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Titel1920

Monatsrückblick: Wir werden gebraucht!  (Jane Zahn)

»Misses Peel, wir werden gebraucht!«, das war in den 1960er Jahren der Beginn einer aufregenden Sendung mit einer aufregend emanzipierten Frau. Diana Rigg, die Emma Peel verkörperte, ist im September gestorben – warum erfüllt das Fernsehen seine Pflicht nicht und bringt die Serie auf allen Kanälen? Damals waren »die Russen« noch so selbstverständlich die Bösen, das könnte doch wieder gut in den Kram passen.

 

Man kann ja durchaus der Annahme sein, dass der russische Präsident Menschen umbringen lässt. Wer sich mit nacktem Oberkörper auf Pferden fotografieren lässt, ist bekanntlich zu allem fähig! Aber dass Wladimir Putin dumm sei, das ist doch eine gewagte Behauptung. Und dumm müsste er sein, wenn er Alexej Nawalny hätte vergiften lassen, bevor er ihn nach Deutschland ausfliegen ließ – in das Land, mit dem er gewinnbringende langfristige Geschäfte machen will. Auch dass der russische Geheimdienst nicht dazulernt und immer das gleiche, offenbar nicht tödliche Gift verwendet – eher unwahrscheinlich. Beide Skripals und Nawalny erholten sich ja wieder von was auch immer. »Nowitschok« klingt so schön russisch, ist aber genau wie »Al Kaida« ein von westlichen Geheimdiensten erfundener Name. Aber es bleibt Glaubenssache, was passierte und wer verantwortlich ist. Denn eine Zusammenarbeit mit russischen Behörden, die zur Aufklärung nötig wäre, kommt nicht in Frage.

 

In »dubio pro reo« (im Zweifel für den Angeklagten) formulierten die Römer, heute verkaufen Nachrichten gern Vermutungen als Tatsachen. Man muss eine Behauptung nur oft genug wiederholen, damit sie als Tatsache gilt. Das haben die Römer auch schon gewusst: »Ceterum censeo Carthaginem esse delendam« (»Übrigens meine ich, dass Carthago zerstört werden muss«), das wiederholte der alte Cato so oft, bis der dritte Punische Krieg dafür sorgte, dass Carthago zerstört wurde. Und Rom unbestrittene Weltmacht. Ich glaube übrigens, dass das Internet zerstört werden muss – Misses Peel, wir werden gebraucht!

 

Bei Verbrechen anderer Regierungen ist die Bundesregierung nicht so empfindlich. Sie hat gerade mit dem »BigBrotherAward 2020« im Bereich Politik einen Schmähpreis für ihre Mitverantwortung für den völkerrechtswidrigen US-Drohnenkrieg, der von Ramstein in der Pfalz abgewickelt wird, erhalten (siehe in diesem Ossietzky-Heft Seite 669). »Letztlich haben wir es […] mit einem Mord-Programm zu tun«, führte Rolf Gössner in seiner »Laudatio« aus.

 

Einem der vielen Mord-Programme, die laufen: »Ich hätte ihn lieber ausgeschaltet«, sagte US-Präsident Trump auf Fox News am 15. September zu Plänen, den syrischen Präsidenten Assad umzubringen. »Ich hatte ihn schon so weit. Aber Mattis wollte es nicht tun.« (James N. Mattis war 2017/18 US-Verteidigungsminister, zitiert nach jW, 17.9.20)

 

Dafür hat die Bild-Zeitung ein neues Mord-Programm identifiziert: »Nord Stream ist Mord Stream!« posaunt Chefredakteur Reichelt am 9. September gegen die Pipeline, die Deutschland sicher mit Erdgas aus Russland versorgen soll.

 

Flüssiggas-Terminals für das US-Fracking-Gas sind die Antwort – mit denen könnte aber auch russisches Flüssiggas aus der Arktis in den deutschen Markt strömen. Und es wäre erheblich billiger als US-Gas. Was nun, Mr. Trump?

 

Die EU vor Flüchtlingen retten, das war die Aufgabe der Kommission unter Ursula von der Leyen. Und gleichzeitig vor dem inneren Zerfall in Länder, die keine aufnehmen, und Länder, die aufnehmen müssen, weil sie an der EU-Außengrenze liegen. Das hatte das Abkommen von Dublin 1990 verfügt. Praktisch für alle Binnenstaaten, die weit weg von den Brennpunkten liegen. Bis zu ihnen dringen Flüchtlinge kaum vor. Das soll auch so bleiben. Dublin gilt nach wie vor. Nur eine »verpflichtende Solidarität« soll eingebaut werden, von den nicht direkt betroffenen Ländern. Na prima. Ungarn und Polen sind ab jetzt verpflichtet zur Solidarität – im Abschieben. Denn diese Solidarität verpflichtet nicht etwa zur Aufnahme von Flüchtlingen, sondern zur Hilfe bei der »Rückführung«. Die Asylsuchenden sollen gleich bei Grenzübertritt auf ihre Asyltauglichkeit untersucht werden, und wer nicht darunterfällt, der wird schnell abgeschoben. Ein Traum von Horst Seehofer wird wahr – daher lobt er den Entwurf der Kommission. »Das ist ein teuflischer Pakt der Entrechtung«, meint dagegen der Geschäftsführer von Pro-Asyl, Günter Burkhardt (maz, 24.9.20).

 

Und was ist die bestehende Lage? Das Lager Moria brennt ab, und die Bundesregierung ringt sich durch, 1535 bereits anerkannte Asylsuchende aus Griechenland aufzunehmen. Nicht die in Lesbos oder auf anderen griechischen Inseln in Lagern dahinvegetierenden Flüchtlinge! Denn die will die griechische Regierung nicht ziehen lassen. Sie fürchtet, dass dann noch mehr Flüchtlinge aus der Türkei nach Griechenland kommen. Ich fürchte, ein Aufstand der Anständigen wird gebraucht.

 

Nicht gebraucht wird zurzeit Herr Merz.

 

»Wir müssen ein bisschen aufpassen, dass wir uns nicht alle daran gewöhnen, dass wir ohne Arbeit leben können«, schwadronierte Friedrich Merz über Kurzarbeit in Bild-Live am 21. September.

 

Merke: Deine Vorstellungen von der Realität anderer sind immer wieder neu zu justieren, wenn du Kanzlerkandidat bleiben willst.

 

Dringend gebraucht hingegen wird ein funktionierendes Warnsystem. Denn vorher kann der Krieg nicht begonnen werden. Der bundesdeutsche Warntag zeigte, dass es mit den Warnsystemen noch nicht so richtig klappt. Viele Sirenen blieben still, die Warn-Apps waren überlastet und funktionierten nicht. Der innenpolitische Sprecher der Linken im Bundestag, Andreas Büttner, ist nicht zufrieden: »Das ist nicht der Anspruch, den wir haben.« (maz,11.9.20)

 

Wird die Linke gebraucht, um die Sirenenklänge zu verbessern, damit der Anspruch gehalten werden kann, jederzeit einen Krieg zu beginnen?