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Titel1610

Dietrich Eichholtz  (Rüdiger Hachtmann)

Ich habe Dietrich Eichholtz im September 1991 kennengelernt – auf einem anderen Kontinent, nämlich während des »Annual Meeting« der German Studies Association (GSA) in Los Angeles. Dort hatte uns der Ur-Ur-Enkel des badischen 1848er-Revolutionärs Gustav Struve, unser gemeinsamer Bekannter Walter Struve (der mit seiner wichtigen Lokalstudie über »Aufstieg und Herrschaft des Nationalsozialismus in Osterode am Harz 1918–1945« ein breites positives Echo gefunden hatte), gemeinsam mit Rainer Fröbe (der damals mit seinen Aufsätzen zum Arbeitseinsatz von Häftlingen in den Untertage-Höllen des KZ Dora Furore gemacht hatte) zu einer Sektion zusammengefaßt, in der wir unsere Arbeiten über die deutsche Kriegsindustrie während des Zweiten Weltkrieges vorstellten. Wie unsere Vorträge damals diskutiert wurden, weiß ich nicht mehr. Unvergessen wird uns allen jedoch die anschließende viertägige Tour durch die landschaftlichen Schönheiten Kaliforniens bleiben: unter glühender Sonne durch das Death Valley und anschließend durch den kaum minder eindrucksvollen Yosemite-Nationalpark. Als wäre es erst gestern gewesen, kann ich mich an eine heftige Kontroverse zwischen Dietrich und mir über den Spanischen Bürgerkrieg erinnern – während uns Rainer mit dem Mietwagen in der Abenddämmerung sicher zwischen den riesigen Mammutbäumen des Nationalparks hindurchsteuerte. Gegenstand unserer Kontroverse waren die politischen Konfliktlinien zwischen der KP Spaniens (deren Politik er verteidigte) und der linkssozialistischen Partido Obrero de Unificación Marxista (POUM), der ich mit Sympathie begegnete und begegne. Der Streit war heftig – aber zerstritten haben wir uns deshalb nicht. Im Gegenteil, seit dieser Amerika-Reise verbindet uns eine Freundschaft, die schon bald auch familiäre Züge annahm: Als Dietrich Eichholtz uns Mitte der neunziger Jahre nach dem Tod meines Vaters wieder einmal besuchte, kam meine damals vierjährige Tochter Marianne gleich zur Begrüßung auf Dietrich zu und fragte ihn ganz unvermittelt, ob er nun ihr neuer Großvater werden wolle – was Dietrich, ebenso spontan, zusagte ...

Warum ich diese beiden kleinen Geschichten erzähle? Sie zeigen dreierlei: erstens die Toleranz im politischen wie historischen Diskurs, die Dietrich auszeichnet. Kontroversen sind das Salz in der Suppe der Wissenschaften wie der politischen Meinungsbildung. Wir haben uns oft über alles Mögliche gestritten – und dabei gelernt. Zweitens zeigt die Geschichte von der kleinen Marianne, die einen neuen Großvater findet, die ausgeprägte Warmherzigkeit und Fähigkeit zur Zuwendung auch zu kleinen, scheinbar unbedeutenden Menschen. Drittens schließlich verweist der Anlaß unserer USA-Reise auf Dietrichs zentrales Forschungsfeld: die Wirtschafts- und die Sozialgeschichte des Zweiten Weltkrieges.

Von weitem kennengelernt hatte ich ihn schon früher durch einige seiner wichtigsten Veröffentlichungen. 1991 war der dritte Band seiner »Geschichte der Deutschen Kriegswirtschaft« noch nicht erschienen, er kam erst 1996 heraus. Aber der zweite Band war längst auch unter vielen West-Historikern (zu den ich zu zählen bin) zum Standardwerk geworden. Wie sehr er mir gefiel, habe ich 1985 oder 1986 in einer Zeitschrift mit dem langen Namen Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der Arbeiterbewegung (IWK) zu formulieren versucht. Dietrich Eichholtz’ voluminöses Werk ist keine trocken-wirtschaftshistorische Abhandlung. Seine Darstellung ist voller Empathie für die Zwangsarbeiter, die nach vielen Millionen zählenden zivilen Fremdarbeiter sowie die zur Industriearbeit gezwungenen Kriegsgefangenen und die KZ-Häftlinge, die noch furchtbarer geschunden wurden. So wie in der »Deutschen Kriegswirtschaft« die Opfer nicht hinter abstrakten Sätzen verschwinden, so wenig verschweigt Eichholtz die Skrupellosigkeit und nackte Profitsucht der Täter, die über Berge von Leichen zu gehen bereit waren. Die immer noch modische Tendenz zur Verharmlosung unternehmerischen Handelns, die NS-Politik und Kapitalinteressen in apologetischer Absicht auseinanderzudividieren sucht, geht ihm ab.

Neben der »Deutschen Kriegswirtschaft« gehören auch Aufsätze wie »Die Vorgeschichte des ›Generalbevollmächtigten für den Arbeitseinsatz‹«, erschienen 1973 im »Jahrbuch für Geschichte«, zu den Standardwerken der Geschichtsschreibung über das NS-Regime. Der Blick in seine Aufsätze lohnt immer wieder. So habe ich gerade noch einmal seinen bedeutenden Aufsatz »›Krautaktion‹. Ruhrindustrie, Ernährungswissenschaft und Zwangsarbeit 1944« in dem von Ulrich Herbert herausgegebenen Buch »Europa und der ›Reichseinsatz‹. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938–1945«, Essen 1991, gründlich studiert, anläßlich einer eigenen kleinen Arbeit zur Geschichte des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Arbeitsphysiologie, dessen ernährungsphysiologische Abteilung Heinrich Kraut leitete.

Höhepunkt des wissenschaftlichen Schaffens von Dietrich Eichholtz ist zweifelsohne der Band 3 seiner »Deutschen Kriegswirtschaft« über die letzte Kriegsphase von 1943 bis zum Mai 1945, empirisch und darstellerisch bis heute unübertroffen. Alle drei Bände sind – für Sterbliche freilich kaum erschwinglich – 1999 in einer fünfbändigen Kassette im Saur-Verlag wieder neu aufgelegt worden.

Eichholtz hat über seine zahlreichen Arbeiten und Dokumentationen zur NS- und Weltkriegsgeschichte – darunter »Der Weg in den Zweiten Weltkrieg« (1989, gemeinsam mit Kurt Pätzold), »Positionen, Probleme und Polemiken der Faschismus-Forschung« (1980) oder die »Anatomie des Krieges« (1969, gemeinsam mit Wolfgang Schumann) – hinaus noch ein weiteres, vielen heutigen Historikern leider unbekanntes Standardwerk geschrieben: seine Dissertation A über »Junker und Bourgeoisie vor 1848 in der deutschen Eisenbahngeschichte«, in der es wesentlich auch um die preußischen Eisenbahnarbeiter im Vormärz ging. Wie sehr diese Arbeit damals Maßstäbe gesetzt hat, wird jedem bewußt, der den Vormärz und die Revolution von 1848/49 nicht kulturalistisch verengt, sondern in den – damals noch nicht zu einer kohärenten Klasse verschmolzenen – Unterschichten eine wesentliche Triebkraft der Geschichte sah und sieht.

Die schäbige Behandlung der DDR-Historiker nach der Wende ist in jüngerer Zeit auch von bundesdeutschen Historikern kritisch kommentiert worden, etwa von Wolfgang Benz in einer der letzten Ausgaben der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft anläßlich des 80. Geburtstags von Kurt Pätzold (ZfG 5/2010). Das soll hier nicht wiederholt werden. Anzumerken ist aber, daß es an dieser schäbigen Behandlung schon früh eine Art praktische Kritik gab, so daß zum Beispiel Dietrich Eichholtz bis zu seiner Pensionierung 1995 am damals sehr renommierten Geschichtsinstitut der Technischen Universität Berlin eine Heimstatt als Historiker fand. (Wie eine späte Rache an Pluralismus und Toleranz, die dort gepflegt wurden, mutet es an, daß dieses Institut seit einigen Jahren »abgewickelt« und im nächsten Jahr endgültig geschlossen sein wird.) Weit bedeutsamer ist, daß viele DDR-Historiker sich durch den arroganten Umgang mit ihnen nicht entmutigen ließen und trotz miesester materieller Bedingungen die Kraft fanden, weiterhin produktiv zu bleiben. Zu ihnen gehört (als Militärhistoriker würde man wohl sagen: »in vorderster Front«) Dietrich Eichholtz, etwa mit dem Aufsatzband »Krieg und Wirtschaft« (1999) oder auch dem Band »Verfolgung, Alltag, Widerstand – Brandenburg in der NS-Zeit« (1993). Er ist bis heute produktiv geblieben, und mit seinen neuesten Studien ist es wie mit den Theaterstücken von Bert Brecht: Auch seine in den letzten Jahren im Leipziger Universitätsverlag erschienenen Bände über den imperialistischen »Krieg um Öl« besitzen eine eigentümliche, angesichts drohender künftiger Kriege bedrückende Aktualität.

Für einen Glückwunsch zum 80. Geburtstag wäre das ein schlechter Schluß. Deshalb sei ein persönlicher Wunsch angefügt: Bleibe so, wie Du bist, und vor allem: Mögest Du noch viele Jahre die Kraft behalten, weiterhin so produktiv zu sein.