erstellt mit easyCMS
Titel1915

Einigkeit und Recht und Freiheit?  (Winfried Wolk)

Wenn jemand im Vorfeld des 40. Jahrestages der DDR 1989 gesagt hätte, dass es ein Jahr später einen einheitlichen deutschen Staat geben würde, hätte man ihn für verrückt erklärt. Die Zweistaatlichkeit schien fest betoniert – für ewig. Hatte doch der Staatsbesuch Erich Honeckers 1987 in Bonn signalisiert, dass auch die westlichen Politiker nun bereit waren, die Teilung Deutschlands hinzunehmen. Und Honeckers Satz, dass die Mauer in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen würde, machte deutlich, dass grundsätzliche Veränderungen nicht auf der Agenda standen. Der Kalte Krieg beherrschte trotz gelegentlicher diplomatischer Annäherungen das Denken und Handeln in Ost und West und trennte die beiden Weltsysteme unerbittlich. Erst der kontinuierlich wachsende Protest in der DDR gegen die politische Führung, die die inneren Probleme starrsinnig ignorierte, brachte unerwartete Bewegung in die Unbeweglichkeit des gesellschaftlichen Gefüges. Westliche Politiker rieben sich verwundert die Augen. Den östlichen allerdings signalisierten die Ereignisse zu deren Erschrecken die Begrenztheit ihrer Macht. Die letztendlich das ganze Land überziehenden Proteste, verbunden mit einer ständig anwachsenden Fluchtbewegung, erzwangen den Rücktritt der alten Führungsriege, die auf den Einsatz ihres Gewaltpotentials verzichtete und damit den Weg frei machte für gravierende politische Veränderungen. Die Öffnung des bislang abgeschotteten Landes brachte zwar das von der Mehrheit ersehnte Ende der Reiserestriktionen, aber ermöglichte gleichzeitig auch die uneingeschränkte Einflussnahme der westlichen Parteien auf die politische Entwicklung in der Noch-DDR. Der Weg zu einem einheitlichen deutschen Staat war damit vorgezeichnet, was in der Konsequenz zum Ende der östlichen Staatengemeinschaft und des über 40 Jahre den Weltfrieden bedrohenden Kalten Krieges führte. Ganz unvermutet war plötzlich die Vision einer friedlichen Welt in greifbarer Nähe.


Allerdings wurde der Prozess der deutschen Einheit von den westlichen Akteuren offensichtlich vor allem als ein relativ einfach zu lösendes logistisches Problem gesehen. Ein Volksentscheid, der diesen so bedeutenden gesellschaftlichen Prozess legitimiert hätte und deshalb aus meiner Sicht erforderlich gewesen wäre, fand nicht statt, obwohl doch die Demonstranten in Leipzig stellvertretend für die Mehrheit der DDR-Bürger mit dem stolzen Satz: »Wir sind das Volk« ihr politisches Mitspracherecht eingefordert hatten. Auch eine neue, gesamtdeutsche Verfassung, die nach Artikel 146 des Grundgesetzes vom deutschen Volk beschlossen werden sollte, wenn die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung vollendet worden ist, wurde nicht gemeinsam erarbeitet. Das Grundgesetz, das laut Präambel ausdrücklich als Übergangsregelung gedacht war, blieb weiter in Kraft. Der Satz Willy Brandts, dass nun zusammenwächst, was zusammengehört, war gut gemeint und klang gut, hätte aber erst Realität werden können, wenn dieses Zusammenwachsen von Maßnahmen begleitet worden wäre, die Verständnis für anderes gelebtes Leben schaffen. So blieb dieser komplizierte Prozess weitgehend dem Selbstlauf überlassen. Die Idee der »Joint-Ventures«, die die Hilfe westdeutscher Unternehmen für ostdeutsche bedeutete, um diese wettbewerbsfähig zu machen, wurde schnell wieder aufgegeben, weil eine kostengünstige Übernahme mit der Option, den potentiellen Konkurrenten letztendlich einfach ausschalten zu können, lukrativer war. Die deshalb rasant anwachsende Zahl der Arbeitslosen im Osten trübte zwar das schöne Bild der harmonischen Vereinigung, jedoch überdeckte anfänglich die euphorische Begeisterung der Mehrzahl der Ostdeutschen über die nun offenen Grenzen, die sich jetzt bietenden Möglichkeiten und die Freude an der westlichen Warenfülle diese nicht bedachten Folgen und die bald aufkommenden gravierenden Diskrepanzen, die die unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen und eine völlig andere Sozialisation mit sich gebracht hatten. Was wusste man denn in den ehemaligen beiden deutschen Teilstaaten wirklich vom Leben im anderen Teil?


Die Künste hätten einen wichtigen Beitrag für eine Verständigung leisten können, spiegeln sie doch in den besten Werken die Probleme und Realitäten gelebten Lebens wider. Allerdings ließ die Angst, dass der sozialistische Virus trotz des Scheiterns weiterhin wirksam sein und damit Einfluss auf Prozesse und Machtausübungen bekommen könnte, Toleranz nur in äußerst geringem Ausmaß zu. Die Delegitimierung östlicher Lebensweise wurde Programm, dem auch Kunst und Künstler aus der DDR unterworfen wurden und immer noch werden. Der berüchtigte Arschlochsatz von Georg Baselitz, mit dem er alle die Künstler bedachte, die ihr Wirken in der DDR verorteten, wurde nie ernsthaft zurückgewiesen. Somit reduzierte sich der Prozess der Einheit Deutschlands auf einen Beitritt der sich auflösenden DDR zum alten Bundesgebiet. Der Einigungsprozess gestaltete sich für viele Bürger des »Beitrittsgebietes« schwierig. Im Westen blieb alles beim Alten, nur im Osten änderte sich, bis auf den grünen Pfeil, alles. Nun meinen die Einen, sie wären die Sieger des Ost-West-Konfliktes, weil sie tüchtiger, besser, klüger gewesen wären und weisen den Anderen folgerichtig die Rolle des Versagers, des Dummen und Faulen zu. Schnell ist vergessen, dass die Bevölkerung der einstigen DDR mit ihrem mutigen Auftreten diese nicht für möglich gehaltene gesellschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt hat. Vergessen ist aber auch, dass der Wirtschaftsaufschwung im Westen eben nicht allein aufgrund der Tüchtigkeit der Bundesbürger zustande kam, sondern weil der westliche Teilstaat bald von Reparationszahlungen entbunden, weitgehend entschuldet und von den westlichen Siegermächten strategisch im Zuge des forcierten Kalten Krieges mit massiver Hilfe wirtschaftlich wieder leistungsfähig gemacht wurde, auch um als Schaufenster westlichen Wohlstandes seine Überlegenheit nach dem Osten auszustrahlen und damit zur Destabilisierung des Systems dort beizutragen. Die östliche Siegermacht Sowjetunion, auf deren Gebiet die deutschen Armeen vier Jahre gewütet, verbrannte Erde und unermessliche Zerstörungen hinterlassen hatten und die mit 27 Millionen Toten die Hauptlast dieses Krieges zu tragen gehabt hatte, konnte ihrem ostdeutschen Vasallenstaat keine solchen optimalen Aufbaubedingungen schaffen. Sie brauchte die Reparationsleistungen, die neben dem Fehlen wichtiger Rohstoffe und anderen ungünstigen Bedingungen ein schnelles wirtschaftliches Vorankommen in Ostdeutschland unmöglich machten. So waren das ungleiche Machtpotential und die jeweiligen strategischen Interessen der westlichen und der östlichen Siegermacht entscheidend für die völlig unterschiedliche Entwicklung der beiden deutschen Staaten. Die jeweiligen Besatzungsmächte und ihr globalstrategisches Programm prägten Habitus und Status des jeweiligen deutschen Teilstaates. Das einfach zu ignorieren bedeutet, Geschichte zu verfälschen. Zwar trennen heute keine Mauern aus Beton und keine Grenzen mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen mehr die Menschen in Deutschland, es sind jetzt die unsichtbaren, oft sehr tiefen, trennenden Gräben der Intoleranz, der Ignoranz und Arroganz, obwohl doch die klugen und weitsichtigen Worte von Hoffmann von Fallersleben in der einen Strophe, die nun unser aller Nationalhymne ist, eindeutig die richtige Richtung weisen. Nur wenn wir alle, brüderlich, mit Herz und Hand Einigkeit und Recht und Freiheit anstreben, so wünscht der Dichter, können wir in einem harmonischen Miteinander leben. Wenn uns das gelänge, wäre das ein wichtiges, positives Signal gegen den Hass in der Welt. Aber noch sind wir weit davon entfernt.