erstellt mit easyCMS
Titel1620

Soldat 70 wird 50  (Günter Gleising/Ulrich Sander)

Wanne-Eickel Hauptbahnhof am 1. Juli 1970: Auf dem Bahnsteig Abschiedsszenen, 250 junge Männer warten auf den Sonderzug in Richtung Münster, Hannover und Hamburg. Auf dem Bahnsteig erregt eine Gruppe mit roten Fahnen Aufsehen, die Flugblätter mit der Überschrift »Soldat 70 – Wehrpflichtige melden sich zu Wort« verteilt. Später im Zug versuchen Feldjäger, die Blätter einzusammeln, was aufgekommene Diskussionen nur verstärkt und dazu führt, dass viele der neuen Wehrpflichtigen das doppelte A4-Blatt falten und gut verstauen.

 

Politische Veränderungen seit Mitte der 60er Jahre, die in der Herausbildung der Außerparlamentarischen Opposition (APO), dem Regierungswechsel von 1969 und wenig später in der Neuen Ostpolitik ihren sichtbarsten Ausdruck fanden, hatten die Bundeswehr erreicht und führten auch hier zu politischen Kontroversen über Aufgaben und Rolle der Bundeswehr. Neu war, dass sich auch Wehrpflichtige in die Diskussion einmischten.

 

Die Bundeswehr, personell wie ideell durchsetzt von der Tradition der faschistischen Reichswehr (Reichswehr bis 1934, dann Wehrmacht), stand im Widerstreit eines demokratischen Anspruches (Konzeption vom Staatsbürger in Uniform) und Revanchegelüsten, die darauf abzielten, die europäischen Nachkriegsgrenzen gewaltsam zu ändern.

 

Zu dieser Zeit wurden alle gesellschaftlichen Bereiche der Bundesrepublik mit tiefgreifenden Fragestellungen, Diskussionen und Aktionen der APO konfrontiert, auch die Bundeswehr. Im September 1968 rief der Sozialistische Deutsche Studentenbund auf, die Mitglieder der außerparlamentarischen Oppositionsgruppen sollten in die Bundeswehr gehen, um die bereits bestehende Unsicherheit der Soldaten zu vertiefen, ihre Abneigung gegen den Wehrdienst zu verstärken und ihr Verständnis für die Kriegsdienstverweigerung zu vermehren (WAZ, 10.9.1968). Den Austritt aus der NATO und den Kampf gegen Militarismus und Kriegsvorbereitung hatte schon im Mai die Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend auf ihrem Gründungskongress in Essen gefordert (elan, Juni 1968).

 

Nachdem sich 1968/69 vereinzelt Wehrpflichtige innerhalb der Bundeswehr zum Beispiel gegen die Notstandsgesetze und den Krieg der USA in Vietnam gewendet hatten, meldete sich im Sommer 1970 eine größere Gruppe wehrpflichtiger Soldaten zu Wort.

 

 

Pressekonferenz in Bonn

In der vorgestellten Studie »Soldat 70« setzten sich die zunächst 13, später 140 namentlich genannten Unterzeichner mit antidemokratischen Bestrebungen in der Bundeswehr, dem Auftrag der Streitkräfte und der Hochrüstung und Militarisierung in der BRD auseinander. Sie forderten die Beendigung der »Hetze gegen die Sowjetunion und die DDR«, die Anerkennung der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen in Europa, die »Mitwirkung der BRD an der Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems« sowie »die Entlassung aller Unteroffiziere und Offiziere, die sich in neonazistischen Organisationen betätigen«, und »aller Vorgesetzten, die der Hitler-Clique dienten und weiterhin an ihrer reaktionären Gesinnung festhalten«. Auch Forderungen nach Erhöhung des Wehrsoldes, freier Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sowie »freier politischer und gewerkschaftlicher Betätigung« der Soldaten wurden erhoben.

 

Auf dem ersten überregionalen »Kongreß Jugend gegen Kriegsdienst« der Deutschen Friedensgesellschaft/Internationale der Kriegsdienstgegner im Mai 1970 erläuterten Vertreter von Soldat 70 ihr Anliegen vor den über 900 Kriegsdienstverweigerern. Unter Berufung auf Karl Liebknecht forderte der Schütze Peter Tuchscherer, die Soldaten der Bundeswehr nicht der Ideologie der Herrschenden zu überlassen. Die antimilitaristische Arbeit in der Bundeswehr sei ebenso wie die Kriegsdienstverweigerung antimilitaristischer Kampf (WAZ, 15.5.1970).

 

»Marx läßt grüßen«, kommentierte die WAZ; die Information für die Truppe sprach von einem »Pamphlet«, von dem sich »alle maßvoll Denkenden angewidert abwenden«, Loyal – das kritische Wehrmagazin befand zu Soldat 70 »absurde, durch nichts belegte Behauptungen«, während die damals vielgelesene Satire-Zeitschrift Pardon ihrem informativen Artikel einen Coupon beifügte und zur Bestellung des »Diskussionsmaterials Soldat 70« aufrief.

 

Am 22. Mai 1970 schritt die Bundeswehrführung ein und wollte die sich verbreitende Diskussion unterbinden. Im krassen Gegensatz zu der von Bundesverteidigungsminister Helmut Schmidt (SPD) im »Weißbuch 70« erklärten Absicht, die »Diskussion unter Soldaten« zu fördern, weil sich »Diskussion unter Soldaten und Gehorsam nicht ausschließen«, wies Generalinspekteur Ulrich de Maizière in einem Fernschreiben alle Bundeswehrdienststellen an, die Verbreitung von »Soldat 70« zu verhindern. In dem Fernschreiben heißt es: »Die Behauptungen in der durch Pressepublikationen bekanntgewordenen Schrift ›Soldat 70 – Wehrpflichtige melden sich zu Wort‹ beinhalten schwerwiegende Verstöße gegen die soldatischen Dienstpflichten.« (Pardon, 7-8/1970)

 

Es folgten Einschüchterungen und Repressalien gegen die Unterzeichner der Studie, die Palette reichte von stundenlangen Verhören durch Offiziere und den  Militärischen Abschirmdienst (MAD) bis hin zu Arreststrafen und unehrenhaften Entlassungen. Indes die Diskussion wie auch eine weitere Verbreitung von »Soldat 70« konnte die Bundeswehrführung nicht unterbinden. Das Vorgehen der Bundeswehr wurde von zahlreichen Organisationen und Gewerkschaften kritisiert. In einem Briefwechsel äußerte beispielsweise der Deutsche Bundesjugendring (DBJR) seine diesbezüglichen Besorgnisse. In einer abschließenden Bewertung schrieb er dem Generalinspekteur: »Die von Ihnen eingeleiteten Schritte müssen in der Öffentlichkeit leider den Eindruck erwecken, daß die in ›Soldat 70‹ erhobenen Vorwürfe doch nicht ganz unberechtigt sind.« Die 9. Jugendkonferenz der IG Metall und die 8. Bundesjugendkonferenz des DGB forderten 1971 in entsprechenden Beschlüssen ungehinderte Diskussion der Studie »Soldat 70« und Straffreiheit für ihre Autoren (Reinhard Junge: »Barras Report – Tagebuch einer Dienstzeit. Dokumente und Materialien«, Dortmund 1971). Auf der DGB-Bundesjugendkonferenz sprach mit Gert Pohl aus Bochum erstmals auch ein wehrpflichtiger Soldat in Uniform auf einem Gewerkschaftskongress und forderte »freie politische und gewerkschaftliche Betätigung für alle Soldaten«.

 

 

Resümee, Fazit und politische Bewertung

Im Jahr 2011 wurde die allgemeine Wehrpflicht für Männer ausgesetzt – nicht abgeschafft. Frauen dürfen in die Truppe eintreten, nicht per Wehrpflicht. Dem ging voraus die Ausweitung der Reservistenarmee. In einer Nachtsitzung des Bundestages wurde im Februar 2005 ohne Aussprache ein Reservistengesetz beschlossen, das das Höchstalter für Reservisten von 45 auf 65 Jahre anhob. Das bedeutete eine erhebliche Ausweitung der Zahl der möglichen Einsatzkräfte und damit der Bundeswehr.

 

Kürzlich ergab sich eine Diskussion über die Wiedereinführung der Wehrpflicht oder doch über die Einführung eines Pflichtjahres für alle Jugendlichen im militärischen wie zivilen Bereich. Annegret Kramp-Karrenbauer griff die Idee sofort auf: Aus jährlich 1000 Soldaten, die einen kurzen Wehrdienst absolvieren, ergibt sich auf längere Sicht ein großes Reservistenpotential. Die 1000 Soldatinnen und Soldaten pro Jahr stocken dann die rund eine Million Reservisten auf, die es schon gibt und über deren Rolle nie gesprochen wird. (Süddeutsche Zeitung, 24.7.2020)

 

Was treiben diese Reservisten zum Beispiel bei den geheimen rechtsterroristischen Gruppen? Welche Rolle spielen sie in der Zivil-Militärischen Zusammenarbeit (ZMZ), in den Krisenkommandos in sämtlichen Landkreisen und kreisfreien Städten? Diese Entwicklung fordert unsere Wachsamkeit.

 

Die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) erklärte, sie sei zutiefst beunruhigt über die Pläne des Wehrministeriums, viele Tausend rechte Schießwütige als »Freiwillige« in die Bundeswehr zu locken, sie an Waffen auszubilden – und das Ganze als »Heimatschutz« darzustellen.

 

Es existiert mit der ZMZ plus Reservisten ein »Heimatschutz« – das ist ein Begriff aus der Naziszene, aber Annegret Kramp-Karrenbauer scheut sich nicht, ihn für ihr Konzept anzuwenden. Für diesen hunderttausendköpfigen Heimatschutz besteht die Wehrpflicht der Reservisten weiter. Der Bundesverband der Reservisten wirbt mit dem Satz: »Hast du gedient, dann bist du Reservist.« Und alle sind verpflichtet, zum Dienst zu erscheinen, sobald man sie ruft. Das ist bisher noch nicht geschehen – aber es kann geschehen. Deshalb ist unser Rat an alle westdeutschen Männer der Jahrgänge von 1955 bis 1990: Verweigert den Kriegsdienst, damit ihr nicht zu Reserveübungen oder Schlimmerem eingezogen werden könnt.

 

Der Wortlaut könnte sein: »Sehr geehrte Frau Ministerin, ich bin Reservist und teile Ihnen mit: Ich will es keinen Tag länger sein. Mit einer Bundeswehr, die wieder an die russische Grenze vormarschiert, die Belgrad bombardiert hat, die ein KSK mit Bezügen zum Rechtsterrorismus hat, die exorbitante Kosten verursacht und die nun auch den Heimatschutz betreibt per Einsatz im Innern – damit will ich nichts zu tun haben. Bitte rechnen Sie nicht mit mir. Streichen Sie mich aus der Liste der Reservisten, denn ich verweigere den Reservisten-Wehrdienst.«

 

Heute haben wir eine ganz andere Situation, und dennoch besteht die Notwendigkeit, sich der demokratischen Soldatenbewegung von vor 50 Jahren zu erinnern. Die Bundeswehr rückte zwar nicht an die Grenzen von 1937, aber doch an die von 1945 heran und per NATO noch weiter.

 

Unsere Autoren waren die Initiatoren der Soldatenstudie »Soldat 70« und sind heute in der VVN-BdA aktiv.