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Hamburger Aktenvernichtung stößt auf Protest  (Jürgen Krause)

»Hamburg State Archives destroy Nazi files ...« – eine Twitter-Meldung vom Juli, zu der überregionale Medien auch zu Septemberbeginn noch schweigen. Zwar könnte man sagen, dass es nur um ein lokales Ereignis geht, doch Ähnliches könnte auch anderswo geschehen. Deshalb wäre dem Vorfall und seinen Implikationen als rechtzeitiger Denkanstoß größere Publizität zu wünschen. Was ist passiert?

 

Akten, die nach Ablauf festgelegter Aufbewahrungsfristen in Behörden nicht mehr benötigt werden, aber für die Nachwelt von Bedeutung sein könnten, werden in Archiven aufbewahrt. Dadurch sind sie Historikern, Journalistinnen und anderen Interessierten auch in späterer Zeit noch zugänglich. Weil aber Jahr für Jahr neue Dokumente hinzukommen und die Aufnahmekapazität von Archivräumen begrenzt ist, entscheiden Archivarinnen mit Hilfe verantwortlicher Mitarbeiter in bestimmten Abständen, welche alten Aktenbestände sie kassieren, das heißt: aussondern und vernichten, um Platz für Neuzugänge zu schaffen. Manchmal jedoch ist die Kassation alter Akten umstritten. Einen solchen Fall hat kürzlich der Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf auf Twitter publik gemacht.

 

»Das Staatsarchiv Hamburg vernichtet NS-Akten, die Historiker gerade erforschen«, berichtet Philipp Osten am 19. Juli in Englisch; der Aktenbestand 352-5 habe (unter anderem) Todesbescheinigungen von »Euthanasie«-Opfern und Hinweise auf Täter enthalten. Dass der Medizinhistoriker von der amtlichen Aktenzerstörung eher zufällig erfahren hat, wird aus seinem deutschsprachigen Tweet am nächsten Tag deutlich: »Mitarbeitern der Stolpersteininitiative Hamburg wurde nach Vorlage der Bestellscheine vorgestern [= 18.7.2018] mitgeteilt, der Bestand sei ›kassiert‹; Informationen der Todesbescheinigungen seien redundant. Diagn[osen] + Ärztenamen finden sich aber nur dort.« Etwas ausführlicher schildert und bewertet die Historikerin Sybille Baumbach den Sachverhalt am 30. Juli auf dem Blog »Archivalia«. Traditionelle überregionale Medien haben, soweit bekannt, weder im Juli noch im August über den Vorfall berichtet.

 

Zu den Vorhaltungen und einer kritischen Anfrage nahm das Staatsarchiv Ende Juli öffentlich Stellung. Unter dem Titel »Archivische Bewertung des Bestandes 352-5 Gesundheitsbehörde Todesbescheinigungen« gab die staatliche Einrichtung bekannt, sie habe im zweiten Quartal 2018 rund 45 laufende Meter Akten »bewerte[t] und nachkassier[t]« – mit anderen Worten: für nicht länger aufbewahrenswert befunden und endgültig vernichtet. Begründung dafür: Die Akten seien nicht mehr lückenlos vorhanden gewesen und hätten sich in einem schlechten Erhaltungszustand befunden. Außerdem seien deren Informationen »überwiegend auch in den Sterbebüchern der Standesämter und den zugehörigen Sammelakten« zu finden. Aber was konkret bedeutet »überwiegend« bei einer Gesamtzahl von »ca. 1.004.050 Einzelblätter[n] im Format ca. DINA6«? Schließlich handelte es sich um ärztliche Todesbescheinigungen aus der Kaiser- über die Weimarer und die Nazizeit bis in die ersten Jahre der Bundesrepublik, genauer: von 1876 bis 1953.

 

»Überwiegend« bedeutet, dass manche Angaben in den Sterbebüchern, auf die als Ersatzquelle verwiesen wird, zum Teil einfach fehlen. Etwa wenn dort vor 1920 kein Geburtsdatum steht – doch dieses, so versichert das Archiv, könne »über das eingetragene Alter errechnet werden«. (Das ganze Geburtsdatum?) Im Gegensatz zu den beseitigten Todesbescheinigungen enthalten die vorhandenen Sterbebücher im Übrigen laut Archivmitteilung weder Angaben zu Krankheit und Behandlungsdauer noch den Namen des den Tod feststellenden Arztes (der nur in manchen Fällen in anderen Unterlagen zu finden sei). Und wenn das Staatsarchiv äußert, »sofern eine ärztliche Bescheinigung darüber vorlag, wurde die Todesursache von Juli 1938 bis 1957 [von den Standesämtern] in den Sterbebüchern eingetragen«, bedeutet das doch im Umkehrschluss: Für die berüchtigte »Kampfzeit« der Nazis in der Weimarer Republik und für die konstituierenden Jahre des Nazireichs 1933 bis Mitte 1938 (oder auch für die Kaiserzeit) sind dort keine Todesursachen vermerkt, selbst wenn diese in den nun vernichteten Todesbescheinigungen verzeichnet waren.

 

Wie Historikerin Sybille Baumbach betont, wurden die fraglichen Akten »seit vielen Jahren für die wissenschaftliche Forschung genutzt und entsprechend als Quelle zitiert« – ob es nun um Genealogie, Epidemien wie die »Spanische Grippe« gegen Ende des Ersten Weltkriegs oder Naziopfer ging. Und nicht nur für Fachartikel und Bücher wurde der genannte Aktenbestand als Quelle herangezogen, sondern, wie oben ersichtlich, auch für das bekannte Projekt »Stolpersteine«, siehe zum Beispiel Quellenangaben unter dem Eintrag »Alice Baum« auf der Website stolpersteine-hamburg.de der Hamburger Landeszentrale für politische Bildung.

 

Diese Quellen sind nun verloren. Eine Quellenüberprüfung, wie bei wissenschaftlicher Forschung üblich, ist seit Juni 2018 nicht mehr möglich. Dabei hatten die Akten offenbar zu jenen Archivbeständen gehört, die geholfen haben, die Namen der von den Nazis ermordeten oder in den Tod getriebenen Hamburger/innen zu ermitteln – Baumbach verweist auf den vom Staatsarchiv (!) 1995 herausgegebenen Gedenkband »Hamburger jüdische Opfer des Nationalsozialismus«.

 

Das Staatsarchiv Hamburg hätte den fraglichen Bestand nicht komplett zu vernichten brauchen; es hatte freie Hand, wichtige Teile davon weiter aufzubewahren. Im Hinblick auf die Beweggründe meint ein externer »Archivalia«-Kommentator, es falle ihm angesichts der »aktuelle[n] gesellschaftspolitische[n] Entwicklung« schwer, an einen Zufall zu glauben, und er frage sich nach der »politische[n] Grundhaltung [der] Entscheider«. Weit wahrscheinlicher als die Richtung derartiger Mutmaßungen, wenn auch aufgrund der Auswirkungen traurig, ist: Die Verantwortlichen haben sich ihr Kassationsprojekt in der Vorbereitungsphase nicht detailliert genug überlegt.

 

Siehe https://www.hamburg.de/contentblob/11441562/0c94298433b7e6d18f86ae54c7ad2035/data/todesbescheinigungen.pdf sowie https://archivalia.hypotheses.org/75441 und https://twitter.com/Medgesch