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Titel220

Schauend und denkend betrachten  (Klaus Hammer)

Dem Berliner Zeichner, Maler und Grafiker Dieter Goltzsche, der gerade seinen 85. Geburtstag begangen hat, wurde seine Umwelt zum Fokus, zur Welt im kleinen Maßstab. Sie lieferte ihm Anlass und Hintergrund, um heutige (Großstadt-)Erfahrung in der ganzen Spanne zwischen Unrast und Einsamkeit, zwischen visionärem Träumen und banaler Alltäglichkeit tagebuchartig einzufangen. Seine Formwelt entfaltet sich aus den ausbalancierten Bezügen farbiger, aber auch monochromer Texturen, aus dem Wechselspiel von Anpassung und Kontrast, aus assoziativen Zuordnungen. Der Improvisation folgt eine zunehmende Begrenzung durch Definition, durch Form- und Farbentscheidung. Das Flüssige gerinnt zum Festen, das Diffuse zum Geformten, und dieses wiederum tendiert zur Auflösung. Der Künstler greift ein, in spielerischer Freiheit, in der Lust am poetischen Fabulieren, damit die Bildsituation, die immer auch die seine ist, offen wird, offen bleibt. Das Fragmentarische, das non finito ist seinen Arbeiten eigen. Mit dem sichtbar leicht, nie massiv materiell oder auffallend ekstatisch gesetzten Pinselstrich bricht er die Farbflächen auf und nimmt ihnen alles Dekorative. Neben einem kontrastfördernden Schwarz springt die »warme« Farbe Rot den Betrachter förmlich an, während die »kalte« Farbe Blau vor ihm zurückweicht. Die suggestive Wirkung von gegeneinander gesetzten Primärfarben erprobt Goltzsche in ganzen Blättern, wobei er sich auf unterschiedliche Motive konzentriert. Der Vielansichtigkeit der Welt, die das jeweils eine, stets unvollkommene oder falsche Weltbild abgelöst hat, entspricht im Künstlerischen die Vielfalt des offenen Experiments.

 

Sein Bildband »Schwarz«, den er jetzt vorlegt, umfasst – in vor allem ganzformativen Abbildungen – Arbeiten auf Papier von 1953 bis 2019. Mit Feder, Pinsel, Tusche, Ölkreide, mit Blei-, Farb- und auch Goldstift bannt er die gegenständliche Welt in Chiffren und Hinweisen, die den deutungswilligen Betrachter in wahre Labyrinthe führen. Die Betonung liegt ebenso sehr auf der Beschreibung des problematischen Ich als auch auf einer Hommage an die Weite, die geistige Transparenz wie Konzentration der uns umgebenden Welt. Es lassen sich ortlose Szenerien, Landschaften, traumbildhafte Welten, fragmentierte Erinnerungen, Figuren, Köpfe, Gesichte und andere zeichenhafte Elemente in entzifferbaren, manchmal im Bildtitel aufgelösten Konstellationen ausmachen. Einen »Text«, eine »Erzählung« gibt es allerdings nicht. Immer bleiben Bildreste, instabile, schwebende Strukturen, Linien, die sich umschlingen und sich dann im Ungewissen verlieren. Das semantische Feld von Warnzeichen wird zunehmend durch zurückgebliebene Spuren menschlicher Präsenz ersetzt. Sind dies Reste von Eigensinn, Zeugen emotionalen Protestes, Hoffnungspartikel oder Motivfragmente einer verklingenden Menschlichkeit?

 

»Ins Offene, ein Lichtverhalten«, sieht Gunnar Decker in seinem einführenden Beitrag Goltzsche »zwischen Schwarz und Weiß«: »Das Weiß kämpft sich durch das Schwarz wie das Licht durch das Dunkel. Das Schwarz scheint übermächtig ebenso wie das Dunkel. Aber irgendwo ist immer ein rettender Spalt, da drängt sich ein Funke Licht durch, ein weißer Fleck entsteht – und behauptet damit eine andere Dimension. Eine Art Fluchtvision, ein Bruch mit der Zeit. Abbruch also, eine Leere, die nicht definierbar scheint.«

 

Kandinsky sprach von Vibrationen, in denen ein Seelenzustand fassbar und darstellbar wird, und dieses Vibrieren der Formen oder sich verändernder Abläufe ist auch bei Goltzsche erkennbar. Die perspektivische Raumillusion wird abgelöst, der Raum baut sich aus Ebenen auf, die sich überschneiden und durchdringen, eigene Raumschichten bilden, die nicht mehr im Widerspruch zur Fläche des Bildes stehen, sondern sich in ihr auflösen.

 

Er könne mit Schwarz das Weiß verschieden weit öffnen, aber auch schließen, schreibt Goltzsche. Zuerst sei es »die Linie, meist als Kontur, aber auch als Geflecht in Grafit oder als Tuschfeder« gewesen. Mit der Temperamalerei »ging es darum, die Flächen aneinanderstoßen zu lassen gegen die Kontur-Malerei«. »Aber der breite Pinsel ermöglichte neben der Flächenmalerei auch die verbreiterte Kontur und wurde allmählich zum Selbstausdruck.«

 

Den gesamten Spannungsumfang von der materiellen bis zur psychischen Wirksamkeit ordnet Goltzsche einem Vorstellungsbild ein, das ein menschliches Spannungsfeld assoziiert: Streuungen und Ballungen, Konzentrationen, Abdrängungen, Tangenten, Strahlungen, Erhellungen und Verfinsterungen, archetypische Formeln bestimmen das Sein. Die Turbulenz der kleinen Welten ist ein Bewegungserlebnis. Durch das Gefälle der Farbtemperatur, den Schwarz-Weiß-Kontrast wird im Auge der Reiz ausgelöst, Bewegung zu konstatieren, obwohl in Wirklichkeit alles unbeweglich an seinem Platz verharrt. So experimentiert man weiter mit einer auch vom Kintopp her erprobten Erfahrung, dass mehrere mit Unterbrechungen dargebotene Bewegungsphasen vom Auge zum tatsächlichen Ablauf ergänzt werden.

 

Geometrische Zeichenkombinationen, Kreise, Quadrate, Dreiecke, Kurven, Gegenkurven, Schleifen, Balken, Rechtecke, Winkelformen und so weiter sind bei Goltzsche zu ablesbaren Zeichen gefügt, deren Sinn im Betrachter entstehen muss, durch ein Befragen und Vergleichen dieser Zeichen und ihrer Konfrontierung mit der eigenen Erfahrung. Das Verstehen der Zeichen ergibt sich eigentümlich rasch, da ihr Ansatzpunkt im funktionalistischen Bereich liegt, von Gleichgewicht, Balance, Takt, Echo, Tragen, Lasten, Rollen oder Schweben handelt, deren mechanistischer Nachvollzug in der Meditation unvermittelt in den metaphysischen Bereich führt.

 

Formen assoziieren sich in Goltzsches Arbeiten zu traumhaften Symbolen, die beim Betrachter den Wunsch auslösen, in nicht zu enträtselnde Geheimnisse einzudringen. Die Komplexität der Betrachtung besteht eben darin, dass sie zugleich schauend und denkend sich vollziehen muss.

 

Sigrid Walther (Hg.): »Dieter Goltzsche – Schwarz. Arbeiten auf Papier«, mit einem Beitrag von Gunnar Decker, Sandstein Verlag, 160 Seiten, 34 €