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Gaza 2011 – ein Leben im Käfig  (Norman Paech)

Gaza ist auch gut vier Jahre nach seiner totalen Blockade und knapp drei Jahre nach der Bombardierung durch die israelische Armee ein Gefängnis im Kriegszustand, das täglich unter militärischer Bedrohung steht. Wir hatten bei unserem Besuch Anfang Oktober eine ruhige Woche, erst am Tag unserer Abreise kam es wieder zu Angriffen auf Fischerboote. In der Woche davor jedoch hatten israelische Luftangriffe zwei Häuser in Beit Hanoun beschädigt und drei Menschen verletzt. Ein 17jähriger Junge wurde in der 1500-Meter-Zone, die die Israelis zur No-Go-Area vor dem Grenzzaun erklärt hatten, beim Sammeln von Metallresten angeschossen, und in der Drei-Meilen-Küstenzone, die den Fischern von der 20-Meilen-Zone übrig gelassen wird, eröffnete die Marine mehrmals das Feuer auf die Fischerboote, ohne allerdings jemand zu verletzen. Dies ist der Alltag einer Bevölkerung, die in einem Käfig um ihr Überleben kämpft. Daß dabei immer wieder selbstgebaute Raketen nach Israel fliegen, war auch in dieser Woche wieder so – jedoch meist ohne Schäden anzurichten. Die Bilanz im Gazastreifen ist anders: 85 Tote und 425 Verletzte bereits in diesem Jahr, mehr als im ganzen vergangenen Jahr. Während die Welt vom Soldaten Gilad Shalit, dem Kriegsgefangenen in Gaza, spricht, erinnert uns die Demonstration auf dem Gelände des Roten Kreuz in Gaza-Stadt an den Hungerstreik der palästinensischen Gefangenen in israelischen Gefängnissen: circa 6000 insgesamt, davon 285 Minderjährige, 38 Frauen, 21 Parlamentsabgeordnete aus Gaza, zwei Exminister. 45 Menschen sitzen bereits mehr als 20 Jahre in Haft, vier mehr als 34 Jahre und 270 in Administrativhaft. Wer in der Welt spricht von ihnen? Shalit, erst jetzt gegen 1027 Palästinenserinnen und Palästinenser ausgetauscht, hätte schon vor Jahren frei kommen können, wenn die israelische Regierung ein Entgegenkommen bei der Freilassung dieser palästinensischen Häftlinge gezeigt hätte.

Nur noch selten trifft man auf die Ruinen des Krieges, die Stadtverwaltungen haben große Anstrengungen unternommen, sie zu beseitigen. Doch eine andere Folge von Krieg und Blockade ist unübersehbar: In den Straßen liegt der Müll, Gaza-Stadt, Khan Younis und Rafah sind schmutzig. Es gibt keine Mülltonnen, keine funktionierende Müllentsorgung. Denn es fehlt an Geld. Selbst wenn es vorhanden wäre, würde Israel die notwendigen Materialien und Ausrüstungen nicht hereinlassen. Waren es knapp 3000 Lastwagenladungen, die vor 2007 Gaza wöchentlich erreichten, so sind es jetzt nur noch etwa 745, die über den Kerem-Shalom-Übergang nach Gaza gelangen. Fast die Hälfte davon sind Nahrungsmittel – ein Bruchteil von dem, was notwendig wäre. Exportieren können die Bauern nichts mehr. Während vor der Blockade noch durchschnittlich 240 Lastwagenladungen mit Obst, Gemüse und Blumen nach Israel ausgeführt werden konnten, ist dieser Weg jetzt abgeschnitten.

Woher soll also das Geld kommen? Von den Dollars und Euros der Diplomaten, UNO- und EU-Beamten, Experten und Journalisten, die in den wenigen Hotels absteigen, wo sie alles bekommen außer Whisky und Rotwein? Von den alten reichen Familien, die immer noch über großen Landbesitz verfügen? Die Industrie ist zusammengebrochen, das Handwerk hat keinen goldenen Boden mehr, die Arbeitslosigkeit wird offiziell mit 43 Prozent angegeben. Gaza war einst ein namhafter Exporteur von Oliven hoher Qualität. 25.000 Arbeiterinnen und Arbeiter waren in der Ernte beschäftigt, die zwei Monate dauerte. Heute sind es nur noch einige Hundert, und die Ernte dauert nur noch knapp eine Woche. Seit 2000 hat die israelische Armee 114.000 Olivenbäume zerstört. Der Rest wurde im Krieg 2008/2009 durch den Einsatz von weißem Phosphor stark beschädigt, und auch heute noch überquert die Armee regelmäßig die Grenze und entwurzelt die Bäume. In der 1,5 Kilometer breiten No-Go-Zone entlang der östlichen Grenze, wo ein Drittel des am besten bewässerten Landes liegt, ist ohnehin keine Landwirtschaft mehr möglich.

Das einzige blühende Gewerbe ist der Handel durch die Tunnel an der Grenze zu Ägypten. Ein gefährlicher Weg, der regelmäßig von der israelischen Luftwaffe mit Raketen beschossen wird und auf dem schon viele Arbeiter umgekommen sind. Von gefrorenem Fisch über Coca Cola, Antibiotika bis zu Motorrädern und Autos kommt alles durch diese Tunnel. Seit Israel im Winter 2008 die Benzin- und Diesellieferung eingestellt hat, wird Treibstoff durch die Tunnel gepumpt – zu einem Drittel des israelischen Preises. Die anderen Waren sind teuer und ein Quell erheblichen Reichtums der Händler, den sie in ihren neuen Villen zeigen. Auch alle Baumaterialien kommen durch die Tunnel. Israel läßt die Materialien nicht durch mit der Begründung, sie könnten auch zu militärischen Zwecken verwendet werden. Erst in jüngster Zeit hat Israel seinen Widerstand aufgegeben, die notwendigen Materialien für eine Kläranlage, an der die Bundesrepublik maßgeblich beteiligt ist, über die Grenze zu lassen. Sie hatte dieses Projekt als Antwort auf die Machtübernahme der Hamas im Juni 2007 gestoppt und erst in diesem Jahr wieder aufgenommen. 90 Prozent der Abwässer in der Zentralregion Gaza-Stadt fließen nach wie vor ungeklärt direkt ins Meer und haben inzwischen schon Israel bei Ashdod erreicht. Die Gaza-Strände sind leer, nur am frühen Freitagmorgen sehen wir vereinzelt Jugendliche in den Wellen.

Auch die Krankenhäuser müssen vorwiegend ihre Medikamente und Instrumente durch die Tunnel besorgen. Der jetzt geöffnete Übergang Rafah nach Ägypten ist dem Personenverkehr vorbehalten, und Transporte über Israel lagern oft monatelang in Ashdod. Es sind keine gewöhnlichen Probleme, mit denen sich die Krankenhäuser herumzuschlagen haben: Totaler Geldmangel, der für die privaten Krankenhäuser mit internationalen Spenderorganisationen noch am leichtesten zu kompensieren ist. Regelmäßiger Ausfall der Elektrizität, die täglich nur zu etwa 50 Prozent zur Verfügung steht. Die einsetzbaren Dieselgeneratoren sind alt und reparaturanfällig, und der benötigte Diesel ist nicht in ausreichendem Maße durch die Tunnel zu erhalten. Nicht selten müssen Operationen und Dialysebehandlungen unterbrochen, künstliche Beatmungsgeräte per Hand aktiviert werden. Auf viele Funktionen eines Krankenhauses muß ganz verzichtet werden. Allein das Shifa-Hospital in Gaza-Stadt, mit 700 Betten das größte in Palästina, benötigt monatlich 200.000 Liter Diesel. Vor kurzem mußten die Chirurgen eine Herzoperation wegen eines Elektrizitätsausfalls unterbrechen, erst nach 17 Minuten sprang der Generator an. In allen Bereichen mangelt es an Ersatzteilen, und von 470 Basismedikamenten fehlen 119 in den Krankenhäusern. Von den etwa 700 Einweginstrumenten fehlen mehr als 110, mit der Wiederverwendung steigt das Risiko lebensgefährlicher Ansteckungen. Daß etwa 22 Prozent der gespendeten Medikamente bereits ihre Haltbarkeitsgrenze erreicht haben, gefährdet zwar nicht die Gesundheit, bedeutet aber nur begrenzte Hilfe. Die Schließung der Übergänge behindert die Überweisung von Patienten, die in Gaza nicht behandelt werden können, erheblich. Der Erez-Übergang nach Israel wird Palästinenserinnen und Palästinensern faktisch nur für dringende medizinische Behandlungen geöffnet, mit oft langen Wartezeiten und nicht selten zu spät, um die Patienten noch retten zu können.

Die Bewohner des Gazastreifens sind des Krieges und der Besatzung müde. Der Hamas-Regierung ist es zwar gelungen, die tägliche Gewalt einzudämmen auf den Straßen wieder Sicherheit zu gewährleisten. Sie hat ihre soziale Arbeit, auf der ihr Wahlerfolg im Februar 2006 vorwiegend beruhte, fortgeführt, sie hat die Korruption der Fatah weitgehend beseitigt, aber auch nur um den Preis neuer Korruption. Ausschlaggebend für die nächsten Wahlen könnte sein, daß Hamas die Besatzung und die ständigen israelischen Militärschläge nicht beenden konnte. Selbst in Kreisen der Hamas wird eingeräumt, daß sie aus diesem Grund eventuell lediglich 30 bis 35 Prozent der Stimmen bekommen und hinter der Fatah zurückbleiben wird. Dies wäre die normale Konsequenz in einem demokratischen Prozeß – aber doch eine fatale nachträgliche Bestätigung der barbarischen Blockade- und Besatzungspolitik.

Dennoch verlassen wir Gaza nicht mit der gleichen Trauer und Skepsis wie noch 2009 nach dem Krieg. Es gibt einen Überlebenswillen, der durch zahlreiche Initiativen und Projekte überall Mangel und Einsperrung überwindet. Niemand macht sich Illusionen über die Politik Netanyahus, die selbst einen neuen Krieg nicht ausschließt, auch nicht über die Politik der USA und der EU. Schlimmer als im Krieg 2008/2009 kann es kaum kommen, den man trotz enormer Verluste überstanden hat. Und so holt man sich jetzt den Beton, den man über die israelische Grenze nicht bekommt, aus der Bar-Lew-Linie, jenem Verteidigungswall, den Israel nach dem Sechstagekrieg 1967 auf der Sinai-Halbinsel errichtet hatte, um damit eine Abwässerkläranlage im Süden des Gaza-Streifens mit eigenen Kräften zu bauen. Die Jugend forscht an Themen, die von der Pilzaufzucht bis zu Kleinrobotern zur Beseitigung von Sprengstoff reichen, und an der Küste sind feingesponnene Netze gespannt, um die tieffliegenden Wachteln, die jetzt aus dem Westen über das Mittelmeer kommen, zu fangen – für viele eine Delikatesse, die keine Grenze kennt.