Humboldt-Universität eine biografische Skizze über Friedrich Karl Kaul verfasste, suchte ich im Vorfeld auch mit Kuczynski das Gespräch. Der Gedanke kam mir spontan, als ich in Weißensee in anderer Sache unterwegs war. Ich klingelte am späten Vormittag unangekündigt bei ihm, und er öffnete mir in Hausschuhen und Strickjacke. Ich durfte auf dem berühmten Stuhl Platz nehmen, der einst einem spanischen Vizekönig gehört haben soll, und wir konnten uns längere Zeit austauschen. Als er mich danach wieder zur Tür brachte – ich war damals 25 Jahre alt – sagte er mir zum Abschluss: »Mach das nie wieder, ruf mich vorher an, wenn du mit mir sprechen willst. Es war nur senile Gutmütigkeit, dass ich dich heute empfangen habe.« Künftig habe ich mich selbstverständlich danach gerichtet. Später schickte ich ihm die biografische Skizze mit der Bitte um seine Meinung mit dem hohen Anspruch, »wenn du mit mir zufrieden bist, dann bin ich es auch«. Zum Glück fiel sein Werturteil positiv aus, was mich ohne jeden Zweifel stolz machte.

 

Der Kontakt blieb bis kurz vor seinem Tod im August 1997. Besonders spannend war dabei für mich, wie Kuczynski die Veränderungen von 1989/90 einschätzte und die dann einsetzende Entwicklung, nachdem es die DDR nicht mehr gab. Zu allem hatte er eine Meinung, die manchmal auch wie Trost wirkte. Geblieben ist vor allem sein ungebrochener Optimismus, dass sich die Menschheit eines Tages doch für den Sozialismus und nicht für die Barbarei entscheiden wird.

 

Ralph Dobrawa

 

 

Internes vom MfS

Was die Parias in Indien waren, sind die Angehörigen der »Stasi« in der BRD. Nicht per Gesetz, denn vorm Grundgesetz sind alle Menschen gleich, sondern per veröffentlichter Meinung. Früher hatte man einen Pranger, heute hat man Medien. Die Betroffenen sind macht- und rechtlos. Wenn man bei der Gestapo oder beim Volksgerichtshof war oder als Sexualverbrecher verurteilt worden ist, ist man weniger stigmatisiert. Keine noch so niedrige Stellung im öffentlichen Dienst, kein Abgeordnetenmandat steht einem ehemaligen Mitarbeiter der »Stasi« offen. So ist die »normative Kraft des Faktischen«. Mit Rechtsstaat verträgt sich das.

 

Jetzt sagt ein hoher Funktionär der »Stasi« aus, ein ehemaliger Stellvertreter von Erich Mielke, Werner Großmann. Der Leser erfährt, woher er kommt, aus Oberebenheit in Sachsen, ein Dorf, das aus drei Gehöften bestand und vielleicht auch noch besteht. Großmann absolvierte die aus zwei Klassen bestehende Dorfschule, bis der Lehrer seine Eltern überzeugt hatte, ihn aufs Gymnasium nach Pirna zu schicken. Er war noch 15 Jahre alt, als 1944 die Schule aufhörte. Mit 16 landete er beim Volkssturm. Mit 17 trat er zusammen mit seinem Vater in die KPD ein. Danach bot ihm der neue Staat mit der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) die Möglichkeit zu Abitur und Studium. Lehrer wollte Werner Großmann werden. Doch der neue Staat wollte und musste sich schützen. So kam der Student nolens volens zum Geheimdienst. Das war 1952, Großmann war 23, er war verheiratet, und seine Frau erwartete das zweite Kind.

 

Die DDR gründete einen Auslandsnachrichtendienst. Alles fing ganz klein in Pankow an. Später folgte ein Studium in Moskau, und Großmann, der ehemalige Jungzugführer der HJ, stieg auf, bis er schließlich 1986 Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) und ein Stellvertreter Mielkes wurde. Alles offen und flüssig berichtet.

 

Da tauchen Namen über Namen auf: Honecker, Mielke, Krenz, Abrassimow, Gorbatschow und sowjetische Offiziere wie der Leiter des KGB Krjutschkow, aber auch Brandt, Guillaume, Lengsfeld, um nur einige zu nennen. Sogar der frühere Richter am Bundesgerichtshof, Klaus Detter, fehlt nicht, leider jedoch ein Personenregister.

 

Selten oder nie wird man anderswo so viel über einen Geheimdienst erfahren. Wo kommt es vor, dass ein Staat und mit ihm sein Geheimdienst verschwindet?

 

Ein Kapitel deutscher Geschichte wird berichtet. Der Leser erfährt nicht nur, wie die HVA entstand und dass sie schließlich 4126 Mitarbeiter zählte, er lernt nebenbei auch die DDR kennen. Viel für 252 Seiten.

 

Für mich war »Der Überzeugungstäter« das lehrreichste Buch der letzten Jahre.        

                          

Friedrich Wolff

 

Werner Großmann/Peter Böhm: »Der Überzeugungstäter«, edition ost, 252 Seiten, 16,99 €

 

 

 

Die Deutschen und ihr Urlaub

Man will es einfach nicht glauben …, hurra: Der Sommer steht vor der Tür! Und mit ihm die schönste Zeit des Jahres, die Urlaubszeit. Schon einen Tag bevor unsere Kleinen in der Schule ihre Giftblätter bekommen, wird gepackt. Sommerkleid, T-Shirts, Sonnenbrille, Wanderschuhe, ein paar warme Sachen für die kühlen Tage. Bikini und Badehose nicht vergessen. Immerhin knapp die Hälfte aller Deutschen macht Strandurlaub.

 

Auch das Auto ist längst vollgetankt, die Katze bei Freunden in Obhut gegeben, und für den Garten ist der Nachbar die nächsten beiden Wochen zuständig. Dann geht es endlich los, möglichst in aller Herrgottsfrühe. Pech nur, dass alle anderen Urlauber ebenfalls diese Idee hatten. Egal, das Autobahnerlebnis gehört mit zum Urlaub.

 

Ja, der Urlaub ist und bleibt uns heilig. Mag da draußen die Welt aus den Fugen geraten sein, wir Deutschen reisen. Staumeldungen, Wetterkapriolen, Terroranschläge und Reisewarnungen können uns nicht davon abhalten. Schließlich lassen wir uns den Urlaub einiges kosten. Über 60 Milliarden Euro geben die Deutschen im Jahr für die Erfüllung ihrer Urlaubswünsche aus. Ganz vorn dabei ist die Generation 65 plus. Reiselustige Senioren sind die Lieblinge der Tourismusbranche, denn viele von ihnen packen sogar mehrmals im Jahr die Koffer. Aber es gibt auch eine Kehrseite der Medaille: Jeder fünfte Deutsche kann sich keinen Urlaub mehr leisten. Vor allem Familien mit Kindern müssen sich bei Urlaubsreisen zunehmend einschränken. Die Kleinen müssen dann ihre schulfreien Wochen zu Hause verbringen. Deutschland urlaubs-nimmersatt und kinderfreundlich?       

  

Manfred Orlick

 

 

 

Der Aussitzer

Wenn ringsherum die Blitze zucken,

ist es gescheit, sich nicht zu mucken.

Das gilt, hat wer ein Staatsamt inne,

für ihn im übertrag´nen Sinne.

Zur Wahrung des Gesichts nun

wird er aktiv durch Nichtstun.

 

Günter Krone

 

 

Zuschrift an die Lokalpresse

Dass die Menschen immer unberechenbarer werden, lässt sich fast täglich an Beispielen von ganz hoch oben bis ganz tief unten belegen. Bedrohlich ist, dass das auch Politiker betrifft, die kraft ihres Amtes weltweit unreparables Unheil anrichten können. Und was verwunderlich ist: Die Tendenz zur Absonderlichkeit scheint mehr und mehr auch auf die Tierwelt überzugreifen. So berichtet das neue deutschland am 22. Juni auf der Panorama-Seite von zwei ungewöhnlichen Vorfällen aus der Vogelwelt. In Bochum hat ein Sperling den Kopf einer 41-jährigen zum Start- und Landeplatz erkoren. Das erinnert ein wenig an die hauptstädtischen Probleme mit dem BER. Auch die herbeigerufene Polizei konnte das absonderliche Gebaren des gefiederten Freundes nicht beenden, da der Spatz nicht auf Platzverweise reagierte. Und in Riedlingen im sparsamen Schwabenland zieht eine Stockente ihren vierkükigen Nachwuchs in einem privaten Blumenkasten auf und entlastet dadurch die stark schnabelfrequentierte Donau. Sie lässt sich von ihren Hauptmietern mit Wasser und Futter versorgen und lebt vor, wie man auch eine angespannte Wohnraumsituation bewältigen kann. Diese Beispiele zeigen, dass die Vernunft mehr und mehr vom Menschen auf andere Gattungen überzugehen scheint. – Melanie Sperber (74), Rentnerin, 07580 Vogelgesang

 

Wolfgang Helfritsch