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Propaganda mit Zahlen  (Joachim Guilliard)

»Lüge und Statistik liegen oft eng beieinander. Das gilt besonders auch im Umgang mit Flüchtlingen und deren Motiven«, schreibt Götz Aly in der Berliner Zeitung vom 12. Oktober über eine Umfrage der Organisation Adopt a Revolution (AaR) unter syrischen Flüchtlingen.


Obwohl sie in keiner Weise repräsentativ ist und von Unterstützern einer Konfliktpartei präsentiert wurde, die ‒ was leicht ersichtlich ist ‒ ihre Zahlen einseitig in ihrem Interesse interpretiert, wurde deren zentrale Botschaft von den meisten Medien eifrig weiterverbreitet: »Die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge flieht vor dem Assad-Regime und nicht vor dem Islamischen Staat.«


»Neue Studie über Fluchtmotive: Die Angst der Syrer vor dem Assad-Regime« titelte beispielsweise die »Tagesschau« am 7. Oktober und führte dann aus: »Der Terror durch das Assad-Regime und die Bombardierung der eigenen Bevölkerung sind die wesentlichen Gründe für die Flucht aus Syrien. Eine Umfrage unter syrischen Flüchtlingen in Deutschland, die in Berlin vorgestellt wurde, belegt das.« Nahezu gleichlautend waren auch die Schlagzeilen von Spiegel, Stern, Zeit und zahlreichen anderen Blättern.

Nicht repräsentativ
AaR hat für die Studie rund 900 syrische Flüchtlinge vor deutschen Massenunterkünften zu Fluchtgründen, Voraussetzungen für eine mögliche Rückkehr und zu ihrer Haltung zu »Flugverbotszonen« befragt. Die Aktivisten räumen zwar am Ende ihres Hintergrundpapiers (https://www.adoptrevolution.org/hintergrund-befragung) ein, dass die Umfrage nicht repräsentativ sei, präsentierten ihre Zahlen dennoch so, als könnten sie ein zuverlässiges Bild der Stimmung unter den Millionen syrischen Flüchtlingen vermitteln. Die Medien erwähnten die Einschränkung, wenn überhaupt, nur nebenbei, als wäre sie ein unwesentliches Detail. Doch ohne nachvollziehbare Angaben, inwieweit die Antworten der wenigen Befragten repräsentativ für die gesamte Zielgruppe sind, bleibt die Statistik praktisch wertlos. Tatsächlich kann man aus dem Umfrageergebnis nur schließen, dass von syrischen Flüchtlingen, die man vor deutschen Flüchtlingsunterkünften antrifft und die bereit sind, Fragen zu beantworten (das waren zu 90 Prozent Männer), so und so viel Prozent dies oder das angekreuzt haben. Da sich wahrscheinlich wesentlich häufiger pro-westliche Oppositionelle für Europa und Deutschland als Fluchtziel entscheiden als regierungsloyale Syrer, würden die Antworten vor Flüchtlingslagern im Libanon oder in den von der Regierung kontrollierten syrischen Landesteilen, wo sich knapp die Hälfte aller syrischen Flüchtlinge aufhält, sicherlich anders ausfallen.


Unabhängig davon sind Umfragen unter Flüchtlingen zu Fragen, die ihren Status tangieren, grundsätzlich mit Vorsicht zu genießen, da viele aufgrund ihrer prekären Situation vermutlich die Antworten geben, die in den potentiellen Aufnahmeländern gern gehört werden und die ihnen bei der Anerkennung nicht schaden.

Zahlen grob einseitig interpretiert
Kann man über die Aussagekraft nichtrepräsentativer Befragungen noch diskutieren, so fällt die dreiste Art der Interpretation der Ergebnisse und ihre Präsentation eindeutig in die Kategorie Propaganda.


Geht man davon aus, dass AaR die Umfrageergebnisse unverfälscht wiedergibt, so haben knapp 70 Prozent der Interviewten angegeben, sie seien vor der »unmittelbaren Gefahr für ihr Leben« geflohen. Bei der Frage, wer »für die bewaffneten Kämpfe verantwortlich« sei, kreuzten 69,5 Prozent »Assad-Regime und Verbündete«, 31,6 Prozent »IS«, also »Islamischer Staat«, an. Verknüpft man die beiden Fragen, so sind es nur noch 49 Prozent der Befragten, für die das »Assad-Regime« Fluchtgrund war.


Bei der Frage waren allerdings Mehrfachnennungen möglich: 16,3 Prozent nannten so auch die Al-Nusra-Front, 17,8 Prozent die sogenannte Freie Syrische Armee (FSA) und 8,2 Prozent die Kategorie »andere Rebellentruppen«. Auch wenn man aufgrund der Mehrfachnennungen die Prozentzahlen für die regierungsfeindlichen Milizen nicht einfach addieren kann, relativiert dies die Behauptung, die Mehrheit der Flüchtlinge sei allein vor dem »Assad-Regime« geflohen.


Die Einschätzung von Götz Aly im oben zitierten Kommentar, dass vermutlich die meisten jeweils die Miliz nannten, die in der Gegend, aus der sie flohen, dominierte, und einige von ihnen gleichzeitig auch »Assad-Regime und Verbündete« ankreuzten, ist plausibel. Unter der vereinfachenden Annahme, dass jeder höchstens zwei Bürgerkriegsparteien als Schuldige bezeichnete, kann man abschätzen, dass höchstens 20 Prozent nur die Assad-Regierung angaben, rund 60 Prozent aber die Regierung und eine Miliz.


Mit den erfassten Daten ließen sich auch solche Angaben mühelos exakt berechnen. In einer seriösen Studie wäre eine solche Auswertung, wie auch die Verknüpfung der Antworten mit der Herkunftsregion, Standard. Doch offenbar haben weder die »Tagesschau« noch die großen Zeitungen danach gefragt.

Adopt a Revolution – Sprachrohr pro-westlicher Assad-Gegner
Dabei wäre gegenüber einer Initiative wie Adopt a Revolution grundsätzlich Misstrauen angebracht. Sie macht keinen Hehl daraus, auf welcher Seite sie steht. Sie wirbt offen für einen Regime Change in Syrien und trommelt unter anderem auch für ein militärisches Eingreifen des Westens via Flugverbotszonen. Unter den Organisatoren sind führende Mitglieder der syrischen Exil-Opposition, die schon 2012 mehr Waffen für die »Rebellen« forderten. Letztlich ist AaR – wie auch ihre Veröffentlichungen zeigen – ein deutsches Sprachrohr pro-westlicher Assad-Gegner.

Seriöse Umfrage unterschlagen
Mitte September veröffentlichte das renommierte Meinungsforschungsinstitut ORB International die Ergebnisse seiner im Auftrag der BBC in allen vierzehn Gouvernements Syriens durchgeführten repräsentativen Umfrage (Syria Public Opinion, Juli 2015; www.opinion.co.uk/perch/resources/syriadata.pdf). Sie geben ein deutlich anderes Bild als das von den Medien üblicherweise gezeichnete oder das der AaR-Umfrage. Sie wurden daher konsequenterweise von keinem Fernsehsender und keiner größeren Zeitung in Deutschland erwähnt.


Auf die Frage, ob bestimmte Personen und Gruppen einen positiven oder negativen Einfluss auf die Entwicklung in Syrien haben, gaben beim syrischen Präsidenten Baschar al-Assad 49 Prozent an, er habe einen negativen Einfluss, 47 Prozent einen positiven. Er erhielt damit aber die beste Wertung. Nur 27 Prozent werten den Einfluss der syrischen Oppositionskoalition positiv, 36 Prozent die der FSA, 35 Prozent die von Al Nusra und 21 Prozent die des IS. Zudem sehen 43 Prozent den Einfluss Irans positiv und 37 Prozent den der Golfmonarchen – letzteres entspricht in etwa der Prozentzahl von FSA und Al Nusra.


Auch die Antworten auf die übrigen Fragen sind aufschlussreich. So sprechen sich 51 Prozent für eine politische und 37 Prozent für eine militärische Lösung des Konfliktes aus. 65 Prozent halten es für wahrscheinlich, dass die Syrer ihre Differenzen überwinden und wieder zusammenleben können, und 71 Prozent sind besorgt über die Präsenz bewaffneter religiöser Gruppen im Land.


Auf die Frage nach Erklärungen für das Erstarken des IS, bei der ebenfalls Mehrfachnennungen möglich waren, stimmten nur 23 Prozent der These »Zuspitzung konfessioneller Spannungen« voll oder teilweise zu. 44 Prozent sahen eine gewisse Mitverantwortung bei der syrischen Regierung und 59 Prozent bei der weitverbreiteten religiös-sektiererischen Politik der arabischen Staaten. Die überwiegende Mehrheit aber, mehr als 82 Prozent, hält den IS für eine Schöpfung der USA. Die Hälfte der Befragten lehnt, somit wenig überraschend, die Luftangriffe der US-geführten Allianz auf syrisches Territorium ab.