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Titel1910

Schöne neue britische Big Society  (Johann-Günther König)

Die im Mai 2010 gebildete britische Regierung aus Konservativen und Liberaldemokraten verfolgt weitreichende Ziele. Regierungschef David Cameron hat sich fest vorgenommen, das »New Labour« abspenstig gewordene Königreich in eine »Big Society« zu verwandeln. Diesen »Plan von atemberaubender Reichweite« (Wall Street Journal), der das Land zu einem von staatlichen Leistungen und Diensten überwiegend unabhängigen Dorado des Kapitals machen soll, wollen wir genauer betrachten.

Das auf Finanzdienstleistungen fixierte Großbritannien wurde härter als andere Staaten von der jüngsten Kredit- und Weltwirtschaftskrise getroffen. Die Verschuldungsquote beträgt derzeit mehr als elf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (allerdings nicht mit Ländern wie Griechenland vergleichbar, weil die Staatsschulden deutlich längere Laufzeiten haben und die eigene Währung gezielte Auf- und Abwertungen ermöglicht). Die konservativ-liberale Koalition sieht sich durch das Haushaltsdefizit gezwungen, das britische Volk unter dem Schlagwort »Sparmaßnahmen« abzukassieren. Die devisenbringende Finanzindustrie hat schließlich schon genug unter ihren Fehlspekulationen gelitten …

Eine besonders die Arbeitslosen, Gering- und Normalverdiener treffende Mehrwertsteuererhöhung von 17,5 auf 20 Prozent gehört ebenso zu den »Sparmaßnahmen« wie Ausgabenkürzungen in den Ministerien um bis zu 40 Prozent, ein zweijähriger Lohnstopp für den öffentlichen Dienst bei gleichzeitigem Abbau von circa 80.000 Stellen und dergleichen mehr. Damit die lohn- und sozial-leistungsabhängige Bevölkerung das halbwegs akzeptiert, wurde nun zum einen die Einkommensteuer für Spitzenverdiener von 40 auf 50 Prozent angehoben, und Cameron verspricht eine »revolutionäre Machtverteilung von den Eliten hin zu den einfachen Menschen«. In der »Big Society«, wie er sie skizziert, ist nur mehr ein schlanker und vor allem billiger Staatsapparat nötig, weil die einfachen Menschen in ihren lokalen Gemeinschaften das Heft in die Hand nehmen und Eigenverantwortung übernehmen sollen.

In der heraufziehenden »großen Gesellschaft«, so verheißen der Premier und seine Regierungsmitglieder, werden die einfachen Menschen kurzerhand selbst Postämter, Bibliotheken, Museen und Schulen betreiben. Zu ihren Häusern, die sie zuvor auf eigene Kosten energiesparend modernisiert haben, werden sie eigenhändig schnelle Internetleitungen verlegen, und sie werden die Begrünung der Straßen wie auch das Recycling. Ehrenamtlich, versteht sich. Auf diese Weise läßt sich der Staat dann finanziell und organisatorisch entlasten, und eben deshalb soll es für manche Projekte sogar Anschubgelder aus der neuen Bank der »Big Society« geben, indem diese auf Guthaben zurückgreift, die von über 15 Jahren lang als verschollen geltenden Menschen hinterlassen wurden.

Abwarten und Tee trinken? Vielleicht sollten die Briten zunächst einmal viel mehr der industriell erzeugten »Great British Sandwiches« verspeisen. Das ursprüngliche Sandwich bestand aus einer Scheibe gepökeltem Rindfleisch zwischen zwei Scheiben Toastbrot und kam um 1760 zunächst als Imbiss für abendliche Männergesellschaften in Mode. Die heute als »Great British Sandwich« offerierten dreieckigen Toastbrotscheiben mit Tomate und Huhn, Thunfischsalat und anderen Belägen mehr wurden zuerst von der Ladenkette Marks&Spencer in transparenten Plastikschachteln vertrieben und sorgen seit genau 30 Jahren für einen Industriezweig, der inzwischen 300 000 Menschen beschäftigt und nach wie vor wächst.

Ob den überwiegend prekär beschäftigten Kräften der Sandwichbranche allerdings der Sinn nach unbezahlter Gemeinschaftsarbeit statt einem lohnaufbessernden Zweit- oder Drittjob steht, ist die Frage. Ein noch größeres Fragezeichen steht hinter der von der Regierung versprochenen Beschaffung von Millionen neuer Lohnarbeitsplätze für die unbeschäftigten Sozialhilfeempfänger. Da der Staat die herkömmlichen Stellen im öffentlichen Dienst gerade massenhaft abbaut und zugleich die ehrenamtlichen Tätigkeiten deutlich ausgeweitet sehen will, fällt es allerdings schwer zu glauben, daß der rationalisierungswütige private Sektor gleichsam aus dem Nichts eine neue Vollbeschäftigung herbeizaubert.

Von einem allgemeinen, bedingungslosen monatlichen Grundeinkommen in Höhe von 1000 Euro beziehungsweise 830 Pfund Sterling, wie es in Deutschland zum Beispiel der Unternehmer Götz Werner fordert, ist bei den Visionären der »Big Society« keine Rede. Womöglich läuft die versprochene »Machtverteilung von den Eliten hin zu den einfachen Menschen« darauf hinaus, daß erstere ihre hohen Positionen, Einkommen und Boni noch entspannter genießen können, weil letztere vor lauter Gestaltungsmacht in ihrer lokalen Gemeinschaft keine Zeit mehr finden, auch nur die Frage nach auskömmlichen Löhnen und angemessenen staatlichen Sozialleistungen, kurz: die klassische Machtfrage zu stellen. Aber gemach. Die »große Gesellschaft« ist zwar ausgerufen; inwieweit sie aber im Sinne ihrer Verkünder im Laufe der nächsten Zeit Form annimmt, muß die laufende teilnehmende Beobachtung erweisen, die wir hiermit auf- nehmen.