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Titel2020

Der Publizist als Kassandra  (Werner Boldt)

Einen Geburtstagsgruß an Stefan Großmann, den Herausgeber der Wochenschrift Tage-Buch, schloss Ossietzky: »Das Bewußtsein, rechtzeitig gesehen und gesprochen zu haben, es ist der schönste Triumph des aktiven Publizisten.« Das Lob ist zugleich Trost. Denn Ossietzky, der auf Befürchtungen und Warnungen verwies, die während der Regierung Cuno im Tage-Buch geäußert wurden, weil die Regierenden mit ihrem passiven Widerstand gegen die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebietes die Währung in die Hyperinflation trieben, fügte die ernüchternde Feststellung an: »Die kleinen grünen Hefte blieben lange isoliert. Warum sollte sich auch die sogenannte große Presse für … pah eine Zeitschrift interessieren?« [1] Heute stehen Historiker und eine an Zeitgeschichte interessierte Öffentlichkeit vor der Frage, warum sie sich für Ossietzky, für die grünen Hefte des Tage-Buchs und die roten der Weltbühne interessieren sollten. Genau besehen: Sie stellen sich gar nicht die Frage.

 

In bundesrepublikanischen Gesamtdarstellungen der Weimarer Republik wird Ossietzky mit Blick auf den Friedensnobelpreis allenfalls am Rande erwähnt. Auf die gesellschaftskritische Sicht, die Ossietzkys politischen Urteilen zugrunde liegt, geht keiner ein. Zwar hat sich die in den 1960er Jahren aufkommende Sozialgeschichte als Strukturgeschichte von einer personalisierenden Geschichtsschreibung nach dem Motto »Männer machen die Geschichte« verabschiedet und politisches Handeln mit den in einer pluralistisch gedachten Gesellschaft virulenten Gruppeninteressen verknüpft, aber klare Strukturen ergaben sich dabei nicht.

 

Der Historiker Wolfram Pyta, so liest man, forderte von seinen Kollegen, »der Komplexität ihres Gegenstandes durch die Kunst feiner Differenzierung gerecht zu werden«. [2] Dem ist nicht zu widersprechen, aber über Differenzierungen darf nicht der Zusammenhang aus den Augen geraten. Vielfalt darf nicht nur beschrieben, sie muss begriffen werden. Die Aufgabe, zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, stellt sich auch dem Historiker. Mephisto gibt dem Schüler, mit dem er sich einen Spaß machen will, den ironischen Rat: »Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben, sucht erst den Geist herauszutreiben, dann hat er die Teile in seiner Hand, fehlt, leider! nur das geistige Band.« [3]

 

Welches Band durchzieht die »pluralistische Demokratie«? Wie verträgt sich die Vorstellung einer pluralistischen Gesellschaft mit der Idee des souveränen Volks? Der mittelständische Unternehmer wählt Friedrich Merz. Eine Dienstleisterin wohl eher die Linke. Ein Katholik wählt einen Ministerpräsidenten, der Kreuze in öffentlichen Gebäuden aufhängen lässt, eine Muslima eine Person, die dafür eintritt, dass sie in öffentlichen Gebäuden ihr Kopftuch tragen darf. Ein Agnostiker wählt beide nicht. Die Sorge um die Demokratie steht bei keiner Entscheidung im Vordergrund, und auch die Gewählten sind vornehmlich bemüht, unterschiedliche Interessen auf einen Nenner zu bringen oder im Sinne der stärkeren Lobby zu entscheiden.

 

In einer Publikation von Abhandlungen über »Weimarer Verhältnisse«, die auf der Basis einer »historisch sachkundigen Bestandsaufnahme« deutlich machen wollen, welche in der Geschichte Weimars abzulesenden Gefahren heute virulent sind oder in die Besenkammer der Geschichte verbannt werden können, werden einzelne Parzellen der pluralistischen Gesellschaft untersucht, die als »Schlüsselthemen der historischen Forschung« ausgegeben werden. [4] Selbst bei allem Respekt vor der letztlich beliebig getroffenen Auswahl: Man vermisst den Schlüssel, der den Gesamtzusammenhang des pluralistischen Gefüges erschließt. Sachkunde bleibt in Details stecken. Das hat seinen Grund. Wer den Schlüssel sucht, gerät in den Verdacht, Ideologe zu sein. Das trifft besonders den, der meint, den Schlüssel in einem Antagonismus zu finden, also in einem Gegensatz, der sich nicht in dauerhaften Kompromissen ausgleichen lässt, sondern strukturelle Veränderungen erfordert, um sie aufzuheben. Wer als Anwalt »pluralistischer Demokratie« die Augen vor Antagonismen verschließt, beruft sich auf Erfahrung und Vernunft, dank der er die Komplexität der Welt nicht auf ein Freund-Feind-Denken reduziert. Doch selber operiert er gleich mit zwei Feinden: mit einem zur Linken und einem zur Rechten. Es stört ihn nicht, dass sie ganz unterschiedlicher Art sind.

 

»Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles. Esurientes implevit bonis et divites dimisit inanes«, preist Maria in ihrem Lobgesang Gott. [5] »Er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen. Die Hungernden füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen.« Seit den Propheten Israels durchzieht diese Melodie die Menschheit, und seit der Aufklärung leitet sie demokratisches Denken und Handeln. Von ihr verlockt, wollen Linke das Übel an der Wurzel fassen, indem sie die Besitzverhältnisse so ändern, dass sie nicht mehr Quelle von Herrschaft sind. Wer von ihnen allerdings meinte, aus Liebe zur Menschheit Menschen verfolgen und unterdrücken zu müssen, geriet auf grausige Abwege. Rechte steigern, um bestehende Besitzverhältnisse zu schützen, politische Herrschaft ins Extrem. Gewalt entspricht ihrem Menschenbild und ihrer Mentalität. Man muss zwischen Linksradikalismus und Rechtsextremismus unterscheiden, beides sprachlich sauber auseinanderhalten, statt es in einen Topf zu werfen.

 

Zu Ossietzkys Zeiten war die Ansicht ganz selbstverständlich, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit die pluralistische Vielfalt der Gesellschaft dominiert. Nur gingen die Meinungen, wie man den Klassengegensatz aufheben könnte, auseinander. Dem Gaukelbild einer nationalen Identität folgend, propagierten extreme Rechte eine »Volksgemeinschaft«, aus der sie gesellschaftskritisch Denkende, die sich für die Emanzipation der unterdrückten Klassen einsetzten, mit Terror ausschließen wollten und auch ausschlossen. Den Gegenpol des Meinungsspektrums bildeten radikale Linke mit ihrer wenig realistischen Vorstellung, die Klassenherrschaft durch eine veritable Diktatur des Proletariats stürzen zu können.

 

Ossietzky wollte keine Diktatur, weder als vorübergehende Maßnahme noch als Dauerzustand. Das gesellschaftliche Sein, das nach Marx das Bewusstsein bestimmt, bestand für ihn nicht nur in materiellen Produktivkräften und Besitzverhältnissen. Er sah es vor allem in der »Denkart« der Menschen begründet, worunter er auch ihre Mentalität verstand. Eine »Denkart« kann beeinflusst, aber nicht verordnet werden. Die Aufgabe der Kriegsgerichte, schreibt er im Kaiserreich in einer Urteilsschelte, bestehe darin, »den ›Untertanen‹ an das Prinzip der Autorität, der unbedingten Disziplin zu erinnern. […] Das bürgerliche Leben bringt eine höchst gefährliche Gleichmacherei mit sich. Also muß daran erinnert werden, daß es noch Klassen gibt.« [6] Als ein wesentliches Kriterium von Klassengesellschaft machte er in diesem Falle die Untertanenmentalität aus. Der noch jungen Republik warf er vor, sich nicht zu einem neuen Geist bekannt zu haben, keinen Strich unters Vergangene gemacht, sondern »einen dicken, weithin sichtbaren Bindestrich« gezogen zu haben. Auch hierbei dachte er nicht an das von ihm durchaus beklagte Fortwuchern kapitalistischer Besitzverhältnisse, sondern an den »Militarismus«, an die »militärische Ideologie«, die das Kaiserreich gezüchtet habe und an der es zugrunde gegangen sei. Ein »Abrücken von dem Bannkreis jener Gedanken« hätte nach Ossietzky die erste Tat der Republik sein müssen. [7] Doch sie unterließ es, und am Ende fehlte ihr der Schneid, gegen SA-Führer anzutreten, die als Freikorpsoffiziere in der Revolution begonnen hatten, eine »Blutlinie« durch die Republik zu ziehen. [8]

 

Die Entwicklung der Republik verlief ganz anders, als es Ossietzky erwartete. Er war der Auffassung, dass »Bürger« und »Arbeiter« – er schrieb nicht »Bourgeois« und »Proletarier« – den zwischen ihnen bestehenden Klassengegensatz friedlich überwinden können, wenn sie als Demokraten die Möglichkeiten nutzen, die ihnen die Verfassung bietet. Er musste jedoch erleben, dass Ansätze zu einer weiterführenden Demokratisierung bald zum Erliegen kamen. Die kapitalistischen Besitzverhältnisse stabilisierten sich innerhalb der demokratischen Republik, wobei die vom Kaiserreich überkommene antidemokratische »Denkart« wiederauflebte. Sehr früh erkannte Ossietzky die Gefahr, die dem Verfassungsstaat von der extremen Rechten drohte, und wie fatal sich für die Republik die Ausgrenzung und Bekämpfung der radikalen Linken auswirkte.

 

Dem folgt das Gros der Historiker heute nicht. Im Banne der im Kalten Krieg geborenen Gleichsetzung von NSDAP und KPD als »totalitäre« Parteien setzte sich die Auffassung durch, dass die Weimarer Republik dem Angriff der Extreme von rechts und links erlegen sei. Das ist mit der gesellschaftskritischen Sicht Ossietzkys nicht vereinbar, und also wird er ignoriert. Ein Beispiel: Wolfram Pyta, ein renommierter Hindenburg-Forscher, schreibt zur Reichspräsidentschaftswahl 1932, dass »nur wenige Zeitgenossen ahnten«, dass die anfängliche Weigerung des wiedergewählten Hindenburg, Hitler zum Reichskanzler zu berufen, »nur eine vorläufige sein würde«. [9] Er hätte mit Ossietzky eine rühmliche Ausnahme nennen können. In der Hindenburg-Biographie eines Historikerkollegen, der Ossietzky ausgiebig zitiert, hätte er ausreichendes Material gefunden. Doch Wolfgang Ruge forschte in der DDR und galt mithin nicht als diskussionswürdig. [10] Es ist dies wohl weniger ein Zeichen von Arroganz als von Unvermögen. Bei allen Angriffsflächen, die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung fachlicher Kritik bietet, nötigt sie doch zu gesellschaftskritischem Denken, dem sich ein Mainstreamhistoriker nicht aussetzen möchte. So fallen bei der Bemerkung über Hindenburg auch die gewiss nicht wenigen Kommunisten unter den Tisch, die vor der Wiederwahl Hindenburgs mit dem Slogan warnten: »Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler; wer Hitler wählt, wählt den Krieg.«

 

»Denkart«, Bewusstsein und Mentalität, sind heute demokratieverträglicher als zu Ossietzkys Zeiten, und Klassenkämpfe werden nicht mehr offen auf politischer Bühne ausgetragen. Doch das prekäre Verhältnis von kapitalistisch geprägter Gesellschaft und demokratischem Verfassungsstaat besteht weiterhin. Es wird nicht einer demokratischen Kritik unterzogen, und das landläufige Verständnis von Demokratie, bei dem wohl die Verfassung, aber nicht die gesamten Lebensverhältnisse in den Blick geraten, wird nicht in Frage gestellt. Ossietzkys Auffassungen vom Scheitern der ersten deutschen Demokratie sind aus dem kollektiven Gedächtnis gelöscht, was einer politischen Bildung nicht gerade zuträglich ist, die gegen rechtspopulistische Tendenzen wappnen soll. Immerhin regt sich wieder das Unbehagen, das die Frage bereitet, wieviel Weimar in unserer Republik steckt. Es zeigt sich sogar ein Interesse an Ossietzky – allerdings nicht in der Geschichtsschreibung. Sie folgt der Opinio communis, die mit gutem Grund als herrschende und nicht sprachlich richtig als allgemeine ins Deutsche übersetzt wird.

 

Zu den einzelnen Beiträgen: Die Abhandlung über Ossietzkys Haltung zur parlamentarischen Demokratie wurde als Vortrag an der Universitätsbibliothek der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg gehalten. Die Parteien der damaligen politischen Mitte, die mit der Reaktion die Institutionen des Verfassungsstaats aushöhlten, von Ossietzky geringschätzig »Juste milieu« genannt, sind Gegenstand einer anschließenden näheren und gegenwartsnahen Betrachtung. Weniger aufschlussreich für den Untergang der Republik, aber nicht minder aktuell sind Ossietzkys Auslassungen über Juden in Palästina und Antisemitismus in Deutschland. Sie führen in die gegenwärtig aufflammende Diskussion über Abgrenzungen und Übergänge zwischen politischer Kritik an der israelischen Regierung und Antisemitismus, einer rassistischen, nicht politischen, wenn auch politisch höchst wirksamen »Denkart«. Verwiesen sei zudem ergänzend auf meinen bei der Ossietzky-Matinee am 3. Oktober 2019 gehaltenen Vortrag »Pazifisten und Abrüstung: Foerster und Ossietzky«, in dem ich anhand der Abrüstungskonferenzen des Völkerbundes die grundsätzliche Kritik Ossietzkys und anderer Pazifisten an dem Verhalten der Großmächte aufzeige, die den Völkerbund als Tribüne zur Austragung eigener Interessen benutzten (abgedruckt in Ossietzky 20/2019).

 

[1] Carl von Ossietzky: »Sämtliche Schriften«, Rowohlt 1994, Art. 506, Z. 129- 133; [2] Wolfram Pyta in seinem Gutachten zum Verhalten des Kronprinzen gegenüber den Nazis, S. 43. Der zitierte Historiker ist Thomas Nipperdey. [3] Faust I, 382 f. und 1936-1939; [4) »Weimarer Verhältnisse?«, herausgegeben von Andreas Wirsching, Berthold Kohler, Ulrich Wilhelm, Stuttgart 2018, S. 9 ff. [5] Lukas-Evangelium Kapitel 1, Vers 52 f.; [6] Art. 10, Z. 43-47; [7] Art. 129, Z. 17-47; [8] Art. 955, Z. 45-49; [9] Wolfram Pyta, S. 18; [10] Wolfgang Ruge: »Hindenburg. Porträt eines Militaristen«, Köln 1981