erstellt mit easyCMS
Titel1815

Leuchtfeuer für die Glaubenspraxis  (Martin Block)

»Geheimnisse des Christentums«, das klingt nach einem Dunkel, das erhellt werden muss. Das klingt fast esoterisch – und das ist es auch, allerdings im guten, im argumentativ nachvollziehbaren Sinne. Und somit auch im traditionellen, denn vieles über Engel-, Schlangen- und Marienwissen ist im Verlauf einer hierarchisch-patriarchal verlaufenen Kirchengeschichte verschüttgegangen oder wurde nicht zuletzt aus Machterhaltungsgründen gar nicht erst zugelassen.


Renate Schoof, Schriftstellerin aus Göttingen, mehrfach ausgezeichnet für ihre Romane und Erzählungen, wendet sich in ihrem neuesten Buch der Religion zu, der christlichen. Sie tut dies über biblische Texte, darunter die Sündenfallgeschichte, die zehn Gebote mit der Gegengeschichte, dem Tanz ums Goldene Kalb, und einige der Jesus-Wunder und -Heilungen. Und Schoof kann tatsächlich auf Neues aufmerksam machen.


Sie kommt zu der Einsicht, entscheidend sei nicht das kirchliche Dogma, zum Beispiel das der Jungfrauengeburt, das von der kirchlich-päpstlichen Leitung seit den altkirchlichen Glaubensbekenntnis vertreten wurde. Oder die Antwort auf die Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze denn Platz hätten. Dogmen sind vielgestaltige Gedankengebäude, die gläubige Erfahrungen theologisch zusammenfassen und auf den Punkt bringen. Das ist positiv und erhaltenswert. Sie können jedoch erstarren, wenn sie den Weg zu neuen Erfahrungen und Kontexten nicht mehr mitmachen können oder diese gar verbieten. Letztlich geht es um Erfahrungen mit der Erfahrung, in kritischer und weiterführender Absicht. Schoofs Botschaft, die sich aus untersuchten Bildern, Fresken, Skulpturen und Kultgegenständen verschiedener Jahrhunderte speist, ist diese sehr einfache: Liebe überwindet Gegensätze. Und zwar Gegensätze, die man für naturgegeben und unüberwindlich hielt: gut/böse, hell/dunkel, Mann/Frau, arm/reich, gebildet/ungebildet oder auch gesund/krank. Wirkliche, tiefempfundene Liebe, gerade auch die Liebe zwischen Gott und Mensch, hat die Fähigkeit, zu überwinden, zu heilen, Sinn zu stiften und die Welt als Ganzes sehen und positiv erleben zu können. Es tut sich so eine neue Wirklichkeit jenseits der sattsam bekannten Gegensätze auf. Das entspricht der Kühnheit wirklichen Glaubens und Lebens.


Renate Schoof beweist einen scharfen Blick für die Zwischenräume oder eine fast verschüttete Tiefendimension: so für die verbindende Symbolik der verschiedenen Engelsgestalten, für die oft rein vergeistigten Mariengeschichten, den spannungsvollen Jüngerkreis, die Kreuzessymbolik (Himmel und Erde) oder auch für die zumeist aus anderen Religionskreisen stammende Zahlenmystik und die Chakrenlehre. Schoof sieht beispielsweise in der Schlange der Sündenfallgeschichte weniger die große Verführerin oder Verwirrerin, sondern das dritte Auge, das um die großen göttlichen Kräfte weiß, die sie dem Menschen nicht vorenthalten will. Letztlich kann diese Erkenntnis den Tod aber nicht verhindern. Ob sie allerdings Ursache des Todes beziehungsweise der Sünde ist, das sei der Göttinger Autorin zufolge durchaus Interpretationssache.


Schoof interpretiert die Bibel symbolisch und tiefenpsychologisch – interreligiös, man könnte sagen im Stile eines feministischen Drewermann. Dies ist über weite Strecken erfrischend und erhellend. An einer Stelle geht sie dann noch weiter: »Eigentlich müssten Sozialismus und Glaube keine Widersprüche sein« (176). Und das hieße ja, dass Körper, Geist und Seele nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich als Einheit zu verorten und fordern sind – und zwar nicht nur im einfach sozialen, sondern letzten Endes sozialistischen Sinne. Schoof ist gerade hier durchaus Recht zu geben. Es ist ihre Leistung, aus den unterschiedlichen christlichen Bildern und Motiven eine symbolische und interreligiös unterfütterte Erweiterung kirchlich-biblischer Traditionen und Horizonte sichtbar werden zu lassen. Es gäbe aus theologischer oder philosophischer Sicht durchaus den ein oder anderen Strauß auszufechten, gerade aus der Sicht Martin Luthers oder Karl Barths. Warum sollen universale Grundwissenschaften aber nicht auch einmal etwas von den Humanwissenschaften lernen? Die sozialen Protestbewegungen seit 1968 haben auch dies zu ihrem Programm gemacht – an der Notwendigkeit, hier weiterzuarbeiten, hat sich kaum etwas geändert. Insofern ist es ein empfehlenswertes Buch mit auflodernden Leuchtfeuern sowohl für die kirchliche Verkündigung als auch für die persönliche Glaubenspraxis. Und das alles längst nicht nur zu Weihnachten!

Renate Schoof: »Geheimnisse des Christentums. Vom verborgenen Wissen alter Bilder«, Patmos Verlag, 216 Seiten, 19,99 €