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Titel1716

Ein Schriftsteller stirbt  (Harald Kretzschmar)

Der selbst für gegenwärtige Verhältnisse mit neunzig Jahren als hinlänglich betagt geltende prominente Autor verabschiedet sich von seinem Lesepublikum ins allmählich wohlverdiente Grab. Anteilnahme ist das schöne deutsche Wort für das, was eine offizielle Öffentlichkeit nun für ihn als milde Abschiedsgabe bereithält. Nur muss man eben Hermann Kant heißen, damit das zu einem Fest der nachgerufenen Gemeinheiten ausufern kann. Es gibt offenbar den Zwang, im Wettbewerb um das große »Zugegeben ja, aber schließlich ...« die goldene Palme für die drastischste einschränkende Vokabel zu erringen.

 

Das Schöne ist dabei, dass niemand an solchen Monolithen von Romanen wie »Die Aula« und »Der Aufenthalt« vorbeikann. Da ist jeweils eine gequält unbeholfene Verbeugung hinzukriegen. Gewiss, über das »gut geschrieben« und »International ein Bestseller« hinaus wird da wenig gesagt. Dass es einmal literarische Zeugnisse zu historisch bedeutsamen Fakten gegeben hat, und das in diesem Staat, wer spricht schon gern darüber. Wo doch in Bausch und Bogen alles »ehemalig« gewesen sein muss, wie kann da der Aufstieg der Unteren via Arbeiter-und-Bauern-Fakultät nach oben noch zählen? Und der blutjunge deutsche Soldat, ins Inferno der Vernichtung des Warschauer Ghettos geworfen, wie erlebte er die Schuldigen? Die Quintessenz seines »Aufenthalts«, was hat diese uns heute zu sagen? Kein Wort dazu.

 

Welch ein Glück, wenn man vom mühsam anerkannten Literarischen hurtig zur alltäglichen Agitation zurückkehren kann. Da finden sich goldene Worte als Überschriften: »Ein Talent scheitert an seinem Charakter«. »Originell und ohne Distanz«. »Kein schöner Land als die DDR«. »Kritiker sahen ihn als verlängerten Arm der SED«. »Der Schriftsteller als Diener zweier Herren«. Aber am schönsten ist »Hermann Kant dachte nie ans Weggehen« – wo doch als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, dass jeder halbwegs vernünftige DDR-Bürger un-unterbrochen vom Weggehen in den gelobten Westen träumte.

 

Ist allein das Manko dieses fehlenden Traumes schon belastend genug? Nein. Es muss jede Vokabel jederzeit griffbereit sein, welche die Perfidie der Fehlleistung als Verbandspräsident zu beweisen scheint. Reiner Kunze muss her, dem er doch »Unrat« nachwarf. Igittigitt. Ja, noch besser Günter Grass, den man an anderer Stelle längst als ewigen Streithahn demaskiert hat. Über Kants Schriftstellerverband muss man nicht viel Worte verlieren – dass da eine am Heute gemessene einzigartige Kollegialität alltäglich war. Das Schema »Böser Funktionär gegen edlen Autor« muss greifen. Die Denkweise, die man als die Anmaßung »Edler Funktionär gegen bösen Autor« wahrnimmt, ist nur einfach umzukehren, und als ewige Wahrheit zu verkünden.

 

Damit ist der gegenwärtige Stand der Erkenntnis markiert. Und ich dachte immer, die DDR ist daran zugrunde gegangen, dass nicht nur vieles dumm gelaufen, sondern leider oft genug dumm gemacht war. Der vermeintliche Sieg der Intelligenz über den Mangel an ihr war jedoch anscheinend ein Irrtum. Es war wohl eher der Triumph der versierten Schlauheit über eine unverzeihliche Begriffsstutzigkeit. Ein Pyrrhus-Sieg. Daniela Dahn hat diese auffällige Paradoxie in ihrem Buch »Wehe dem Sieger« schon vor sieben Jahren so treffend wie wirkungslos analysiert. Der nie um ein sarkastisch zugespitztes Wort verlegene Hermann Kant selbst meinte am Ende dazu: »Manchen kann es nicht vorbei genug sein, sie wollen immer noch einmal siegen.«

 

Wird die solcherart praktizierte lineare Machart der Urteilsfindung der Vergangenheit gerecht? Ist da ein Funken von Bewusstsein, dass das Zeiten und Räume waren, da Literatur im Leben der Leute noch wesentlich war? Ich vermute, die Ahnung davon ist Wurzel der Hektik der Verdammung. Erwin Strittmatter und Christa Wolf, Hermann Kant und Fritz Rudolf Fries, hallo, zeigt her eure menschlichen Schwächen, damit wir eure Leistungen schmälern können. Der da log doch seine Vergangenheit zurecht. Die da spielte ein doppeltes Spiel. Der da ergab sich vom Ehrgeiz zerfressen der Macht. Und den Spitzel da können wir überhaupt vergessen. Ich sehe, die Literaturgeschichte wird nach den Parametern der Gegenwart umgeschrieben.