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Titel1815

Spirit of Europe, havariert  (Klaus Nilius)

Die Berliner Autorin und Filmemacherin Merle Kröger hat mit »Havarie« den, wie Rezensenten in solch einem Falle gerne schreiben, »Roman der Stunde« vorgelegt. Der politische Thriller stand monatelang auf Platz 1 der Krimi-Zeit-Bestenliste. Daher durfte die Autorin Anfang September zur Eröffnung des 7. »Harbour Front«-Literaturfestivals in Hamburg aus ihrem Roman lesen.


Das Literaturfestival ist im Herbst 2009 zum ersten Mal veranstaltet worden. Seitdem haben nach Angaben der Macher über 120.000 Besucherinnen und Besucher, über 1000 Mitwirkende aus insgesamt 40 Ländern an fast 60 Veranstaltungsorten den Hamburger Hafen zu einem Treffpunkt in den Genren Deutsche und Internationale Literatur, Sachbuch, Kinder- und Jugendbuch, Unterhaltung und Spannung gemacht. Das Festival läuft bis zum 10. Oktober 2015 (Programm: harbourfront-hamburg.com).


Die Lesung fand an Bord der Cap San Diego statt, seit 1988 ein maritimes Denkmal, an der Überseebrücke im Hamburger Hafen liegend. Das 1961 gebaute Stückgutschiff wurde vormals im Liniendienst der Reederei Hamburg Süd nach Südamerika eingesetzt.
»Havarie«, das ist der Roman von der Festung Europa, die sich abzuschotten versucht zu Lande, zu Luft und zu Wasser von dem Elend ringsum. Und dennoch sich dem Ansturm nicht erwehren kann. Gestern nicht, heute nicht und sicherlich auch morgen nicht. Beschrieben werden in dem Roman ereignisreiche Stunden binnen zweier Tage, in denen der Luxusliner »Spirit of Europe« (sic!) auf seiner Route quer übers Mittelmeer auf ein manövrierunfähiges Schlauchboot aus Algerien mit Flüchtlingen und Arbeitsmigranten trifft. Oben die 3780 Kreuzfahrtpassagiere, von denen viele, zwischen Buffet und Tanz (»Jeden Abend Party«) die Handy-Kameras zücken, für die Abwechslung dankbar nach dem ermüdenden Sonnenbaden. Unten die schon fast Mutlosen und Verzweifelten, ohne Wasser und ohne Sprit, die alarmierte spanische Küstenwache ebenso weit entfernt wie die alten Seemannstugenden (»Schiffbrüchigen Hilfe leisten«), die auf Order aus dem fernen Miami oben auf der Brücke des Luxusliners aus Gründen der Kosteneffizienz über Bord geworfen werden müssen.

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Das Elend, vor dem sich Europa immer noch abschotten will, ist jedoch längst schon angekommen. Der Spirit of Europe ist havariert. In Griechenland gibt der Autor Petros Markaris in seinen Kriminalromanen eine wirklichkeitsnähere Analyse des Desasters als die deutschen Mainstream-Kommentatoren. In Frankreich beschreibt Dominique Manotti die Gewaltausbrüche in den längst stigmatisierten Pariser Banlieues, von denen eine direkte Linie in die französische Küstenstadt Calais führt, wo Flüchtlinge seit Wochen versuchen, in oder auf Shuttlezüge oder Fähren zu klettern oder gar zu Fuß durch den Tunnel zu gelangen, um Großbritannien zu erreichen.


»Abpfiff«, Manottis neuester politischer Kriminalroman aus der pauperisierten Pariser Randzone, wurde zwar vor dem FIFA-Skandal geschrieben (war da eigentlich etwas?), aber zu einer Zeit, als für Silvio Berlusconi das Spiel noch nicht aus war und er sich noch nicht daran gemacht hatte, den AC Mailand zu veräußern. Das lokale Geflecht, das Dickicht aus Intrigen und Vorteilsnahme in Manottis Roman ist ähnlich: Da gibt es den Bauunternehmer, dem der örtliche Fußballverein und damit auch die Spieler mit Haut und Haaren gehören und der über dem Gesetz zu stehen glaubt. Da gibt es Drogen, Aufputschmittel, Morde – und zum Glück auch Commissaire Théo Daquin.

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Zugegeben, der Vergleich ist gewagt. In dem dritten hier vorzustellenden politischen Kriminalroman brennt kein geringeres Gebäude als der Reichstag in Berlin. Wir sind im Februar 1933. Aber als ich beim Schreiben dieser Zeilen von dem Brandanschlag auf den Hof von Anti-Neonazi-Aktivisten im mecklenburgischen Jamel hörte, musste ich unwillkürlich an Brechts warnende Worte aus dem Theaterstück »Der Aufstieg des Arturo Ui« denken: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.« Immer noch, auch 2015.


»Märzgefallene«, so heißt der fünfte Fall der Krimiserie um Kommissar Rath im Berlin der 30er Jahre des in Köln lebenden Schriftstellers Volker Kutscher. Die Handlung ist nun, wie erwähnt, im Jahr 1933 angelangt, und Gereon Rath sieht sich plötzlich in Berlin in die Kommunistenhatz der Politischen Polizei eingebunden, während in seiner Heimatstadt Köln die Nazis den Oberbürgermeister Konrad Adenauer aus dem Amt jagen, das er seit 1917 ausgeübt hatte. Geschichtsunterricht vom Feinsten.

Merle Kröger: »Havarie«, Argument Verlag mit Ariadne, 256 Seiten, 15 € – Dominique Manotti: »Abpfiff«, aus dem Französischen von Andrea Stephani, Argument Verlag mit Ariadne, 240 Seiten, 17 € – Volker Kutscher: »Märzgefallene«, Kiepenheuer & Witsch, 603 Seiten, 19,99 €