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Titel2009

Der asymmetrische Amoklauf  (Gerhard Zwerenz)

Heute zählen die Amokläufe an Schulen wie die militärischen Ereignisse am Hindukusch zu den Brennpunkten medialer Aufmerksamkeit. Die Ursachen und Anlässe sind stets individuell. Es geht um den Tod. Daß der Mensch sterblich ist, darüber herrscht in weiten Kreisen Betroffenheit, jedenfalls vorübergehend. Zwischen den Amokläufen wie in den kurzen Pausen zwischen Kriegen und »militärischen Missionen« läßt die Aufmerksamkeit nach, und selbst in den unermüdlichen Talkshows findet man wichtigere Themen als Amoklauf, Attentat, Selbstmord(-Attentat), Terrorismus, Kampfeinsatz, Kriegseinsatz, Freiheitsverteidigung. Bevor der Amoklauf als Ego-Befreiung, sozusagen als spezielle Ich-AG, in die Schulen gelangte, hatte er kollektive vaterländische Dimensionen, was die Suizid-Forschung berücksichtigen sollte.

Die Geschichte deutscher Amokläufe in Form von Selbstmordanschlägen beginnt im deutsch-dänischen Krieg von 1864, als sich ein Soldat mit dem beziehungsvollen Namen Klinke bei der Erstürmung der Düppeler Schanzen selbst in die Luft sprengte, um seinen Kameraden den Weg ins Innere der dänischen Befestigungsanlage zu öffnen. Ob der 1. Weltkrieg infolge Teilhabe der Sozialdemokratie schon als kollektiver Selbstmordversuch zu bewerten ist, muß als unsicher gelten, weil die Historiker mit ihren Erkenntnissen noch nicht so weit gelangt sind. Anders bei Weltkrieg 2, der bekanntlich ganz ohne Begeisterung des Volkes begann, was nach den Blitzsiegen über Polen und Frankreich korrigiert werden konnte, weshalb erst die Jahre von 1941 bis 1945 als gelungene Uraufführung des völkisch-nationalen Suizids auf Befehl gelten können, zumal den deutschen Selbstmordversuch allerlei erhebliche Kollateralmassaker begleiteten.

Natürlich sind wir als Deutsche maßlos empört über die Sowjets, die 1940 in Katyn und anschließenden Gebieten 25.700 gefangene polnische Offiziere und Beamte liquidieren ließen, eine Zahl, die wir im von uns besiegten und besetzten Polen nur mit Mühe und gegen einige Widerstände erreichten. Allerdings übertrafen wir die Sowjetunion schon im Jahr darauf, als wir in der Schlucht von Babi Jar bei Kiew 33.771 Juden erschießen ließen, welche Zahl erst den Anfang machte, denn: »Babi Jar diente danach auch als Richtstätte für Nichtjuden wie Zigeuner und sowjetische Kriegsgefangene. Nach Schätzungen der sowjetischen Staatskommission … wurden in Babi Jar 100.000 Menschen ermordet.« (»Enzyklopädie des Holocaust«, Band 1 A-G)

Wir müssen einräumen, diese Zahl konnte erst 1945 mit dem Abwurf amerikanischer Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki übertroffen werden, was für die USA einen moralischen Selbstmord bedeutet wie der 2. Weltkrieg für Deutschland – zumindest vorübergehend, bis neue Massaker die Vergangenheit teils verklären, teils vergessen lassen. Denn jede neue Geschichtsepoche fängt erst einmal klein und provinziell an. Das ist auch heute so. Womit wir wieder bei den Amokläufen in Schulen, Kaufhäusern, Universitäten, Militärakademien und angeschlossenen Denkfabriken sind. Der bisher vorletzte Schul-Amok verzeichnete 16 Tote per Schußwaffengebrauch, der letzte brachte es mit Hilfe von fünf Messern, drei Molotow-Cocktails sowie einer Axt auf sieben Leichtverletzte, zwei Schwerverletzte und den von drei bis fünf Polizeikugeln getroffenen Täter.

Hier rührt sich das mobile Gewissen der Nation. In den Talkshows kreisen die zuständigen Pädagogen, Sozialpsychologen, Kriminologen um sich selbst. Die Logik des Vergleichs ergibt: Eigensüchtige Amokläufer sind kontraproduktive Einzelpersonen. Der richtige Kampf bedarf der Legitimierung durch Staat, Partei, Militär, Religion. Er heißt deshalb Kampf- oder Kriegseinsatz. In der Sprache von Militär und Kirche beziehungsweise Militärkirche nennt man das »Mission«. Jedenfalls bei den Christen. Die Islamisten bezeichnen es als Dschihad. Wobei die ordentliche, klassische Kriegsmission unserer westlichen Wertegemeinschaft gegen die Partisanentaktik terroristischer Selbstmordattentäter steht. Dieser beachtliche Unterschied sollte im Schulunterricht berücksichtigt werden. Das Ziel ist immer der von den oberen Institutionen zur Liquidation freigegebene Totalfeind, wie es Professor Herfried Münkler in Berlin lehrt, der Clausewitz modernisierte, indem er den asymmetrischen Krieg entdeckte. Schon Wehrmacht und Waffen-SS, die sich als europäische Befreiungsarmee verstanden, verloren ihren Krieg, weil die alliierten Feinde sich asymmetrisch in militärische Einheiten und lockere Partisanentrupps aufteilten. Im 21. Jahrhundert aber stehen die Armeen der westlichen Wertegemeinschaft nur noch Partisanen und Terroristen gegenüber. War der Dreißigjährige Krieg von 1618–1648 ein innereuropäischer Waffengang zwischen Katholiken und Protestanten, ist der postmoderne Krieg von heute ein außereuropäischer Religionskrieg zwischen den in der NATO verbündeten Protestanten und Katholiken einerseits und den Islamisten andererseits. Asiatische Feinde, die keine Armeen mit Panzern, Flugzeugen, Raketen, Drohnen besitzen, verlegen sich asymmetrisch auf Überfälle, Minenfallen, Entführungen und Selbstmordattentate, was sie in die Nähe zur Mode-Erscheinung unserer Amokläufer in Schulen und auf Verkehrswegen bringt.

Fragt sich, wie wir uns in dieser komplizierten Weltlage verhalten. Die Bundestagswahlen vom 27. September 2009 erbrachten darauf eine Antwort. Von fünf Parteien sprachen sich vier für den Krieg am Hindukusch aus und eine dagegen. In Prozentzahlen sind das etwa 82 Prozent der Wähler für den Krieg und 12 Prozent gegen den Krieg. Womit die Wahl auch Klärung im linken Spektrum erbrachte. Der Ostlinken lange unterdrückte heimliche Liebe zur SPD fand in Lafontaine den namhaften Ausdruck einer Resozialdemokratisierung plus Gysi-Verträglichkeit. Beide Politiker weisen ein Ziel ohne Selbstverrat.

In der Alt-SPD dagegen versucht die bisherige Führungsspitze ihre Genossen Lemminge auf Kurs in den Abgrund zu halten. Zwar herrscht Panik im Panoptikum, doch die Kriegsziele sollen wie schon 1914 weiter gelten. Was damals Burgfrieden hieß, heißt heute Tod in Afghanistan. Zwar könnten Brandenburg, Saarland, Thüringen korrektive Modelle politischer Vernunft bieten, doch die schlappen Nachfolger im Berliner Willy-Brandt-Haus wählen in ihrem karrieregeilen Fanatismus den asymmetrischen Amoklauf der Verlierer.

Die Wahl brachte Klärung im deutschen Parteienspektrum. Das Heer der Arbeitslosen erhält Zulauf. Die Bundeswehr bekommt am Hindukusch mehr Arbeit, als ihr lieb sein kann.