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Titel022014

Straßenverkäufer  (Manfred Wekwerth)

Man kennt sie eigentlich gut: den Mann, der auf der Straße bunte Luftballons oder Currywurst verkauft, Straßenmusiker, das Mädchen, das Sex verkauft, den Scherenschleifer und so weiter.

Jetzt ist ein ganz neuer Typ hinzugekommen: Er verkauft Straßen.

Man findet ihn überall dort, wo nichts anderes mehr zu verkaufen ist, da Häuser und Grundstücke schon verkauft sind. Und tatsächlich nur die Straße übrigbleibt.

Dieser Straßenverkäufer erinnert mich an Volker Brauns Stück »Was wollt ihr denn«. Das ist die Geschichte einer Stadt, wo auch schon alles verkauft ist, was es zu verkaufen gibt. Und da hat man den genialen Einfall: Man verkauft einfach das Nichts.

Ähnliches in Berlin-Grünau. Dort gibt es eine Siedlung, die einstmals für zurückkehrende Emigranten erbaut wurde – eine Siedlung mit kleinen Grundstücken und Einfamilienhäusern an der Waldgrenze, durchzogen von schmalen Wegen. Unter den Wegen liegen Abwasserrohre und Versorgungskabel (im Grundbuch »Wirtschaftswege« genannt). Außerdem erreicht man über diese Wege die Haupteingänge der Häuser, die nach hinten hinaus liegen, auch die Garageneingänge. Inmitten dieser Grundstücke befindet sich eine bisher nicht bebaute Fläche, die als Kinderspielplatz gedacht war und inzwischen zum »Wildwuchs« wurde, benutzt von Hunden, Vögeln und Katzen.

Plötzlich überraschte die Anwohner eine Anzeige im Internet, in der ein lohnendes Waldgrundstück zu einem günstigen Preis angeboten wurde. Eine Nachfrage ergab, daß es sich dabei um eben diesen »Wildwuchs« in der Grünauer Siedlung handelte. Als Bauland gesehen, ist das Areal, das inmitten anderer Häuser liegt, äußerst ungeeignet. Ein »Nichts« sozusagen. Und dieses Nichts, zu dem ein schmaler Weg führt, der Wirtschaftsweg, wurde jetzt, nach 61 Jahren, an den Meistbietenden verkauft, indem man einfach den Weg zu einem Grundstück erklärte und mitverkaufte. Um es so zum Bauland zu machen. Der Weg selbst wurde jetzt schon mit zwei Pfählen versehen, auf denen kurz und knapp »Privatweg« steht.

Damit ist den Anwohnern der Zugang zu ihren Haupteingängen in ihre Häuser versperrt – und auch Zufahrt und Zugang zu ihren Garagen.

Die Betroffenen erfuhren es, als alles bereits unter Dach und Fach war und die neue Besitzerin von Haus zu Haus ging – in der einen Hand einen Blumenstrauß, in der anderen Skript und Kugelschreiber. Nach Empfang des Blumenstraußes sollte man sich mit der entstandenen Situation einverstanden erklären, auch damit, daß der Privatweg, einst ein Wirtschaftsweg, für alle anderen Anwohner gesperrt wird.

Der Straßenverkäufer – mit offiziellem Namen »Liegenschaftsamt« – wies alle Einsprüche der Anwohner ab, verwies auf das entstandene Privateigentum und erklärte den Fall für erledigt. Alles weitere kann nur mit dem neuen Eigentümer verhandelt werden.

Ich schlage dem neuen Eigentümer vor, dem Privatweg den Namen »Stefan-Heym-Weg« zu geben, denn der große Schriftsteller wohnte bis zu seinem Tode in dieser Grünauer Siedlung. Lebte er noch, so würde ihm die Ausfahrt aus seiner Garage verwehrt, denn sie führt direkt auf den Privatweg.

Eine kleine Episode zum Schluß: Eine Anwohnerin protestierte bei den neuen Besitzern, daß sie nicht mehr in ihre Garage komme, die sie seit 45 Jahren benutzt. Antwort des Besitzers: »Dann sind sie 45 Jahre auf ›fremdem‹ Privateigentum gefahren.« Darauf die Anwohnerin: »Bei uns gab es gar kein Eigentum an öffentlichem Grund und Boden.« Antwort: »Eben.«