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Titel222013

Ein deutschnationaler Bestseller  (Arno Klönne)

Wieder einmal ist ein rundes Jubiläum auszurichten in der Welt der Medien: 2014 liegt nicht mehr fern, einhundert Jahre seit dem sogenannten Ausbruch der Urkatastrophe europäischer Historie sind zu vermarkten, der Erste Weltkrieg ist museal zu verwerten. Und weil der Vorwurf, das Deutsche Reich sei an diesem massenmörderischen Ereignis nicht gerade unschuldig gewesen, immer noch schwer auf so manchem deutschen Gemüt lastet, kommt auch der geschichtspolitische Diskurs in Bewegung. Ein nach Aussage des Verlages »bahnbrechendes« Werk ist erschienen: »Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog«, verfaßt von dem in Cambridge lehrenden australischen Historiker Christopher Clark, der bereits als Ehrenretter des Preußischen Staates viel Beifall fand. Erschienen ist das Buch bei der Deutschen Verlags-Anstalt in Stuttgart, einer Bertelsmanntochter; auch Thilo Sarrazins Klage über den drohenden Untergang Deutschlands kam hier heraus. Kein Wunder also, daß Clarks »Schlafwandler« ebenso rasch Bestsellerrang erreicht und in den meisten als seriös geltenden Zeitungen heftige Zustimmung gefunden hat, was nicht bedeuten muß, die Promoter hätten sich in die fast neunhundert Seiten dieser im Detail sehr versierten Studie vertieft. Deren herausragender Aufmerksamkeitserfolg ist nicht begründet durch das, was sie kenntnisreich behandelt, sondern durch das, was sie systematisch ausläßt. Clark will sich nicht damit auseinandersetzen, »warum« in Europa 1914 die erste moderne Kriegsmaschinerie zur Wirkung kam, sondern darstellen, »wie« es zu ihrer Auslösung kam. Und so konzentriert sich sein Blick auf die »Schwarze Hand«, den serbischen terroristischen Untergrund. Sodann auf die diffusen Aktionen und Reaktionen der Staatsmänner und Diplomaten im Konfliktfeld der damaligen Großmächte Europas, nahezu bewußtlos seien sie von der Krise in den Krieg getaumelt. »Das Krisenmanagement war überfordert«, resümiert, zufriedengestellt von dieser Deutung, Thomas Schmid in der Welt. Auf kriegerische Außenpolitik hin drängende innergesellschaftliche, auch ökonomische Interessen, imperialistische Motive? Clark erwähnt sie kurz, aber sie interessieren ihn nicht. Expansive Absichten des Deutschen Reiches? Clark behandelt sie nicht, er meint, durch das russisch-französische Bündnis sei das Deutsche Reich in die Enge getrieben worden. Und die deutsche Regierung habe eher aus Versehen die habsburgische dazu ermuntert, den Serben eine Strafe aufzuerlegen. Andreas Kilb schreibt in der Frankfurter Allgemeinen: »Bei Clark kann man nachlesen, daß das deutsche Kaiserreich genauso schuldig oder unschuldig am Ausbruch des Krieges war wie Rußland, Frankreich, Österreich-Ungarn und England.« Schlafwandelnd seien Europas Staatenlenker allesamt 1914 in eine »Tragödie« hineingeraten, das ist die für das deutsche Nationalgefühl frohe Botschaft, die hierzulande die maßgeblichen Rezipienten aus Clarks Buch herausholen. Nun ist die Wunde geheilt, die der Historiker Fritz Fischer der vaterländischen Geschichtsschreibung einst zugefügte, indem er die Politik, die in den Ersten Weltkrieg geführt hatte, als einen deutschen »Griff nach der Weltmacht« beschrieb.

Christopher Clark: »Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog«, aus dem Englischen übersetzt von Norbert Juraschitz, DVA, 896 Seiten, 39,99 €