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Titel2012

Ein deutscher Revolutionär  (Wolfgang Beutin)

Georg Kerner wurde 1770 in Ludwigsburg geboren und starb als Armenarzt infolge einer Infektion bei der Seuchenbekämpfung 1812 in Hamburg. Er war ein Bruder des Dichters Justinus Kerner (1786–1862), schloß sich früh den französischen Revolutionären an und arbeitete zehn Jahre lang, von 1791 bis 1801, als Publizist sowie als Agent und Diplomat im Dienste der französischen Republik. Er verstand sich selber als Republikaner. Republik hieß für ihn: Rechtsstaat.

Von der Revolution und den Revolutionären erwartete er das Voranschreiten »auf der geraden Linie von Recht und Gerechtigkeit«. In seiner Perspektive wäre dies mit dem revolutionären Prozeß identisch gewesen, identisch auch mit der Ausrichtung der republikanischen Politik am »gemeinen Nutzen«. Defizite des revolutionären Prozesses las er an der Verkennung des gemeinen Nutzens und an der Dominanz des Eigennutzes ab, und er sah, wie das französische Bürgertum damit das Wichtigste verfehlte: »Jetzo, wo ihr Wille fesselfrei ist, jetzo entsagen sie seinem Gebrauch, weil dieser Gebrauch Aufopferung erfordert – jetzo zeigt sich ihre häßliche Krankheit – Eigennutz genannt – stärker als jemals. – Sie waren ehemals Sklaven und sind es noch selbst dann, wenn sie frei sein sollten. Die Unwissenheit der einen, der Eigennutz der andern, der Egoism[us] der meisten waren die Stütze der alten Tyrannei und wurden die Stützen der neuern.«

Über »Egoisten« berichtete er auch aus Holland, vor allem über »Kaufleute und Banquiers«: »Diese Klasse von Menschen, denen jedes erhabene Gefühl fremde ist, diese Menschen, die sich nur deswegen über andere erhaben fühlen, weil sie auf einer Geldkiste stehen, diese bejammernswürdigen Leute, die kein Vaterland und keine Seele, sondern bloß Metall haben …« Vor mehr als zwei Jahrhunderten schon erkannte er die Tatsache »der engen Verwandtschaft der politischen Erscheinungen mit den Kommerzangelegenheiten«.

Auch unter ästhetischen und intellektuellen Aspekten verurteilte er den emporstrebenden Kapitalismus: »Für gewöhnlich gar ist das Streben nach Gewinst das Los beschränkter Seelen und oft sehr törichter Menschen.« Er empörte sich über das überseeische Ausgreifen der Europäer, brandmarkte den Kolonialismus und appellierte an die Geister der »Indier« (der amerikanischen Ureinwohner): »Erwacht, Geister der erschlagenen Indier, und von der Höhe eurer besseren Wohnungen blickt auf die Nachkommen eurer Mörder und die Mörder eurer Nachkommen; blickt diese stolzen Weisen. wie sie unter der Goldlast keuchen, die sie aus den Eingeweiden eures Vaterlandes gerissen und um derentwillen sie euch scharenweise dahingewürgt haben …« Als Antikolonialist erwies er sich auch, als er in seiner Zeitschrift Nordstern 1802 die Übersetzung des Manifests des Führers der Aufstandsbewegung auf St. Domingo (= Haiti), Toussaint l’Ouverture, veröffentlichte.

Kerner erklärt die Sorge für den Gemeinnutz als Grundprinzip seiner sämtlichen Aktivitäten in der Revolution und sein einziges Bestreben. Einmal steigert er eine Deklaration zu einem Panegyrikus auf den »Gemeingeist«, wenn er schreibt: »Der wahre Gemeingeist ist die Gesamtheit der Handlungen zum Nutzen des Gemeinwohls, auch auf Kosten des Privatinteresses.« Freiheit und künftige Ordnung sind, wie Kerner meint, in einer Verfassung zu verankern, die wiederum Gemeinnutz garantiere, auf Kosten des Eigennutzes. Das gilt für die erste Revolutionsverfassung: »Die Revolution von 1789 stürzte in Frankreich die willkürliche Gewalt, und die damaligen Gesetzgeber stellten eine bürgerliche Verfassung auf – eine Verfassung, deren Zweck das Wohl aller und nicht das glänzende Elend eines einzigen auf Kosten des Glücks einer ganzen Nation war.«

Unter dem Titel »Jakobiner und Armenarzt« hat Hedwig Voegt 1978 Reisebriefe und Lebenszeugnisse von Georg Kerner herausgegeben, denen die im Text zitierten Passagen entnommen sind.