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Titel220

Sechzehn außergewöhnliche Berliner Porträts  (Manfred Orlick)

Für den Berliner Journalisten Bernd Oertwig »wachsen aus den Steinen der Stadt Geschichten«. Sie erzählen von menschlichen Schicksalen. Wenn Oertwig die Neugierde durch die Stadt treibt, stolpert er bei seinen Spaziergängen geradezu über Gedenk- oder Grabsteine, die ihm eine Geschichte erzählen. Oft gehen diese Geschichten dann lange mit ihm spazieren, bis ihre Zeit gekommen ist, sie niederzuschreiben.

 

In seinem Buch »Berühmte Tote leben ewig« porträtiert Oertwig sechzehn Frauen und Männer, die in Berlin lebten und auf nicht ganz gewöhnliche Weise starben. Den Auftakt macht Anita Berger, die wohl »wildeste Frau der Weimarer Republik«. Die Tänzerin, die in Bars und Nachtlokalen auftritt, ist Sinnbild des weiblichen Bohemiens der 1920er Jahre. Mitunter springt sie wütend ins Publikum, das nur auf ihre Nacktheit glotzt, während sie mit ihrem Tanz ernste Themen ansprechen will. 1927 unternimmt sie mit ihrem Ehemann eine Tournee durch den Nahen Osten, die sie nach einem Jahr abbrechen muss. Vier schlimme Monate quält sich Anita zurück und stirbt am 10. November 1928 in Berlin.

 

Die zweite Geschichte, »Liebe über den Tod hinaus«, erzählt von einer außergewöhnlichen Verbundenheit. Als der Kunsthändler Gaspare Weiß 1805 seine heißgeliebte Frau Antoinette nach sechs Ehejahren verliert, kauft er ihre Grabstelle auf dem kleinen katholischen Friedhof an der Chausseestraße für hundert Jahre. Eine kleine Ewigkeit. Doch Berlin wächst im 19. Jahrhundert unaufhörlich, Bauland ist gefragt. Auf dem Friedhofsgelände siedelt sich unter anderem ein Droschkenunternehmen an. Doch Vertrag ist Vertrag. So entsteht buchstäblich um das Grab herum eine Musikalienhandlung, mitten in der Lesehalle der Grabstein, der täglich von einer greisen Enkelin aufgesucht wird. Nach der Liegefrist wird der Grabstein nach Reinickendorf umgesetzt, doch seit September 2007 steht er fast wieder dort, wo er früher stand.

 

August 1889: Berlin erwartet »allerhöchsten Besuch«. Kaiser Wilhelm II. hat den österreichischen Kaiser Franz Joseph I. für vier Tage eingeladen. Als die beiden Monarchen eine Truppenübung besuchen, zieht ein Gewitter auf, und der 20-jährige Gefreite Fritz Will wird vom Blitz erschlagen. Ob die kaiserlichen Hoheiten von dem Unglück Notiz genommen haben, ist nicht überliefert. Noch heute erinnert ein Gedenkstein in der John-Foster-Dulles-Allee im Berliner Tiergarten an den jungen Soldaten. Dagegen berichtet ein Kreuz direkt neben einer Berliner Autobahn (früher Kurt-Schumacher-Damm) von dem ehemaligen Generalpolizeidirektor Karl Ludwig von Hinckeldey (1805-1856). Friedrich Wilhelm IV. vertraut dem ehrgeizigen und rücksichtslosen Hinckeldey; doch als dieser seinen König dringend braucht, hat der Regent taube Ohren. Nach einer Razzia in einer der edelsten Berliner Spielhallen wird Hinckeldey von dem Club-Besitzer Hans von Rochow als Lügner beschimpft – es kommt zum Duell. Ein Wort des Königs hätte genügt, den gesetzwidrigen Zweikampf zu verbieten. Aber Ihre Majestät schweigt. Am 10. März 1856 wird Hinckeldey, der »uff zwölf Schritte keen Scheunentor« treffen kann, tödlich getroffen. Daraufhin macht in Berlin das Gerücht vom politischen Mord die Runde.

 

Neben diesen eher unbekannten Berlinern ist Oertwig auch auf den Spuren von Berlinern, deren Name noch heute in aller Munde ist. Wie Bubi Scholz, der in den 1950er und 1960er Jahren unbestritten die Nummer eins im deutschen Box-Geschäft ist. Nach einer Tuberkuloseerkrankung scheint seine Karriere beendet zu sein, aber nach zwei Jahren steht er wieder im Ring. Doch Alkohol und die Droge Popularität hinterlassen ihre Spuren. Alkohol ist auch im Spiel, als er im Juli 1984 seine Frau Helga erschießt. Wegen fahrlässiger Tötung wird er zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Obwohl er 1993 noch einmal heiratet, er ist ein geschlagener Mann. Mehrere Schlaganfälle, Altersdemenz – Bubi Scholz stirbt am 21. August 2000.

 

Der weltberühmte Fotograf Helmut Newton ein Berliner? Natürlich: als Helmut Neustädter 1920 in Berlin geboren. Eine Gedenktafel am Geburtshaus in Berlin-Schöneberg erinnert daran. Ende 1938 flüchtet er vor den Nazis nach Singapur, später nach Australien. In den 1970er Jahren wird Newton einer der begehrtesten und höchstdotierten Mode-, Werbe-, Porträt- und Aktfotografen der Welt. Er stirbt 2004 bei einem Autounfall in Los Angeles, doch beigesetzt wird er in seiner Geburtsstadt auf dem Friedhof Stubenrauchstraße.

 

Dann wird es mit Melli Beese und Renate Müller noch einmal weiblich. Eigentlich will Amelie Hedwig Beese Bildhauerin werden, bis sie der Traum vom Fliegen packt. Wenig später wird sie als erste Frau in Deutschland den Privatpilotenschein erwerben. In den folgenden Jahren stellt sie einige Frauenflugrekorde auf und gründet die Flugschule Melli Beese GmbH. Nach dem Kriegsende der schwierige Neuanfang, und der Lorbeer ist verblasst. Als sie ihre Fluglizenz erneuern muss, endet das mit einer Bruchlandung. Am 21. Dezember 1925 erschießt sich Melli Beese in ihrer Wohnung. Neben ihr findet man einen Zettel: »Fliegen ist notwendig. Leben nicht.«

 

An einem Septembertag im Jahr 1937 wird eine Frau bewusstlos auf ihrer Gartenterrasse gefunden. Es ist Renate Müller, der Star des deutschen Films in den 1930er Jahren. Sie stirbt zwei Wochen später an ihren schweren Verletzungen. Unfall oder Selbstmord? Was folgt, sind Mutmaßungen. Wurde sie von der Gestapo verfolgt, schließlich hatte sie eine Beziehung zu einem jüdischen Bankierssohn. Alle geplanten Filme werden mit anderen Schauspielern besetzt. Blieb ihr nur der eine Ausweg?

 

Über den sechzehn unterhaltsamen Porträts schwebt das Motto: Ein aufsehenerregender Tod oder skurrile Vorfälle mit den sterblichen Überresten oder dem Grabstein sind die halbe Miete für die Ewigkeit.

 

Bernd Oertwig: »Berühmte Tote leben ewig – Berliner Schicksale«, Verlag für Berlin-Brandenburg, 304 Seiten, 19,90 €