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Titel172013

Europa – eine Vision entschwindet  (Pierre Lévy)

Am 9. Mai 2013 – in Rußland gedachte man des Sieges über Nazi-Deutschland – fand in west- und mitteleuropäischen EU-Ländern wie jedes Jahr der »Europatag« statt. Jubelnde Massen wurden nirgends gesichtet. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder fanden sich in Florenz zu einem luxuriösen Rendezvous ein, doch auch ihnen war kaum nach Feiern zumute. Betrübt meinte der Präsident des Europaparlaments, der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz: »Die Zahl derer, die an Europa zweifeln, wächst ständig.« Daß die Ungläubigen sich mehren, bemerkte auch die italienische Außenministerin Emma Bonino: »Der Traum der Gründerväter (…) scheint sich für viele in einen Albtraum zu verwandeln.« Der gastgebende Florentiner Bürgermeister, Matteo Renzi, bekräftigte: »Für meinen Großvater, für meinen Vater und für mich war Europa ein Traum. Für die jüngere Generation der Italiener ist es heute ein Albtraum.«

Die Politiker beziehen sich bei solchen Äußerungen auf Ergebnisse von Meinungsumfragen. Schon im April ließ sie das »Eurobarometer« erschaudern. Im Mai veröffentlichte dann das US-amerikanische Meinungsforschungsinstitut Pew ein Umfrageergebnis (7600 Befragte in acht EU-Ländern), demzufolge innerhalb eines Jahres der Anteil der EU-Unterstützer von 60 auf 40 Prozent gesunken war. In Frankreich ließ die Zeitung Le Parisien dieses Meinungsbild nachprüfen. Demnach hat das »Vertrauen in Europa« seinen bisherigen Tiefpunkt erreicht: 38 Prozent im Vergleich zu 50 Prozent im Dezember 2011 (und 63 Prozent im Oktober 2003). 28 Prozent der 25- bis 34jährigen hegen noch dieses Vertrauen, bei den Arbeitern sind es nur noch 19 Prozent. Einzige Ausnahme: die über 65jährigen und die Wohlbetuchten.

Die Regierenden der europäischen Staaten erstarrten vor Schreck, oder sie traten die Flucht nach vorn an. Besonders grotesk wirkte die Zeremonie zur Verleihung des Aachener Karlspreises 2013 an die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaite durch Parlamentspräsident Schulz. Sich selbst beweihräuchernd feiern die Eliten weiterhin ihren surrealistischen »europäischen« Glauben.

Aber es gibt Realisten, wie aus dem Eingeständnis des französischen Präsidenten François Hollande hervorgeht: »Ich bin verpflichtet (…), die Verdrossenheit der Völker abzubauen, die die Zukunft der Europäischen Union gefährdet.«

Ein Datum beunruhigt Brüssel besonders: Die Europawahl im Mai nächsten Jahres könnte eine extrem niedrige Wahlbeteiligung ergeben und den Kräften Auftrieb geben, die den Euro beziehungsweise die EU ablehnen. Damit könnte sie das Ende des traditionellen pro-europäischen Konsenses im Europaparlament einläuten. Dieser Tendenz versucht die EU-Kommission jetzt mit ihrem Appell gegen »Rassismus und Populismus, die das europäische Projekt gefährden«, entgegenzuwirken. Auch Überlegungen Oskar Lafontaines über die Rückkehr zu den nationalen Währungen sollen so als rechtspopulistisch stigmatisiert werden, von Brüssel, aber auch von seiner eigenen Partei.

Doch keine noch so gute Werbekampagne (wie vom österreichischen Vizekanzler vorgeschlagen) wird die wachsende Ablehnung der EU aufhalten, zumal die europäischen Regierenden ihre Flucht nach vorn fortsetzen. So plädiert François Hollande für eine »neue Etappe der Integration«, und die deutsche Kanzlerin, der italienische Ministerratspräsident und der Präsident der Europäischen Kommission rufen immer wieder – wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung – nach einer Vertiefung der politischen Integration

Die französische Libération erschien mit der Schlagzeile »Europa: der Liebesentzug« und konstatierte: »Noch nie hat das europäische Projekt eine derartige Enttäuschung hervorgerufen.« Zugleich versuchte sie Trost zu spenden: »Auch wenn in Paris, Madrid, Rom oder Athen die Zweifel größer werden, so wächst doch das Vertrauen in dieses hinkende Europa in Moskau, Washington und Tokio.«

So trösten sich die Herrschenden.